Berlin wird ein Puppenhaus: Zur Abwicklung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

Die Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz war in den letzten 25 Jahren ein Glücksfall in Sachen Theater und Avantgarde-Kultur. Nun steht das Haus, an dem eine einzigartige Mischung aus Ost und West kultiviert werden konnte, für einen negativen kulturpolitischen Trend: Berlin verliert seine Ecken und Kanten – und damit sich selbst. Thomas Martin, der Hausautor, denkt über die Abwicklung seines Theaters und das aktuelle Klima in Berlin nach. Ein mehrteiliges Interview.

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Noch im vergangenen Jahr gab es einen fruchtbaren Dialog zwischen Frank Castorf und dem Staatsekretär für Kultur Tim Renner. Es ging um die Übergabe der Volksbühne an einen Nachfolger, um den Zeitpunkt der Übergabe und den Plan, wie das Erbe sinnvoll weitergereicht werden kann; Castorf selbst sitzt mit am Tisch, wenn seine Nachfolge besprochen und beschlossen wird, schließlich hat er das Haus ein Vierteljahrhundert geprägt. Dann kann aus heiterem Himmel ein Brief der Senatsverwaltung: Castorf geht 2017, Dercon kommt. Basta.

Das ist zunächst einmal ein spezielles Problem, welches das Haus betrifft, die Leute, die das Theater in den letzten 25 Jahren aufgebaut haben und damit nicht nur etwas Neues, sondern auch eine Traditionslinie erschaffen haben. Es ist aber auch Ausdruck einer kulturpolitischen Entscheidung, eines kulturpolitischen Projekts. Wonach sieht es in ihren Augen aus, was hat die Kulturpolitik in Berlin vor, dass sie diesen kontroversen Schritt, in Teilen auch sehr unpopulären Schritt, gemacht hat?

Thomas Martin: Was sie vorhat, schwer zu sagen, das erfahren wir nicht. So wie es jetzt aussieht, sind es zwei Positionen, die gesetzt werden. Einmal die ideologisch-politische, dass hier der vorletzte Ost-Intendant der Stadt – mit einer DDR-Vergangenheit, einer ostdeutschen Sozialisierung, die auch seine Kunst in all ihrer Widersprüchlichkeit geprägt hat – abgelöst wird. Er wird ersetzt durch einen polyglott-kosmopolitisch auftretenden Kulturmanager, der weder Wurzel noch Tradition dieses Theaters in dieser Stadt und in diesem Teil der Stadt kennt. Das ist eine Traditionslinie, die in den Osten reinreicht, in den Osten einer Stadt, die nicht ohne Nachwirkungen geteilt war, und diese Linie wird jetzt gekappt.

Ich kann das nur so verstehen, dass man offensichtlich eine neue kulturelle, auch kulturpolitische Ausrichtung etablieren will, und eine damit einhergehende Kommerzialisierung. Die Subventionen werden nicht ausreichen, um das, was der Nachfolger Dercon, so diffus auch immer sein mag, was er behauptet, zu finanzieren. Das sagen die Erfahrungen, die wir hier haben, mit den 16,8 Millionen am Haus, mit unserem Spielplan und den 220 Festangestellten. Kommerzialisierung wird in dem Fall heißen, dass da große Sponsoren, Finanzkräfte, angeworben werden oder angeworben werden müssen. Und die wollen natürlich auch was.

Man muß nicht mit Schlagworten wie Liberalisierung oder ähnlichem kommen, aber Geld wird hier auf jeden Fall eine große, größere Rolle spielen. Woher die Anschubfinanzierung, die angekündigten fünf Millionen für die Projekte kommen soll, die Dercon vorhat mit seinen Leuten, ich weiß es nicht, ist ja auch noch nichts bestätigt. Es geht nicht darum, einen Intendanten bis ans Lebensende beizubehalten wie im Politbüro. Es geht vor allem darum, dass man ein politisches Theater macht und grade dieses Theater hatte als Motor immer die Reibung zwischen Ost und West, das Spannungsfeld zwischen Nord und Süd, das Thema der Afrika-Konferenz im Februar war. Und es gehört zur Traditionslinie, dass dieses Haus ein Schauspielhaus ist. Es ist als Theater gegründet worden, finanziert durch Spenden der Volksbühnenbewegung, deren Stammhaus das hier ist. Man kann nichts über die Qualität dessen sagen, was nach uns kommt, man kann den Nachfolgenden, die hier noch nichts getan haben, nichts vorwerfen.

Aber ich denke, wenn die Leute, die aus Amsterdam, London, Brüssel, Paris, New York, München kommen und ohne jeden lokalen und historischen Bezug hier Theater, Performance, Installation, Tanz, Kino, was auch immer machen, wie lang auch immer das dann gehen wird, es wird schwer danach werden, hier nochmal ein Schauspielhaus aufzumachen, ein Theater in all seiner Umfassendheit. Wir haben ja auch hier in den letzten 25 Jahren nicht das traditionelle Schauspiel gemacht, wir sind ja auch ein Mehr-, ein Vielfach-Sparten-Haus in diesem Sinn. Der Eventschuppen ist hier erfunden worden, und zwar von Piscator so um 1926 herum, der als erster das heute multimedial genannte Theater gemacht hat.

Sie nennen zwei Dinge. Einerseits die Kappung der Traditionslinie. Andererseits die Kommerzialisierung des Hauses. Beides sind Eigenschaften einer mehr oder weniger durchdachten, einer mehr oder weniger transparenten kulturpolitischen Vision, zumindest so wie sie sich derzeit für uns darstellt.

Ob sie nicht durchdacht ist, weiß ich nicht. Dass sie nicht transparent ist, kann man auf jeden Fall sagen. Vielleicht ist es ja sehr wohl kalkuliert und durchdacht. Das sieht zwar nicht so aus, aber dadurch, dass wir keinen Rücklauf haben, dass es, was die Entscheidungen über unser Haus betrifft, keine Kommunikation gibt – was bedauerlich ist, wenn es um ein Haus geht, in dem jemand ein Vierteljahrhundert, eine ganze Generationenspanne umfassend, Theater gemacht hat. Wir können von Entscheidung zu Entscheidung nur mutmaßen, und sind natürlich davon ausgegangen, dass Castorf in die Berufung eines Nachfolgers einbezogen wird.

Es sieht danach aus, als bestünde die Priorität darin, eine Kommerzialisierung voranzutreiben – zugunsten von Traditionslinien, die aus der Sicht der aktuellen Kulturpolitik, das Bauernopfer darzustellen scheinen, das erbracht werden muss, um einen Anschluss zu schaffen an die großen Leuchtturminstitutionen in Paris, London, New York und so fort…

So überraschend ist es nicht, wenn ein Manager aus der Musikindustrie, also der mit ganz anderen Verwertungskontexten zu tun hat, jetzt zum Staatssekretär wird. Das war durchaus vorhersehbar. Da hätte man auch einen Fitneßstudiobetreiber, der Musikliebhaber ist, einsetzen können. Nein, Renner agiert als Lobbyist einer Unterhaltungsindustrie, die sich nicht lange mit lokalen Positionen aufhalten will, schon gar nicht mit Geschichte und ihren Widersprüchen, weil sie von deren Nivellierung nur profitiert.

Auch wenn sich die alte Tante SPD mit ihrem Bürgermeister, von dem wir ja lange gar nichts hörten, jetzt sehr wundert. Oder zumindest tut, als ob sie sich wundert. Man kann es bedauerlich finden, dass der Kulturstaatssekretär sich weder mit der Institution noch mit ihrer Geschichte beschäftigt, dass man als Altlast behandelt und mit Ostalgievorwürfen belegt wird, aber neu ist das eigentlich nicht. Das gehört zur Geschichte dieses ja auch sehr widerspenstigen Orts. Und das ist auch der Tenor in den Feuilletons: Endlich, nach so langer Zeit gehört die Volksbühne auch uns. Jetzt schreiben wir ihre Geschichte.

Und diese Haltung erinnert an die Mentalität der frühen 90er Jahre, als die Treuhand die Ex-DDR seziert hat. Wenn ich sehe, wie jemand wie Schaper vom Berliner Tagesspiegel sofort auf den Rücken fällt angesichts des unglaublichen Charms, den der globale Chris Dercon in einer Pressekonferenz versprüht, dann weiß ich auch, dass meine Stunde hier geschlagen hat. Das ist vorbei mit der Volksbühne, die auch nicht nur Glanzzeiten hingelegt hat in den letzten 25 Jahren. Das war kein ununterbrochener Triumphmarsch, das war in der Kontinuität auch dauernd umstritten.

Dieses nicht ganz kleine Theater, das eine kulturpolitische Bewegung vor 100 Jahren an diesem Ort ermöglicht hat, ist ja auch durch Krise, wie es oben vom Dach weht, definiert. Nicht erst seit 1992, sondern schon in Jahrzehnten früher, in ganz anderen Gesellschaftssystemen wie Kaiserreich und Weimar, Nazizeit und DDR. Und zur Tradition gehört auch die ständige Auseinandersetzung mit der Tradition, zu der jede Menge Krise gehört, sonst wäre hier nichts Neues kreiert worden.

Christoph Schlingensief ist sicher der prominenteste und wirkungsstärkste Fall. Er hat sich hier durchsetzen müssen, bevor er, längst etabliert, 2007 am Haus der Kunst in München erschienen ist. Die Volksbühne war immer ein Ort, an dem Künstler sich in Frage gestellt haben, und nur wer auch große Risiken eingegangen ist, hat hier großes erreicht. Viele sind gnadenlos auf die Schnauze geflogen. All diese Widersprüchlichkeit, das Umstrittene, scheint mir jetzt begradigt und bereinigt zu werden. Wenn behauptet wird, Berlin soll endlich werden wie New York, wie Brüssel, London, Paris, wie irgendeine andre Weltstadt, die man so aus dem Atlas zieht, da frage ich mich, wo bleibt da noch Berlin?

Die Kulturpolitik schafft im Zuge dessen Berlin ab, sie ist verantwortlich für die Ununterscheidbarkeit, die Nivellierung, für das tote Zentrum mit Replikabauten und Townhouses, für das Verschwinden des sogenanntes Alleinstellungsmerkmals, um die Senatswortschöpfung zu gebrauchen. Das ist Disneyland. Wenn Dercon vom Rosa-Luxemburg-Platz als letzter nicht gentrifizierter Stelle in Berlins Mitte spricht, kann er nur die Volksbühne meinen, der Rest ist durchgehend gentrifiziert, das Zentrum ausgebrannt und die kreative widerständige Energie lebt in den Peripherien.

Wenn Berlin ein Alleinstellungsmerkmal hatte, dann seine Heterogenität. Die zwei Zentren Ost und West von Beginn an, das soziale Gefälle, die Lücken und Wunden des Kriegs und der Besatzung, die politische Teilung, die Mauer, die Vereinigung und die Kämpfe dafür und dagegen. Berlin war deswegen der Magnet, die heißeste Stadt in der Welt, deswegen sind seit 1990 zehntausende, und nicht nur Künstler und Kuratoren, hierhergekommen. Bevor die Mauer fiel, war das Geld da, das die Macht der Politik, damals von Kohl vertreten, sicherte in diesem doch noch sehr nach Nachkrieg aussehenden Berlin.

Dann kamen die Brachenbesucher, die Brachenbewohner, danach die Hausbesetzer, dann die Hausbesitzer. Und alle liebten den „morbiden Charme“. Als erstes zog sich eine weiße Banderole durch die Stadt, das waren die übertünchten Ladenzeilen, in denen Copy Shops, Beate-Uhse-Läden, Videotheken und improvisierte Bankfilialen einzogen. Das hielt eine Weile, dann wurde saniert und neugebaut. Dazu kommt der Bevölkerungsaustausch. Allein im Prenzlauer Berg sind mittlerweile 80% der Ureinwohner von Neuzuzüglern, die sich das schicke und behagliche Ambiente leisten können. Wo baufällige Altbauten oder Betriebe waren, durchzieht jetzt ein Bullerbü-Flair den ursprünglich proletarisch geprägten Stadtteil.

Dieses plüschig Kleinstädtische ist die Maske dieser Inbesitznahme. Und in diesem Prozeß hat die Volksbühne hat ihr sogenanntes Alleinstellungsmerkmal behaupten können bis heute. Frank Castorf als Leiter dieser Institution hat hier eine solche Heterogenität ermöglicht, die sehr viel Freiraum und auch Chaos zuläßt, Bewegung. Das kann nicht jeder, das muß man als Intendant auch aushalten können.

Und auch dazu beigetragen, dass Berlin so etwas haben konnte: ein Alleinstellungsmerkmal.

Berlin war immer schon Thema dieses Hauses. Ich bin kein Lokalpatriot, aber das unterscheidet dieses Theater von anderen Theatern, dass es sich mit dieser ja nicht unwichtigen Stadt in der Mitte Europas, im Zentrum der Weltpolitik und den Untiefen der Geschichte, beschäftigt hat. An diesem Ort in der Mitte der Stadt – mit den Kommunisten auf der einen und den Westlern auf der anderen Seite – wurde viel Historisches verhandelt, das ist schon immer ein Brennpunkt von Geschichte gewesen und dem muss man sich wieder und wieder stellen. Das ist unser Verständnis von Theater und Politik. Das Stalinplakat in Castorfs Intendantenzimmer erinnert daran: der Totalitarismus ist nicht vergangen, egal obs die Sowjetunion noch gibt oder nicht, oder die DDR. Totalitarismen gibts immer noch, man kann auch totalitär Kulturpolitik machen. Vielleicht gar keine schlechte Idee.

Was geht hier verloren, was die Berliner Kulturpolitik glaubt, sich nicht mehr leisten zu können, zu wollen, was vielleicht auch in irgendeiner Form unbequem gewesen ist?

Das ist nicht nur die Ost-Geschichte, aber die vor allem. Denn die steht der rein westlich geprägten Berliner Kulturpolitik immer noch quer vor Augen. Da kann man in jedes Gremium gucken. Da sind die Ostdeutschen in der Minderheit. Das hat natürlich auch einen politischen Hintergrund, dass nämlich der ostdeutsche Staat vom westdeutschen übernommen wurde und nicht umgekehrt, das ist historisch folgerichtig. Und die Linke, ob sie von Gysi, Lafontaine oder Wagenknecht geführt wird, dominiert nun mal nicht die Politik.

Das heißt, es geht um ostdeutsche Geschichte.

Es geht auch um eine Sozialisierung. Wir arbeiten hier mit den – wie der Terminus jetzt heißt – prekären Schichten, den deklassierten. Am Beginn der Castorf-Zeit gabs das Obdachlosentheater, die „Ratten“, das war ein soziales Projekt, wir haben das Jugendtheatr P14, um Schüler und Jugendliche an das Theater heranzuführen. Wir arbeiten mit Straßenkindern und Pflegekindern, die gerade eine ganz große Inszenierung im 3. Stock gezeigt haben.

Mex Schlüpfer, sehr mit der Volksbühne verbunden, wird mit Jugendlichen und Rentern aus einem Altersheim arbeiten. Mex sitzt im Pavillon, unsrer Buchhandlung, und liest und schreibt öffentlich über die Webcam. Das ist kein ausgebildeter Schauspieler, er kommt aus dem proletarischen Wedding und gehört zur Volksbühne wie die prominenten Schauspieler Sophie Rois und Martin Wuttke. Die Arbeit mit Laien kann interessanter sind sein als die mit den sogenannten reinen Künstler, weil sie zuerst Existenzen sind und keine Ästheten.

Das ist auch nicht neu unter Castorf, das hat Piscator mit seinen Proletchören gemacht, im Streit mit der Volksbühnenbewegung, die ja selbst eine eher kleinbürgerliche Kultur gepflegt hat. Besson hat das auch fortgeführt, der Intendant, der in den 70er Jahren prägend hier war. Solche Art von sozial engagierter Kunst scheint mir bedroht, aber hgenau das muß man bewahren. Wenn ich in der Zeitung lese, Dercon will mit „Wortensembles“ nichtdeutschsprachiges Publikum ans Haus holen, und keine einzige der Meldungen kommentiert, was ein Wort-Ensemble eigentlich sein soll, dann bin ich ohne Wort-Ensemble, nämlich sprachlos.

Wort-Ensembles haben wir hier jeden Abend auf der Bühne, auch Herbert Fritschs Murmel Murmel ist ein Wort-Ensemble. Es ist schon beängstigend, nicht nur dada-komisch, wenn solche nicht hinterfragten Floskeln durch die Gegend fliegen, denn sie werden Folgen haben.

Anm.d.Red.: Das Interview ist als Dreiteiler erschienen. Teil 1: Berlin wird ein Puppenhaus. Teil 2: Gegenrepublik Volksbühne. Teil 3: “Angstloser Freiraum wird kleiner”. Das Foto oben zeigt einen künstlerisch-utopischen Entwurf einer möglichen Zukunft der Volksbühne, konzipiert durch den Künstler Jakob Michael Birn, Foto: Birgit Karn. Das Gespräch mit Thomas Martin führte der Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki. Lesen Sie auch den Debatten-Beitrag der HU-Professorin Tanja Bogusz.

11 Kommentare zu “Berlin wird ein Puppenhaus: Zur Abwicklung der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz

  1. Ich habe neulich mit Freunden aus Vietnam ein Fritsch-Stück gesehen (“DER DIE MANN”) – ein wirklich tolles Wort-Ensemble. Und meine Freunde aus Vietnam, die kein Wort Deutsch sprechen, waren mächtig beeindruckt!

    Ansonsten: Nur Kopfschütteln zu der Kulturpolitik in Berlin…

  2. Warum so feindlich dem Neuen gegenüber? Und so pessimistisch? Ist doch schön, das sich endlich wieder was verändert und Impulse von außen kommen!

  3. Ist denn eigentlich schon entschieden, ob das Ensemble erhalten bleibt oder ist der “eventschuppen” schon beschlossene Sache?

  4. sehr ärgerlich. wie so vieles in der stadt, was einem von der politik als “neu” und “unumgänglich” verkauft wird. wer meckert hat entweder” schlechte laune” oder ist ein “ewig gestriger”. bei mir treffen beide kategorien zu.

  5. Wenn KUNST – die Volksbühne war und ist zweifellos KUNST – in einer Gesellschaft dem Verwaltungsetablishement anheimfällt, verkommt sie zum puren Event oder gar dem Marketing. Das passiert aus politischen Gründen jetzt der Volksbühne. Wenn sich keine politischen Kräfte finden, die das erkennen und sich dagegen wehren, ist es um die “Volksbühne” geschehen bzw. ist die Dekadenz unserer Gesellschaft wieder einmal ein gutes Stück vorangekommen. Kunst braucht Freiheit. Sofern eine Gesellschaft sie ihr nicht mehr gönnt, verkümmert sie – nicht nur die Kunst, auch die Gesellschaft. Dabei wird total übersehen, KUNST ist ein Allgemeingut der Menschen und somit gehört das Thema Volksbühne auch zu UN/Commons.

  6. @Tinabet: “Warum so feindlich dem Neuen gegenüber? Und so pessimistisch? Ist doch schön, das sich endlich wieder was verändert und Impulse von außen kommen!”

    “Das Neue” — das ist die Volksbühne, noch immer. Also: warum steht der Senat, die Kulturpolitik, die Mainstream-Öffentlichkeit dem Neuen so feindlich, so pessimistisch gegenüber?

    “Impulse von außen” — das sind Impulse, die von der Volksbühne ausgehen und sich an Kultur und Gesellschaft richten. Die Volksbühne ist das Außen. Etwas, dass es so in unserer Gesellschaft kaum noch gibt. Wohl nirgends in Reinform, aber immerhin so wie die Volksbühne es vormacht: als Ort der nicht zu fixieren ist. Jetzt wird dieser Ort entsorgt. Damit einkehrt, was überall sonst auch schon eingekehrt ist. Die Belanglosigkeit, das öde Flimmern.

  7. Dieses Interview belegt nachdrücklich, warum es Zeit wird, dass die Geschichte “Volksbühne” einen Neubeginn erfährt. Und warum Tim Renner richtig liegt. In diesem selbstgefälligen, vergangenheitsbezogenen Tonfall ist kein Funke einer zukünftigen Originalität und Provokation enthalten, ein Ausblick auf radikale kulturpolitische Interventionen. Stattdessen denunziert Thomas Martin das Kosmopolitische und Neue und rührt im trüben Wasser “ostdeutscher Identitätspolitik”. Ganz schön #pegida. Haifischalarm im Müggelsee.

    Die Wahrheit ist: das linksintellektuelle Milieu Ostdeutschlands stellt sich hier behäbig, konservativ und selbstgefällig dar. Noch mehr als es immer schon war. Das ist immer die Tragik der Menschen, die sich vormals als Avantgarde wahrgenommen haben: sie selbst glauben, sie wären es – aber sie sind es nicht mehr. Sie sind in Wirklichkeit kulturell verbürgerlicht. Und erzeugen nichts anderes als ein kulturkonsumistisches Angebot in einem überlaufenen Markt: da gibt’s eine “gläubige” Kundschaft, die auch in den Feuilletons und Universitäten sitzt. Aber es ist eben nur eine begrenzte Gruppe unter vielen Menschen, die nicht mehr erreicht werden. Eine Gruppe, mit der man sich im Gegensatz zu den 1990ern Jahren zufrieden gibt.

    Man ist schlecht beraten, wenn man mit einer Nicht-Vision wie in diesem Interview gegen eine Idee antritt, so diffus sie noch ist. Und ganz klar: Berlin ist nicht mehr das vor 25 Jahren. In dieser Stadt wird englisch gesprochen, zentrale Akteure des Kulturbetriebs kommen von woanders her – und müssen sich ihre Bezüge zu deutschen, noch mehr zu ostdeutschen Diskursen, die vor allem in Nischenpublikationen zu finden sind, mühselig erarbeiten. Und die erfolgreichen Protagonisten der Volksbühne selbst sind “internationalisiert”. Da ist nicht besonderes “ostdeutsches” mehr in der Handschrift, wenn die Inszenierungen an allen möglichen Stadttheatern des deutschsprachigen Raums laufen und Elemente adaptiert werden.

    So habe ich den Eindruck: Die “alte” Volksbühne hat ihre Schlachten geschlagen. Verdienstvoll. Doch nun klebt man an den gesicherten, schrumpfenden Budgets, dem liebenden, aber begrenzten Publikum und an der Vergangenheit – wie an jedem Stadttheater. Und “Intellektuelle” wie Thomas Martin sind leider schon so – sorry – “verkalkt”, dass sie sich tatsächlich wortreich in der Diskussion um eigene Posten an die wirklich naheliegensten stadtpolitischen Diskurse ranhängen müssen. Es ist dieser Mangel an mittlerweile origineller Reflexion und Intervention, der den Wunsch nach was Neuem am Rosa-Lusemburg-Platz erwachen lässt. So diffus das Neue auch nicht.

  8. Das klingt doch sehr traditionalistisch. Schauen wir uns das Berliner Ensemble an, das ist an sich selbst erstickt. Irgendwann will man die “Heiner Müller-Gedächtniskirche” nicht mehr hören.

    Ein neuer Mann in der Volksbühne kann andere Impulse setzen. Er kann auch grandios scheitern. Die Schnuffeltuchargumente sind gefährlich. Ein identitärer Diskurs ist ja nun den Ostklitschen immer zu eigen. Daraus kann etwas entstehen, auch unter neuer Leitung, wenn denn nur die Wasser fließen und nicht alles schal wird…

  9. @Rebentisch: “Ostklitschen”? ich muss mich über diesen Tonfall doch sehr wundern! Es hat so etwas von einem Titulieren der Minderheiten in Deutschland durch jemanden, der sein Angewidertsein von den “Anderen” gerne ausstellt. .

  10. @Rosa: Das war ganz lieb gemeint, die kleinen Inseln der Ostidentität, die natürlich in Wahrheit größer und wichtiger sind als es ihrem Selbstverständnis entspricht.

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