In der Black Box des EU-Mobilitätsregimes: Poröse Grenzen und reale Gewalt auf der Balkan-Route

Der europäische Grenzschutz ist heutzutage eine technologisch hochgerüstete Angelegenheit, bei der nicht Menschen zählen, sondern vor allem Zahlen. Alle Bewegungen an den EU-Außengrenzen sollen per Computer gesteuert werden, insbesondere jene, die entlang der sogenannten Balkan-Route, die im ehemaligen Jugoslawien entstanden ist. So ist das EU-Mobilitätsregime zu einer regelrechten Black Box geworden. Die Kriminologin und Menschenrechtsanwältin Sanja Milivojevic versucht, Licht ins Dunkel zu bringen. Ein Interview von Magdalena Taube und Krystian Woznicki.

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Berliner Gazette: Die von Asylbewerber*innen mitgeschaffene und genutzte Mobilitätsinfrastruktur wird zunehmend zur Black Box. Wie etwa der Fall der sogenannten Balkanroute zeigt: Blackboxing ist ein Prozess, der stattfindet, wenn steigende Zahlen mobiler Körper als Legitimation für die Einführung und Ausbreitung des Grenzmanagements per Computer genutzt werden, der angeblich in der Lage ist, mit “wildwuchernden Zahlen” zurechtzukommen, indem er Qualitäten in Quantitäten verwandelt und das Potenzial mobiler Arbeit in eine berechenbare und damit kontrollierbare Zahl verwandelt. Von versierten Programmier*innen als ein undurchsichtiger Raum konstruiert, der das Wissen um sein Innenleben verdeckt hält, ist die Computerisierung (des Grenzmanagements) die erste Dimension der Black Box, die wir mit Ihnen besprechen wollen.

Sie haben sich in Ihrem Buch “Border Policing and Security Technologies” (2019) mit der “Balkanroute” befasst – einer Topographie, die heutzutage weitgehend außerhalb eines historischen Kontextes gesehen wird, unabhängig von der Auflösung des sozialistischen Jugoslawiens, der von Deutschland geführten NATO-Intervention, der Umgestaltung der Region durch Berlin und Brüssel und den Mechanismen des kapitalistischen Marktes, die dort eingeführt wurden. Könnten Sie zunächst auf die Rationalität eingehen, die hinter dem Einsatz von Sicherheitstechnologien im Kontext des Grenzmanagements steht? Und könnten Sie erklären inwiefern Black-Box-Politik ein integraler Bestandteil davon ist?

Sanja Milivojevic: Das ständige Streben nach Sicherheit in einer so genannten Risikogesellschaft macht eine grenzenlose Welt oder eine Welt, in der Grenzen durchlässiger werden, zu einer eher düsteren Aussicht. Sicherheit scheint das am meisten ersehnte Konzept im Bereich des Migrationsmanagements zu sein. Tatsächlich ist es die Mobilität selbst, die zum zentralen Sicherheitsproblem in der heutigen Welt geworden ist. Die Verbreitung und Vervielfältigung physischer, interner und digitaler Grenzen auf der ganzen Welt schafft eine Verwerfungslinie, die das, was ich als grüne (erwünschte) von grauen und schwarzen (verdächtigen und unerwünschten) Grenzen der transnationalen Mobilität bezeichne, voneinander trennt.

Zeitgenössische Grenzen, die diese Verwerfungslinien konstruieren, sind komplexe politische, philosophische, sozio-rechtliche Konstrukte: Manchmal sind sie sichtbar, wie die Stacheldrahtzäune an Ungarns Grenzen zu Serbien und Kroatien. Oft aber sind sie kaum zu erkennen. Grenzen bewegen sich nach innen und nach außen und erstrecken sich auf die Herkunfts- und Transitländer durch politische Maßnahmen, Personendatenbanken, Drohnenüberwachung, Aufklärungskampagnen und rassistische Profiling-Praktiken sowie eine Reihe anderer Technologien zur Grenzsicherung. Entscheidend ist, dass das ultimative Ziel der Migrationsmaschine eine gut kontrollierte, gesicherte (für schwarze und graue Bereiche) und nahtlose Grenze (für grüne Bereiche der transnationalen Mobilität) ist.

Während im Jahr 2015 Migrant*innen und Asylsuchende, die aus dem Irak, Afghanistan und anderen Konfliktgebieten in zusehends größeren Zaheln flohen, setzte ein vorübergehender Zusammenbruch des EU-Grenzregimes die Transitländer unter einen noch nie dagewesenen Druck. Sie wurden mit der Aufgabe betraut, die Kontrolle über die wachsenden Mobilitätsströme wiederzuerlangen. Nicht-EU-“Verbündete” auf dem Balkan (Serbien, Kosovo und Nordmazedonien) und neue Mitgliedsstaaten (Kroatien) wurden ins Rampenlicht gerückt, was die von ihrer jüngsten Vergangenheit geplagte Region schnell zu unerwarteten und unwahrscheinlichen Hütern des EU-Grenzregimes machte.

Mein Buch kartiert das Zusammenspiel und die Leistung von Grenzen entlang der Migrationsroute des Westbalkans, die die Mobilität regulierten und selbst in Zeiten der Grenzschließung Menschen mit diversen Musterungsverfahren in Richtung Westen kanalisierten. Die Grenzen waren also nie vollständig geschlossen. Die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften fungierte als Triebfeder für den Strom von Migrant*innen durch die Regulierungsmechanismen der Grenzen. Schließlich war und ist es der eigentliche Zweck von Grenzen, “schwarz-gelistete” Menschen zu immobilisieren und “grau-gelistete” in der transnationalen Mobilität zu bewerten. Die Ermittlung der richtigen Anzahl der richtigen Menschen, die Zugang zu den Arbeitsmärkten und/oder Asylsystemen im Westen erhalten, ist ihr Ziel, und die Kombination und Feinabstimmung vieler Grenzen ist die Strategie, um dieses Ziel zu erreichen. Einige dieser Grenzen wurden von den Nationen auf dem Westbalkan selbst errichtet. Häufiger wurden sie unter dem Druck (oder der Anleitung und finanziellen Unterstützung) der EU entwickelt.

Die Grenzen Europas wurden also in die Region des ehemaligen Jugoslawiens externalisiert, und ihre Funktion bestand darin, “Dämme” zu schaffen und die Mobilität zu regulieren, in Zeiten eines erhöhten Mobilitätsdrucks. Wie ein riesiges Sieb schufen die Grenzen in der Region ein Fegefeuer sowohl für Nicht-Bürger*innen (Menschen im Transit) als auch für Bürger*innen der Westbalkan-Staaten. Sie klassifizierten, blockierten und filterten die Grenzgänger*innen. Dieses Fegefeuer hatte viele Orte der Durchsetzung – von den physischen Grenzen zwischen Serbien und Ungarn über Praktiken des Racial Profiling gegen “falsche” Asylbewerber*innen bis hin zu Maßnahmen gegen den Menschenhandel, die sich gegen Frauen richten, die die Region durchqueren.

Feste Grenzen in Form von Zäunen, Pushbacks und Gewalt entlang physischer und interner Grenzen waren auf dem Westbalkan vor, während und nach der “Krise” allgegenwärtig. Da ihr Zweck darin besteht, Barrieren zu schaffen, die gefährliche oder unerwünschte “Andere” (sowohl Staatsbürger*innen als auch Nicht-Staatsbürger*innen) blockieren und abweisen, dienten und dienen sie als Membranen, die die Mobilität vieler immobilisieren oder vorübergehend einschränken, bis ihre Nützlichkeit auf den Arbeitsmärkten oder in den Asylsystemen des Westens gründlich geprüft wird.

Die Androhung der Aussetzung der Visafreiheit durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten führte zur Wiederherstellung fester Grenzen in der Region, und zwar durch Gesetzesreformen, Aufklärungskampagnen und Praktiken des Racial Profiling und Pushbacks entlang der physischen Grenzen von Serbien, Nordmazedonien und dem Kosovo. Flüssige – poröse – Grenzen waren ein weiterer Schlüsselmechanismus im Mobilitätsmanagement. Entworfen und inspiriert vom Globalen Norden, halfen diese Grenzen, das richtige Gleichgewicht von Menschen zu erreichen, die die Region passieren können, um sowohl wirtschaftliches Wachstum als auch die Vorherrschaft der EU zu sichern.

Von der Zulassung “echter” Flüchtlinge auf der Westbalkan-Migrationsroute bis hin zu speziellen Interventionen, die zwar auf einige Bürger*innen abzielen, aber anderen den Grenzübertritt ermöglichen, wurden sie während der “Krise” ständig “verbessert” und neu kalibriert. Die wolkigen Cloud-basierten (technologiegestützten) Grenzen, die in der digitalen Sphäre eingesetzt und verteidigt werden, waren das letzte Rädchen in dieser Migrationsmaschine. Computersysteme, Datenbanken, Server und Hightech-Hardware waren ein fein abgestimmter Mechanismus zur Artikulation von Mobilität, aber auch derjenige, der am schwierigsten zu beobachten und zu analysieren war. Es gelang mir, nur einen winzigen Teil davon zu erfassen, vor allem denjenigen, der auf durchreisende Nicht-Bürger*innen abzielt, da sie, wie ihr sagt, black-boxed, verdeckt und sorgfältig versteckt sind. Dennoch besteht kein Zweifel daran, dass diese Art von Grenzen für das Mobilitätsmanagement während und nach der Migranten-“Krise” entscheidend war.

BG: Die architektonische Eigenschaft der Black Box als undurchsichtiger Raum, der die Kenntnis ihrer inneren Abläufe verhindert, wird noch dadurch verstärkt, dass die Computerisierung des Grenzschutzes als Geschäftschance und Möglichkeit zur Förderung einer “heimischen europäischen Sicherheitsindustrie” propagiert wird. Die Mitgliedsstaaten der EU und die EU selbst fördern demnach die Privatisierung einer staatlichen Domäne (des Schutzes der Staatsgrenzen) und nehmen im Zuge dieser Privatisierung in Kauf, wenn sie es nicht sogar tatkräftig unterstützen, dass in Hinterzimmern, unzugänglich für die Öffentlichkeit, Deals gemacht werden, die demokratisch nicht kontrollierbar sind, weil ihre Vorgänge und Dokumente als “Betriebsgeheimnisse” versiegelt sind. Was wäre ein besonders aufschlussreiches Beispiel dafür auf dem Westbalkan?

SM: Die Grenzregime in der Region haben sich vor, während und nach der “Migrationskrise” erheblich verändert, inspiriert und gesteuert von der Verwaltung in Brüssel, Berlin und anderen Machtzentren in der EU. In diesem Sinne findet Blackboxing statt, wenn es um den Zweck der oben genannten Interventionen geht, ebenso wie um ihre Art und Weise. Geschäftsgeheimnisse beziehen sich also nicht nur auf die Technologie selbst, sondern auch darauf, warum die Technologie überhaupt eingesetzt wurde.

Im Jahr 2015 zeigte sich wie tiefgreifend sich die techno-soziale Maschine Europas auf Grenzübergänge, Flughäfen, Asylzentren und öffentliche Diskurse in der Region auswirken kann. In der Phase des eingeschränkten Engagements setzten die Nationalstaaten auf der Migrationsroute des Westbalkans ihre Migrations- und Asylsysteme effektiv außer Kraft, was sich in der Nichtbeteiligung von Regierungsbehörden und Strafverfolgungsbehörden in den Transitländern zeigte. In der Tat haben die für die Registrierung von Nicht-Staatsbürger*innen zuständigen Behörden in Serbien und Nord-Mazedonien diese (aktiv und passiv) dazu ermutigt, die Region so schnell wie möglich zu verlassen. Eine “Verhöhnung des Systems”, die durch mangelnden Druck seitens der EU, aber auch durch Fremdenfeindlichkeit, Islamophobie und Rassismus der lokalen Bevölkerung ausgelöst wurde, ermöglichte es Tausenden von Migrant*innen, den Westen zu erreichen.

Als der Druck durch die EU und ihre Mitgliedsstaaten wuchs und auf Grund von Medienkampagnen, die sich auf rassifizierte kriminelle “Andere” konzentrierten, wurden in der Region prompt wieder feste und Technologie-basierte Grenzen errichtet. Dies führte zu Nicht-Einreise- und Grenzschließungspolitiken, bei denen ehemalige Feinde (wie Kosovo und Serbien oder Serbien und Kroatien) als Partner im Mobilitätsmanagement in der Region auftraten. Die Herkunftsländer und insbesondere deren Grenzschutzbeamte im Auftrag der Zielländer waren unter Hochdruck damit beschäfigt “Grenzen zu machen”. Die wachsende Zahl von “Scheinasylant*innen” löste wiederum eine Änderung des Grenzregimes in Serbien, Kosovo und Nordmazedonien aus, die das Recht auf Mobilität und das Recht auf Asyl für Tausende von Menschen aus der Region verletzte.

Die Grenzen in der Region waren also alles andere als statisch, sondern ihre Funktionsweise war in vielerlei Hinsicht eine Blackbox. Grenzen expandierten, vervielfältigten und verbreiteten sich infolge des Migrationsdrucks in der Region und der politischen Entwicklungen in der EU. Diese Kontrollen vor der Grenze hatten ein klares Ziel: die wahrgenommene Verwundbarkeit der EU durch die Identifizierung, Bewertung und Kontrolle von Menschen außerhalb ihres Territoriums in Zeiten erhöhten Migrationsdrucks zu kompensieren. Folglich hat sich die “normale Politik” der Migration in der Region in der Zeit der verstärkten Mobilität von Menschen aus dem Globalen Süden in eine “Notfallpolitik” verwandelt. Als solche wurden Grenzen kontinuierlich erneuert und aktiviert, verkörpert durch physische Grenzen, digitale Räume, Territorien anderer souveräner Staaten und Körper von Menschen, die versuchten, sie zu überschreiten. Unser Wissen über diese Prozesse, was ihnen zugrunde liegt und wer letztendlich von ihnen profitiert (z. B. der private Sektor), bleibt begrenzt.

BG: Ein drittes Merkmal der EU-Grenzregime-Black Box geht auf die Tatsache zurück, dass mit der Privatisierung staatlicher Dienstleistungen eine Vielzahl von Akteuren aus dem Milieu der organisierten Kriminalität ins Spiel kommt. Die “Balkanroute” ist dafür exemplarisch, weil der Zerfall Jugoslawiens vom Aufstieg der organisierten Kriminalität aller Schattierungen begleitet und beschleunigt wurde. Entscheidend ist, dass Akteure aus dem Milieu der organisierten Kriminalität nicht abseits des neoliberalen Marktes agieren, sondern als integraler Bestandteil desselben – sei es, weil sie zum Aufbau dieses Marktes auf dem Balkan beigetragen haben, sei es, weil die intransparenten Geschäftspraktiken eben dieses Marktes kriminelles oder proto-kriminelles Verhalten (z.B. Korruption) und einen Raum der Straflosigkeit im Großen und Ganzen ermöglichen und sogar fördern.

Wenn organisiertes Verbrechen im Zuge des Zerfalls Jugoslawiens mit dem Schmuggel von Menschen, Waffen, Drogen und anderen Gütern die “Balkanroute” maßgeblich konstituiert hat, dann ist die jüngste Securitisierung von Mobilitäten entlang der “Balkanroute” für das organisierte Verbrechen ein neues, zusätzliches gewinnbringendes Geschäftsfeld geworden, das durch die Förderung des Grenzmanagements als neuem Markt eingeführt wurde. Inwieweit ist dieser Aspekt ein “typisches Merkmal des Westbalkans” und inwieweit ist er ein Merkmal, das Privatisierung und Neoliberalismus in (Ost-)Europa insgesamt charakterisiert?

SM: Dies ist nicht etwas, was ich in meinem Buch untersucht habe. Ich kann jedoch bestätigen, dass die oben genannten Interventionen während der “Migrationskrise” 2015ff den Prozess der Entbalkanisierung und Re-Europäisierung der Region eingeleitet haben. Diese Fernsteuerung der Migration im Namen Europas brachte die Region auf den Weg, den Prozess der Balkanisierung umzukehren und der EU-Mitgliedschaft einen Schritt näher zu kommen. Ehemalige Feinde arbeiteten bei der Mobilitätskontrolle zusammen, wie im Fall von Serbien und Kroatien oder Kosovo und Serbien zu sehen ist.

Dies ist angesichts der unruhigen Geschichte der Region von Bedeutung, kann aber auch ein neuer Funke sein, der möglicherweise Animositäten und Missstände aus der Vergangenheit wieder aufleben lässt (und auch ein kurzlebiger Trend sein kann). Racial Profiling, religiös oder nationalitätsgetriebene Interventionen und Praktiken in einer Region, in der Ethnizität, Rasse und Religion so viel Leid verursacht haben, sind bestenfalls fahrlässig. Der Aufschrei über solche Praktiken ging jedoch vor allem von den Staaten und Regierungen des Westbalkans aus. Und während die Forderungen Europas nach uneingeschränkter Freizügigkeit ohne Diskriminierung auf dem Papier bestehen, wurden besagte Interventionen, obwohl sie von Nationen der Region begangen wurden, von denen inspiriert und orchestriert, die von solchen Praktiken profitieren.

BG: Sie sprechen in Ihrer Arbeit von “sozialer Sortierung von Nicht-Bürger*innen”. Das führt uns zum vierten Merkmal der Blackbox-Mobilität, das damit zusammenhängt, dass sich die mobilen Körper entlang der “Balkanroute” oft einer einfachen Klassifizierung widersetzen. Als Verfahren scheint die soziale Sortierung von Nicht-Bürger*innen genau in dem Moment an ihre Grenzen zu stoßen, in dem sich “wildwuchernde Zahlen” der maschinellen Lesbarkeit widersetzen, d.h. wenn Pässe fehlen, vernichtet wurden, veraltet oder gefälscht sind oder nicht mit den Datenbankeinträgen übereinstimmen, usw. An diesem Punkt zwingt der Black-Box-Status des EU-Mobilitätsmanagements den mobilen Körpern nicht nur seine unterdrückerische Politik auf, sondern wird in gewissem Maße auch von eben diesen mobilen Körpern erzeugt – als ein Akt des Widerstands, der das ausdrücken kann, was in der Migransforschung als “Autonomie der Migration” bezeichnet worden ist. Die Frage ist also, ob die Black Box auch als ein Raum gelesen werden kann, der die Freiheit der Bewegung begünstigt?

SM: Menschen, die unterwegs sind, werden durch Abgrenzungspraktiken ständig klassifiziert und umklassifiziert. Black-Listing folgt einer Sicherheitslogik und schließt bekannte Bedrohungen aus. Der Großteil der mobilen Bevölkerung in der Region wurde jedoch als Grey-Lister katalogisiert und einer Datenanalyse, einem Risikoprofil und einer Bewertung ihrer Eignung für die Arbeitsmärkte und/oder Asylsysteme im Globalen Norden unterzogen.

Während der 2015er “Krise” wurde die westliche Balkanregion in eine Pufferzone verwandelt, eine Arbeitsreserve, in der eine Filterung und (mehr oder weniger) temporäre Ruhigstellung stattfand. Viele Tentakel der Migrationsmaschinerie in der Region blockierten, verzögerten, filterten, kategorisierten und re-kategorisierten Menschen auf dem Weg und schufen so effektiv einen überschaubaren Strom von Migrant*innen. In den Herkunfts- und Transitländern wurde ein Gleichgewicht zwischen den Menschen hergestellt, denen die Überfahrt erlaubt wurde – Menschen, die als nützlich für den Arbeitsmarkt oder als “echte Asylsuchende” eingestuft wurden, die den angeblich humanitären Charakter des westlichen Asylsystems bestätigen würden; was noch wichtiger ist, dieses Ergebnis wurde durch die Zusammenarbeit von Nationen erreicht, die sich vor weniger als zwanzig Jahren während des Zerfalls Jugoslawiens in einem blutigen Konflikt befanden. Sie wurden wiedervereinigt, wenn nicht gar versöhnt, um diese Aufgabe zu bewältigen.

Sicherheitstechnologien, wo auch immer sie eingesetzt werden, werden wohl immer gewalttätiger. Ich habe Zeugnisse von Widerstand, Gewalt, Zurückdrängung und Ausbeutung festgehalten, die ein direktes Ergebnis der Grenzsicherung sind. Obwohl sie vielleicht nicht so explizit sind wie die Schiffswracks in Lampedusa oder die an den Stränden des Mittelmeers verstreuten Leichen, waren die “Kollateralschäden” in der Region wohl ebenso tragisch und dramatisch. Hinter der vermeintlichen Bereitschaft, menschliche Tragödien und Opfer in der Region zu tolerieren, standen Rassismus und Fremdenfeindlichkeit der lokalen Bevölkerung sowie ein humanitäres “Rettungs”-Narrativ, das auf weibliche Grenzgängerinnen abzielt. Negative und gleichzeitig unvermeidliche Auswirkungen dieser Prozesse, wie Gewalt und Zurückdrängung an der Grenze, Racial Profiling und die Regelung der Mobilität auf der Grundlage von Rasse und ethnischer Zugehörigkeit der Grenzgänger, waren, so scheint es, ein Preis, den die Kandidaten- und potenziellen Kandidatenstaaten bereit waren zu zahlen, um politische Punkte für den großen Preis zu bekommen: die EU-Mitgliedschaft. Der Globale Norden hingegen duldete solche schädlichen Praktiken nicht nur, sondern stiftete und förderte sie wohl sogar.

Herkunfts- und Transitländer wie die des westlichen Balkans waren Räume, in denen Grenzkämpfe stattfanden und in denen mobile Körper Technologie für sich beanspruchten, um ihre Migrationsprojekte zu verbessern, missbräuchliche Grenzpraktiken aufzuzeichnen und potenziell Gegennarrative der Migration zu schaffen. Ich nenne diesen Prozess “das Feuer stehlen” (in Anlehnung an die Geschichte von Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen schenkte); er geschieht über bestehende Technologieplattformen wie Smartphones und soziale Medien, wo Menschen unterwegs sind, um Mobilitätsprojekte zu ermöglichen, Rechenschaft für Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zu fordern und Sicherheitsnarrative im öffentlichen und politischen Diskurs über Migration zu verändern. Das Potenzial von “Gegensicherheitstechnologien” bei der Ent-Securitisierung von Migration ist in der Literatur weitgehend unerforscht. Geschichten von Menschen, die in sozialen Medien geteilt werden, haben zweifelsohne das Potenzial, ihr Leiden, ihren Schmerz, ihr Überleben und ihre Hoffnung auf ein breiteres Publikum zu übertragen. “Das Feuer zu stehlen” kann in diesem Zusammenhang potenziell bedeuten, das Monopol der offiziellen Akteure, die die Wahrheit über Migration erzählen, durch massenhafte Selbstkommunikation in der digitalen Wissenscommons zu brechen.

Anm.d.Red.: Weitere Beiträge im „Black Box East“-Schwerpunkt finden sich hier: https://berlinergazette.de/category/feuilleton/black-box-east/

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