Behandelt werden anstatt zu handeln: Wenn alle BürgerInnen zu potenziellen PatientInnen werden

Medizin ist nicht mehr von umfassenden Verwaltungsprozeduren, von ihren Apparaten und ausgefeilten Architekturen zu trennen. Hier spielen die Staatsorgane eine wichtige Rolle, insbesondere die Idee der Medizinpolizei. Was passiert, wenn der Staat seine BürgerInnen nur noch als zu Behandelnde sieht? Im zweiten Teil seines Essays untersucht der Philosoph und Berliner Gazette-Autor Ludger Schwarte wie Politik mit “gefährlichen Körpern” in Zeiten der (medizinischen) Krise umgeht.

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Dieser Prozess der Verschmelzung ist eingebettet in das, was Michel Foucault als Entstehung der Gesundheitspolitik analysiert: Das oberste Ziel der Gesundheitspolitik ist es nicht mehr nur, eine Krankheit, eine Epidemie, dort zu unterdrücken, wo sie auftritt, sondern besser, der Entstehung und Ausbreitung von Krankheiten möglichst zuvorzukommen. Sie wird dazu Interventionsarten entwickeln, die die Lebensbedingungen und Lebensstile, die Ernährung, die Wohnung, die Umwelt, die Kindererziehung usw. betreffen und die zur Verbesserung der Lebensqualität der Bevölkerung eingesetzt werden können.

Medico-politische Entscheidungsgewalt

So läuft die Gesundheitspolitik auf die Integration zumindest eines Teils der medizinischen Praxis mit dem wirtschaftlichen und politischen Management hinaus, das auf die Rationalisierung der Gesellschaft abzielt. Weil die medico-politische Entscheidungsgewalt über alle Lebensaspekte den präventiven Eingriff erforderlich macht, muss auch das Recht so umgestaltet werden, dass es präventive polizeiliche Maßnahmen erlaubt. Der Zweck dieser Flexibilisierung des Rechts ist die effizientere Bewirtschaftung des Kollektivkörpers.

Schon im 18. Jahrhundert wurde die „Quadrillage plus serré de la population“ eingeführt, die aus öffentlichen und privaten Stiftungen subventionierte Tändelei der Arbeitslosen in engere, ökonomischere Bahnen zu lenken und sie in nützliche Arbeitskräfte zu transformieren. Das öffentliche Wohl wurde darin gesehen, die Naturressourcen, die Arbeitsprodukte, ihre Zirkulation, die Handelskonjunkturen, die Stadtplanung, die Infrastruktur, die Lebensbedingungen, die Zahl der Einwohner, die Langlebigkeit, die Arbeitskraft usw. durch eine Verwaltungstechnik, die auf Erfassung und kalkulierten Interventionen beruht, zu regieren.

Eine ganze Reihe von Schriften (v. Justi, Rau, Ruckmann, Brauner, Lanthenas, Steininger) befasst sich mit der Entwicklung einer medizinischen Polizei, worunter die Gesamtheit der Gesetze und Verordnungen zu verstehen ist, die den Staat stärken und durch den guten Gebrauch seiner Kräfte das Glück seiner Subjekte befördern. Die Medizinpolizei ist eine kalkulierte Modalität der Verwaltung und des Eingriffs in den „sozialen Körper“ – worunter Foucault neben den Körpern der Individuen (der Bevölkerung) das Ensemble der materiellen Dinge, die ihr Leben garantieren, den Rahmen und das Resultat ihrer Aktivitäten bestimmen, die Bewegungen und den Austausch bedingen.

Permanente Verbesserung des Gesundheitszustandes

Indem sich die Politik zusehends auf das Wohlergehen und die Gesundheit der Bevölkerung richtet, bedarf sie eines Apparates, der sich der Kranken annimmt, sowie darüber hinaus auch eines Dispositivs der Beobachtung, der Messung und der permanenten Verbesserung des Gesundheitszustandes – „état de santé“ lautet der zweideutige französische Ausdruck – der Gesamtbevölkerung. Die Gesundheitspolitik befasst sich permanent mit den biologischen Rahmendaten dieses Verbesserungsprozesses, mit der Geburten- und Sterblichkeitsrate, mit der Morbidität, den Lebensbedingungen, mit der Kindheit und Erziehung, mit der Arbeit, der Hygiene und der Ernährung. Die Medizin als „technique générale de santé“ reorganisiert Foucault zufolge zunächst den Raum, und insbesondere den Stadtraum, nach den Maßgaben der Hospitalisierung der Bevölkerung und seiner Eingliederung in ein Netz der medizinischen Betreuung und der administrativen Kontrolle.

Der medizinische und der politische Diskurs schließen sich auf der Ebene der Archi­tektur zusammen. Durch klinische Baumaßnahmen werden die Parameter der Medizin auf die Organisation der Städte übertragen. Staatliche Interventionen auf der Ebene der Stadtpla­nung verfolgen dabei im 19. Jahrhundert die biopolitischen Prinzipien, die sich aus den idealen Entwürfen der Hospitalarchitektur Ende des 18. Jahrhunderts ergeben hatten: die Platzierung verschiede­ner Quartiere, ihre Distanz, ihre Ausrichtung, ihre Feuchtigkeit, ihre Ventilation, die Reinigung gebrauchten Wassers, die Position der Friedhöfe und Schlachthäuser, die Dichte der Be­völke­rung, die Anordnung der Dienst- und Überwachungsposten, die Zirkulationskontrolle sind Faktoren bei der Kalkulation der Stadthygiene. Die Anatomie der pathogenen Stadt führt zu einer skrupulösen admi­ni­strativen Überwachung sozialer Agglomerationen.

Der Staat als Heilungsmaschine („machine à guerir“) implantiert dem Staatsbürger die Innerlichkeit des Patienten – vielleicht könnte man auch sagen: die biopolitische Normali­sierung der Daseinssorge. Das staatliche Gesundheits­manage­ments wird getragen und unterstützt von einer Bevölkerung, die um ihre Gesund­heit besorgt ist und gerne alle Arten von Daten zur Einschätzung ihres Gesundheitszustandes, ihres Wohlbefindens und ihrer politischen Launen liefert.

Während das Hospital die Abjekten aufnahm, gibt die Klinik nun die Norm für die Subjektivierung und für die Stadtplanung vor. Die Klinik unternimmt zugleich eine Vermassung wie eine Individualisierung, denn die dicht angeordneten Einzelzellen entsprechen einer genaueren Klas­sifikation der Krankheiten und individualisieren die Behandlungsformen. Zugleich erlaubt sie eine belebende Zirkulation und eine öffentliche Instruktion. Subjektivierung geschieht im Modus der Pathologisierung. Die Klinik beliefert die Stadt mit Wissen. Ich weiß mich als Patient. Nur die Klinik weiß, wie ich bin.

Architekturen der Disziplinierung, Architekturen der Kontrolle

Dabei ist das System der Kliniken noch weitgehend eines der Disziplinierung. Die Maschine zur Heilung ähnelt darin den Überwachungsarchitekturen: Die Ärztin soll möglichst den Zustand jeder einzelnen Patientin wie auch der Patientinnen einer Klasse mit einem Blick erfassen; jeder einzelne Körper soll sich den Maßgaben medizinischen Wissens entsprechen verhalten und entwickeln. Dabei darf ein wichtiger Unterschied nicht übersehen werden: die Klinikarchitektur ist anders als das Gefängnis so gebaut, dass die Patienten Zugang zu frischer Luft haben, weshalb ausgedehnte Grünanlagen stets Teil der Planungen sind.

Quarantänepolitik ist insofern ein Schritt zurück in die Architektur des Hospitals, des Ghettos und des Leprosoriums. Jenen Freiraum enthält auch der Klinik gewordene Staat. In ihm sind zwar die Architekturen individueller medico-politischer Disziplinierung nicht verschwunden. Doch wird er von einer anderen Rationalität geleitet, nämlich der Kontrolle. Die Kontrollgesellschaft ist ein offenes System; es basiert auf schnellen Kontrollformen mit freiheitlichem Aussehen, die jederzeit die Position eines Individuums in einem offenen Milieu angeben.

Während man sich im Disziplinarsystem stets zwischen zwei Einsperrungen befindet, organisiert die Kontrollgesellschaft den permanenten Aufschub, die permanente Modulierung und Chiffrierung. Architektonisch erfordert dies eine Serialisierung der Räume, die die Barrieren durch Geltungen ersetzt. In der Kontrollgesellschaft dehnt sich die Kontrolle durch flexible und modulierende Netzwerke aus. Sie vollzieht sich nicht mittels sichtbarer zeitlicher und räumlicher Strukturen und der Internalisierung von Normen.

Das Krankenhaus-Regime

Kontrolle basiert auf kontinuierlicher Selbststeuerung durch permanente Rückkopplung. Nun nehmen die Akteure die Position eines Elements in einem offenen Milieu ein und werden chiffrierte, lernfähige und transformierbare Figuren innerhalb eines sich ständig bewegenden Flusses von Informationen und Kreislaufs von Daten. Deleuze resümiert in seinem „Postskriptum über die Kontrollgesellschaften“: „In der Krise des Krankenhauses als geschlossenem Milieu konnten zum Beispiel Sektorisierung, Tageskliniken oder häusliche Krankenpflege zunächst neue Freiheiten markieren, wurden dann aber Bestandteil neuer Kontrollmechanismen, die den härtesten Einschließungen in nichts nachstehen. Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen.“

In China wird das Virus nicht nur durch konsequentes Einschließen bekämpft, sondern durch die Ausweitung autoritärer Herrschaft, die auch die Unterdrückung politischer Opposition impliziert. Dazu wurde offenbar eine „Corona-Virus-Tracking-App” eingeführt, mit der soziale Kontakte detektiert werden und die ihre Nutzer wissen lässt, ob sie sich womöglich angesteckt haben, weil sie sich in der Nähe von jemandem befunden haben, der Virusträger ist. Die App überwacht die Bewegungen jeder Nutzerin im sozialen Raum und reguliert sie, bis hin zum algorithmischen Diktat von Quarantänen. Zugleich sendet die App persönliche Daten an die Polizei und etabliert damit die technische Infrastruktur für eine automatisierte soziale Kontrolle. Über ähnliche Apps wird in Deutschland nun auch diskutiert.

Schon Deleuze sah im „Krankenhaus-Regime“ der Kontrollgesellschaft eine neue Medizin voraus, „die potentielle Kranke und Risiko-Gruppen erfasst, was keineswegs von einem Fortschritt hin zur Individuierung zeugt, wie man sagt, sondern den individuellen oder numerischen Körper durch die Chiffre eines “dividuellen” Kontroll-Materials ersetzt.“ Das alles ist möglich und wir erleben die Errichtung einer solchen Architektur biopolitischen „Nudgings“ auf allen Ebenen. Unsere Körper sind nun Kontrollmaterial für die Frage der Regierungen, ob sie ihre Machtmittel effizient eingesetzt haben.

Freiräume für gefährliche Körper

Doch keine der staatlichen Maßnahmen, die in unterschiedlicher Dosierung nun weltweit experimentell an den Bevölkerungen erprobt werden, kann effektiv sicher stellen, dass die Verbreitung von Krankheiten gestoppt wird. Selbstverletzung bleibt immer eine Option. Das „Experiment von und mit uns allen“, von dem Bruno Latour vor nunmehr gut 20 Jahren schrieb, geht in eine neue Runde. Wenn es auch einen gewissen und hierzulande sicher nicht zu unterschätzenden Prozentsatz von Unbelehrbaren gibt, wird ein Aufhalten der Pandemie nur gelingen, wenn unterstellt werden kann, dass in der Regel Jede und Jeder Teil einer sich bildenden kollektiven Vernunft ist und sich so verhält, wie es in der gegebenen Situation erforderlich ist.

Ebenso wie ein gemeinsames Kino-, Konzert- oder Theatererlebnis von multiplen virengeschützten Logen aus denkbar ist, wären viele geänderte Frequenzen, Bewegungsweisen und Nutzungspraktiken öffentlicher Räume zu finden, die es uns ermöglichen, Freiheit zu leben, auch wenn wir davon ausgehen müssen, dass andere Körper, und erst recht viele von diesen, eine Gefahr darstellen können.

Anm. d. Red.: Lesen Sie den ersten Teil des Essays hier. Die Fotos im Text stammen von Mario Sixtus und stehen unter einer CC-Lizenz (CC BY NC SA 3.0).

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