Aufwachsen in der Provinz

Es war eines dieser Gespraeche, die ich ueber Jahre hinweg ab Mitte November immer wieder gefuehrt habe. >Faehrst du?< - >Bestimmt nicht. Du?< - >Quatsch.< Wir sind uns alle ganz sicher, dass wir dieses Jahr Weihnachten auf keinen Fall nach Hause fahren. Schliesslich sind wir nicht ohne Grund aus der Provinz nach Berlin gezogen. Und trotzdem: Spaetestens am 23. Dezember sitzen wir wieder in den ueberheizten Abteilen irgendeines Regionalexpresses. Wir steigen an einem der kleinen Bahnhoefe aus, an denen wir schon so haeufig Abschied genommen haben und ploetzlich stehen wir wieder ganz am Anfang. Darum habe ich das Buch >Wie komme ich hier raus?< [2] geschrieben: Es hat mich interessiert, warum man die Provinz niemals wirklich hinter sich lassen kann.

Als ich angefangen habe zu recherchieren, ist mir aufgefallen, dass das Bild der Provinz kaum noch der Wirklichkeit entspricht: Man stellt sich immer noch eine idyllische Landschaft voller engstirniger Menschen vor. Dabei ist die moderne Provinz mit ihren endlosen Neubaugebieten, Satellitenschuesseln und Mobilfunkmasten laengst ein weltoffener Ort – und wahrlich nicht immer huebsch. Wer in den Siebziger- und Achtzigerjahren in der Provinz aufgewachsen ist, hat diesen Wandel voll miterlebt. Also habe ich ausgedehnte Touren durch Doerfer und kleine Staedte unternommen, mit anderen Ex-Provinzlern geredet und meine eigenen Erinnerungen mit diesem Material abgeglichen: War es wirklich so, dass die Kinos in den kleinen Staedten ploetzlich alle zu >Centern< wurden? Gab es tatsaechlich in fast jeder Fussgaengerzone einen >Teeladen<, in dem Raeucherstaebchen und Seidentuecher verkauft wurden? Und warum bauten sich ploetzlich alle Zahnaerzte Haeuser im skandinavischen Stil? Aus diesen Fragen habe ich dann kleine Geschichten gemacht. Besonders viel Literatur ueber die Provinz gibt es bisher nicht: In Deutschland, wo die Mehrheit der Bevoelkerung ausserhalb der grossen Staedte lebt, haelt man sich paradoxerweise an Berlin, Hamburg oder Muenchen, wenn man etwas ueber die Gesellschaft von heute herausfinden will. Ich finde das merkwuerdig: Ich glaube, dass wir viel mehr von dem Leben in Weilheim, Neu-Brandenburg oder Westerstede lernen koennten. Ich moechte genau hinsehen - und eines der Stilmittel, die ich dabei benutze, ist sicherlich die Ironie. Mir ist allerdings wichtig, dass ich mich nicht ueber die Provinz lustig mache. Ueberhaupt nicht! Ich glaube eher, dass ich sie besonders ernst nehme - und hoechstens die uneingeschraenkte Begeisterung fuer Berlin der Laecherlichkeit preis gebe. Superinteressant waren die Diskussionen, die ich mit Ostdeutschen ueber mein Buch gefuehrt habe: Sie haben vor der Wende eine andere Provinz als ich erlebt - und manche fanden es auch nicht besonders lustig, dass ich in den verlassenen Doerfern und vereinsamten Kleinstaedten der fuenf neuen Bundeslaender so etwas wie eine Vorschau auf die duestere Zukunft der gesamtdeutschen Provinz sehen wollte. Trotzdem, in einem Punkt konnte man sich einigen: Wer heute dreissig oder vierzig ist, leidet unter einem Gefuehl der Heimatlosigkeit. Als Ostdeutscher, weil es das Land namens >DDR<, in dem man aufgewachsen ist, nicht mehr gibt. Und als Westdeutscher, weil die Provinz in den Siebziger- und Achtzigerjahren ihre regionalen Unterschiede eingebuesst und sich von ihren einstigen Heimatstilen geloest hat. Ueberall die gleichen Neubaugebiete, Fussgaengerzonen und Gewerbeparks, Sonnenstudios, Videotheken und Lebensmitteldiscounter - Heimat ist jetzt ueberall und nirgends. Wenn man will, kann man von diesem Gefuehl der Heimatlosigkeit, das wohl jeder Provinzfluechtling schon einmal erlebt hat, auch eine Verbindungslinie zur Globalisierung ziehen: Wer sich ueberall in der Welt zu Hause fuehlen soll, ist nirgends wirklich zu Hause. Bezeichnenderweise steht im Mittelpunkt der so genannten Globalisierungsdebatte ausgerechnet eine zutiefst provinzielle Metapher: das >global village< bzw. das >globale Dorf<. Sowohl die Globalisierungsgegner als auch ihre Befuerworter arbeiten sich an der Vorstellung ab, dass die Welt keine unuebersichtliche, hektische und gefaehrliche Metropole ist, sondern, nun, ja, ein Dorf. Den einen gefaellt diese neue Ueberschaubarkeit, andere stoesst sie ab: >Klein, korrupt und langweilig, so haben wir uns die Welt nicht vorgestellt.< Aber wie haben wir sie uns eigentlich vorgestellt, damals, in der Provinz? Und wie stellen wir sie uns dort heute vor? Diese Frage finde ich so spannend, dass ich am liebsten gleich noch ein zweites Buch schreiben wuerde!

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