Auf der Zeitbohrinsel

Ich bin Choreograph und arbeite an einem Tanzstueck mit meinem Vater. Der erste Impuls dazu kam im letzten Jahr, als mein Vater mich fragte, ob ich ihn nicht in seinem Elternhaus besuchen moechte, um dort gemeinsam mit ihm im Garten die Kirschen zu pfluecken. Er hatte das schon oefter gefragt und ich hatte seine Einladung jedes Mal abgelehnt. Ich hatte nie Zeit – entweder war ich auf Gastspielreise oder probte gerade an einem neuen Stueck. Also ueberlegte ich, wie es moeglich waere, mehr Zeit mit meinem Vater zu verbringen, vielleicht nicht unbedingt Kirschen pflueckend, aber doch das mit Mitte 30 wiedergekehrte Beduerfnis befriedigend, meinem Vater und mir mehr Naehe zueinander zu ermoeglichen. Der praktikabelste Weg schien, meinen Vater in meinen Zeitplan zu integrieren, was nichts anderes hiess, als ein Stueck mit ihm zu machen. Als Pensionaer hat er viel Zeit, also sagte er zu. Ein Jahr lang trafen wir uns gelegentlich zur Vorbereitung und seit vier Wochen leben und arbeiten wir zusammen, um das Stueck zu kreieren.

Was mir dabei auffaellt, ist, dass mein Vater nicht nur altersbedingt in vielem langsamer ist als ich. Mir scheint, dass sein Zeitgefuehl anders eingestellt ist als meines. Er gibt den Aktivitaeten des Alltages eher die ihnen eigene Zeit und damit auch ihren Raum, waehrend ich zum Beispiel gerne mal das Brot ungetoastet esse, um Zeit zu sparen. Vielleicht liegt das daran, dass mein Vater in den 40er und 50er Jahren auf dem Land gross geworden ist und weniger Reizen ausgesetzt war als ich in meiner Kindheit in einer Grossstadt in den 70er und 80er Jahren. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass mein Vater als Pensionaer den Details des Tages mehr Aufmerksamkeit schenken kann als ich, der seine Arbeit und das Private in 24 Stunden unterbringen muss, noch dazu oftmals auf Reisen und dadurch staendig wechselnden Umgebungen und Alltagsbedingungen ausgesetzt. Da wird die Zeit oft knapp – was genau wie >Zeit sparen< eine eigenartige Redewendung ist: Als waere Zeit, aehnlich wie Oel, eine Ressource, die mir zur Verfuegung steht und derer ich mich zu einem bestimmten Zweck bediene. Dabei bin ich doch in der Zeit und mache sie gleichzeitig, indem ich ihren Verlauf durch den Rhythmus meiner Aktivitaeten und derer meiner Umgebung wahrnehme und gestalte. Dass dieses Zeit-Machen im Alter von 36 Jahren von beruflicher Aktivitaet gepraegt ist, ist in unserem Kulturkreis normal. Dass es in diesem Jahrtausend stark durch Telekommunikationstechniken wie Email und Mobiltelefon bestimmt ist, scheint ebenso normal zu sein. Allerdings wird mir langsam klar, dass Zeit keine dichte Menge ist, das heisst, auch wenn Zeit in tausendstel Sekunden messbar und selbst zwischen zwei tausendstel Sekunden noch Platz ist fuer etliche zehntausendstel Sekunden und so weiter, bleibt mir mit meinen mir gegebenen Mitteln der Zeitwahrnehmung und –gestaltung nur die Zeit, die ich tatsaechlich noch wahrnehmen und gestalten kann. Alles andere sind Denkspiele, die im Alltag nicht wirklich praktibal sind. Der Tag dauert so lange, wie er dauert, und ich bin so schnell beziehungsweise langsam, wie ich es eben bin. Im Tanzstudio jedoch koennen diese Denkspiele ueber die Zeit durchaus von Interesse sein. Waehrend ich bis Anfang dieses Jahres vor allem mit schnellen Wechseln und eher kurzen Szenen arbeitete, experimentiere ich jetzt damit, Bewegungen beziehungsweise Szenen mehr Zeit und Raum zu geben. Vielleicht ist das eine Reaktion auf meinen stark rhythmisierten Alltag mit schnellen Wechseln zwischen den einzelnen Aktivitaeten und zwischen den Orten ihrer Ausfuehrung. In jedem Fall faellt dieses generelle Interesse in meiner Arbeit jetzt damit zusammen, dass mein Vater langsamer ist als ich, und von daher die Bewegungen und Sezenen des Stueckes mit ihm mehr Zeit benoetigen, als wenn ich mit Performern meines Alters arbeiten wuerde. Und das ist es, was mich an der Arbeit mit meinem Vater interessiert: unsere unterschiedlichen Rhythmen und Geschwindigkeiten sichtbar machen und die entstehende Reibung ueber die Unterschiede zwischen den Generationen erzaehlen lassen, ohne jedoch Anekdoten aus unseren Leben zum Besten zu geben. Unsere Koerper mit ihren je eigenen Zeiten sprechen fuer sich.

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