Balzac weiterlesen

Die letzte Ausgabe aller Romane Balzacs in deutscher Sprache erschien 1998, vor zehn Jahren also und verkaufte sich offenbar schlecht. Ich erinnere mich, wie ich gegen Ende meines Komparatistik-Studiums beim groessten ortsansaessigen Buchhaendler um den leuchtend ausgestellten Monolithen dieser Gesamtausgabe herumgeschlichen war – und sie ob ihres Preises dann damals doch nicht erstand.

Jetzt ist sie nur noch antiquarisch, auf Marktplaetzen im Netz oder bei gut sortierten Buchweiterverkaeufern um die Ecke erhaeltlich.

Sie traegt Fassungen von fast dreissig Uebersetzern der letzten beiden Jahrhunderte zusammen – ein kleiner Katalog des grossstaedtischen Literatur- und Geisteslebens zum Beginn des letzten Jahrhunderts, vertreten durch Friedrich Sieburg und Rosa Schapire, Walter Benjamin und Franz Hessel, durch Otto Flake und Paul Zech. Was kann ich nach erst einem Zehntel der Romane sagen? Ein gewisser Aufbau, eine Gliederung des Spannungaufbaus und des Erzaehlstromes scheint sich anzudeuten.

Fast jeder der [bislang] von mir gelesenen Romane beginnt – so erinnere ich mich – mit einer eher ermuedenden, sehr detaillierten Schilderung des Tableaus, in dem der Roman stattfindet. Mir kommt es so vor, als wuerde ich hier Balzacs Ausrichtung an der Kurzform des Zeitungsvorabdrucks erkennen koennen: >Erstmal ordentlich den Leserinnen klarmachen, wo das alles schoen spielt!<. Dabei werden einige Personen eingefuehrt, schon meint man: >Ja, das sind dann wohl die Hauptfiguren!< ehe sich die erste wichtige Verwicklung an einer Person entzuendet, die eher am Rande steht und und nun zur wichtigsten wird.

Die Handlung ver- und entwickelt sich dann so dahin, viel werden die schwaermerischen Erwartungen Naiv-Verliebter und -Ehrgeiziger entfaltet. Himmelhochjauchzende Erloesungserwartungen richten sich hier stets an Einkommen, Mitgift, Erbe und Heirat aus; und werden nicht selten schmerzhaft enttaeuscht als weltfremd, abwegig und ohne jeden Grund. Balzac baut seine Personen so idealsuechtig auf, damit er sie hernach von den blankgewienertsten, hoechsten Stiefeln genuesslich in den dreckigsten Schmutz treten lassen kann und seinen Sadismus der Erniedrigung der hoechsten Werte uebraus boesartig ausleben kann. Missbraucht wird, wer am hoechsten strebt.

Dies alles wird immer wieder von fix hingehuschten Passagen, Seiten, Kapiteln unterbrochen, bei denen dem Autor vermutlich der Abagbetermin – zumindest einer Teillieferung – schon arg im Nacken und noch kaum eine tiefgruendigere Schreibidee im Hirn hing. Ueber diese Passagen huscht auch der Leser hinweg, uebereilte Schilderungen und Dialogkatarakte.

Trotz alledem: Es sind pionierhafte Romane, teils sogar feministische – in Bezug zur Norm der Zeit. Zum einen: Waehrend auf oestlicher Rheinseite wie erwaehnt noch Nachwehen und Auslaeufer idealistischen Sanges ausharrten, schrieb westlich davon eine neue Generation, schon tief im begonnenen, neuen Jahrhundert, die materialistischen Portraits, die eine neue Zeit der Industrie, des Kapitals und der Verwertung von Menschenmaterial angemessen darstellen sollten. In den erbarmungslosesten Momenten schreibt Balzac schon die Aufstiegskaempfe der Angestellten- und Weltkriegsgesellschaften des zwanzigsten Jahrhunderts vor.

Zum anderen: Die Frauen in diesem Romanen sind eigenstaendige Individuen – gerade weil sie an den gesellschaftlichen Grenzen ihres Geschlechtes und der familiaer-industriellen Vorgaben leiden und nicht selten zerbrechen. Schoene Leich’ sind sie teils – doch oefter Mahnmale vernichteter Lebewesen, in einem naechsten Jahrhundert auch wahlberechtigte und voll berufstaetige Teilhaberinnen am gesellschaftlichen Leben. Sie sind kaum mehr schiere Trophaeen maskulinen Jagdtriebes, respektive dessen Anreizung durch Widerstaendigkeit. Sie sind Menschen – im vollsten, pathetischsten Sinne dieses Wortes. Bis ins einundzwanzigsten Jahrhundert hinein ist diese Aussage noch ein Skandal in nicht wenigen Regionen der Welt, in etlichen maennerbuendischen Subkulturen der westlichen Welt zudem.

Ich lese langsam. Kaum weil der Autor wohl schwer lesbar waere, im Gegenteil. Balzac liest sich weg wie Episoden heutiger Filmerzaehlwerke in TV-Serien-Staffeln. Ein Rausch entsteht. Doch ist meines Wissen kein Geschaeftsmodell sichtbar, das die Lesezeit eines Autors an sich bezahlen wuerde – dahinsiechende und zunehmend langsam institutionell erwuergte Literaturwissenschaften taten dies ehedem, nun kaum mehr noch. Eine strikt oekonomistische, nicht-kuenstlerische Berufstaetigkeit nebenher bleibt fuer rauschhaft erregte Balzac-Leser also auch weiterhin dringend anzuraten. Ich schreibe trotz alledem weiter darueber, was ich wie in Balzacs Romanen lese, in einer kleinen >Lese Erzaehlung< auf mediumflow. Wer mag, lese mit oder besser gleich selbst. Wenn alles gut geht, mag ich bis Anfang 2011 die menschlichen Komoedie ganz gelesen haben. Eine Liebhaberei, die ich [ganz am Rande angemerkt] auch dem vergleichenden Literaturwissenschaftler und meinem ehemaligen Doktorvater Manfred Engel widmen moechte.

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