Balzac lesen

Seit Ende letzten Jahres lese ich Balzacs Comedie humaine. Das hoert sich simpel an und koennte es sein. In deutscher Sprache ist allerdings keine einzige vollstaendige Ausgabe dieses auf 137 Romane und Erzaehlungen angelegten Werkes erhaeltlich.

Schrieb ich >Werk< ? Bei diesem Wort gehen die Schwierigkeiten sogleich in die naechste Runde. Im Sinne eines integral geplanten und ausgefuehrten Kunstwerkes war diese Serie von Erzaehlungen aus dem 19. Jahrhundert der Restauration, den Nachwehen von Revolution, napoleonischer Herrschaft, Kriegen und Gegenrevolution sowie machtvoll aufsteigender Geldwirtschaft, Industrie und Buergertum im Phantomschmerz der Monarchie anfangs von ihrem Autor gar nicht geplant. Wie ich als Neu-Balzacianer in meiner erwachten Aufmerksamkeit fuer diesen Autor und meiner Initiation in seine Lektuere erfuhr [1st stage: Anregung durch Claudius Seidls hilfreiches Balzac-Einsteiger-Manual; 2nd stage: umgehende Lektuere des darin dringend anempfohlenen 18 Jahre alten Essays Der Geheimagent der Unzufriedenheit von Wolfgang Pohrt; 3rd stage: Suche nach einer Gesamtausgabe zum unverzueglichen Gesamtlektuere- beginn im Dezember; 4th stage: zunehmend umfangreichere Recherche in der romanistisch-komparatistischen Balzac- Forschung] hatte der Autor die ersten Romane zunaechst als flinke Geldbeschaffungsmassnahme fuer das damals aufbluehende und schnell drehende Zeitungsgeschaeft geschrieben.

Erst nach rund 12 Jahren und etwa 70 Veroeffentlichungen entstand dann nachholend, ueberstuelpend, vielleicht eher als Notbegruendung und dringend gebrauchter Selbstverteidigung seines literarischen Wertes eine Einleitung, die das Gesamt- werk als solches unter dem Titel der menschlichen Komoedie fasste. Im deutschen Sprachraum herrschte zu Anfang noch die idealisierend-poetisierend-paedagogische Goethezeit – waehrend im westlichen Nachbarland nicht nur Balzac harsche, in psychologischem Splatter ihre Figuren erbarmungslos und erniedrigend sezierende Autopsien schrieb.

Es wird mir heiss und kalt, wenn ich lese, wie gewalttaetig – auch gegen sich selbst – dieser Autor die Menschen seiner Zeit in ihren niedersten Beweggruenden und hoechsten, tragisch- weltfremden Zielen und Wuenschen entbloesst. Angst beschleicht mich dabei, wie betulich und selbstverblendet, ja selbstgefaellig und schoenrednerisch sowohl die zeitgleichen als auch gegenwaertigen Autoren in deutscher Sprache geschrieben haben und jetzt noch schreiben. Die Haerte eines Balzac ist eines Bret Easton Ellis wuerdig, eines Nietzsche, Emmanuel Bove, eines Rainald Goetz auch, eines Thomas Bernhard, Knut Hamsun, einer Elfriede Jelinek nicht zuletzt!

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