Arbeitslos oder auf Arbeit – 30 Stunden pro Woche?

Statt in der Dauerkrise im Sektor der Leiharbeit aufzurüsten, sollte bei der Arbeitszeit abgerüstet werden, findet Berliner Gazette-Autor Patrick Spät. Nur so ließen sich die wenigen noch vorhandenen Arbeitsplätze verteilen – und neue schaffen. Ein Plädoyer für die 30-Stunden Woche.

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Kein Lebewesen arbeitet so viel wie der Mensch. Wir sind unangefochtene Meister darin, unsere Lebenszeit mit Arbeit zu vernichten. Zugegeben, es gab schon schlimmere Zeiten: Um 1871 waren die Arbeiter rund 72 Stunden pro Woche tätig, bis 1918 fiel die Arbeitszeit auf 48 Stunden wöchentlich, seit den 1960ern auf 40 Stunden. Und seitdem? Abhetzen auf Arbeit, aber Stillstand bei der Arbeitszeitverkürzung. Dabei wäre eine Reduzierung nicht nur möglich, sondern auch notwendig. Inzwischen hört man erste vorsichtige Rufe, die aber im Lärm der emsigen Büros und Fabriken zu verhallen drohen.

Die 40-Stunden-Woche ist nicht in Stein gemeißelt. Eine Studie des DIW kam zu dem Schluss, dass eine 30-Stunden-Woche von den meisten Erwerbstätigen als ideal angesehen wird. Vollzeitbeschäftigte wollen oft kürzere und Teilzeitbeschäftigte oft längere Arbeitszeiten. Niemanden ist damit gedient, wenn einige wenige 40, 50 oder 60 Stunden die Woche malochen und sich krummbuckeln – und der Rest arbeitslos ist. Teilt man die gleiche Arbeit unter vielen auf, können die Menschen nur gewinnen. Trotz steigender Arbeitslosigkeit siecht das Thema Arbeitszeitverkürzung in den Theorie-Schubladen vor sich hin. Weder Gewerkschaften noch Politiker trauen sich an das Thema heran; manch einer befürchtet wohl, als Faulenzer oder Arbeitsverweigerer abgestempelt zu werden.

Pro Zeitarbeit: Schwachsinn auf wenigen Zeilen

Im Grunde arbeiten wir ja nicht mehr, wir „jobben“. Sinnbild für das Jobben ist der Zeitarbeiter, der von Arbeitsstätte zu Arbeitsstätte tingeln muss. Die „Digitale Bohéme“ verdingt sich als Crowdworker und Handwerker versteigern ihre Arbeitskraft bei MyHammer. Der Zeitarbeiter ist der moderne Tagelöhner, ausgebeutet von Mercedes, Amazon und anderen Big Playern. Aber, aber: Leiharbeit ist doch prima – so jedenfalls stellt die „Bundesagentur für Arbeit“ die Verhältnisse auf ihrer Internetseite dar:

„Zeitarbeit bringt Ihnen viele Vorteile: Sie lernen dabei die unterschiedlichsten Tätigkeitsbereiche, Unternehmen und deren ‚Firmenkultur‘ kennen. Zudem haben Sie die Möglichkeit, sowohl fachlich als auch regional mobil zu sein. [!] ‚Zeitarbeit? Da werde ich doch nur ausgebeutet‘, ‚Hire and Fire‘, ‚Arbeit zweiter Klasse‘. Solche Ansichten spiegelten lange Jahre das Image der Zeitarbeit wider. Das hat sich gewandelt, die Branche wächst stetig. [!] Die Zeitarbeit […] ist in Deutschland gesetzlich geregelt. Sie haben bei einem Zeitarbeitsunternehmen die gleichen Rechte wie jeder Arbeitnehmer […]. Viele Unternehmen nutzen Zeitarbeit, um geeignete Mitarbeiter zu finden. [Ach so?] Sie lernen viele Menschen, die unterschiedlichsten Tätigkeiten, Unternehmen und deren ‚Kultur‘ kennen, kurz: Sie gewinnen Berufserfahrung. Die Bewerbung ist relativ unproblematisch und unbürokratisch. Sie bekommen, bei passender Qualifikation, schnell Arbeit. Zeitarbeit kann zum Dauerjob [!] werden, wenn Ihnen die Einsätze bei verschiedenen Arbeitgebern und Branchen liegen.“

Wie viel Schwachsinn kann man auf so wenigen Zeilen eigentlich unterbringen? Wir haben hierzulande ein Heer von ausgebeuteten Tagelöhnern. In den letzten zehn Jahren stieg die Zahl der Leiharbeiter um 179 Prozent auf insgesamt fast eine Million Beschäftigte. Erinnern wir uns: Bis 1967 war Zeit- bzw. Leiharbeit (die Ausdrücke bezeichnen das gleiche, also die Arbeitnehmerüberlassung) in Deutschland verboten. Leiharbeit galt bis dahin als unmoralisch, ja, verdächtig wegen des NS-Faschismus, der mit Zwangsarbeit seine Vernichtungskriege realisierte. Dann aber kündigte sich die Ölkrise an – und der Motor musste irgendwie geölt werden, damit er wieder an Fahrt gewinnt. Doch irgendwie kam das ganze nicht mehr recht ins Rollen: Betrug die Arbeitslosenquote 1970 noch 0,7 Prozent, so lag sie 1975 bereits bei 4,7 Prozent, zehn Jahre später waren es 9,3 Prozent.

Weniger Arbeitszeit statt mehr Zeitarbeit

Eine (Teil-)Lösung für das Dauerproblem Arbeitslosigkeit – und das Heer der Tagelöhner – liegt nicht im Ausbeutungssystem Zeitarbeit, sondern in einer Reduzierung und damit Umverteilung der Arbeitszeit: Mit einer 30-Stunden-Woche könnten (a) viele Menschen den entwürdigenden Lebensumständen als Arbeitslose entkommen und ihre Bedürfnisse befriedigen, (b) die immensen ALG-Kosten der Sozialkassen gesenkt werden, (c) die ebenfalls immensen Kosten der Krankenkassen gesenkt werden (Stichwort: Überarbeitung Burn-Out), (d) ältere Menschen länger am Arbeitsplatz bleiben (Stichwort: Altersteilzeit) und (e) die Menschen schlicht mehr Freizeit für sich und ihre Familie und Freunde haben. Und: Eine 30-Stunden-Woche würde sicherlich mehr Arbeitsplätze schaffen:

Den Daten des „Institut für Arbeit- und Berufsforschung“ zufolge betrug 2012 das Arbeitsvolumen aller Arbeitnehmer in Deutschland 48.184.000.000 Arbeitsstunden, davon wurden ganze 39.957.000.000 Stunden in Vollzeit geleistet. Von 37.067.000 Arbeitnehmern bundesweit waren 24.295.000 in Vollzeit beschäftigt. Würde man das Arbeitsvolumen der Vollzeit-Beschäftigen auf Teilzeit-Kräfte runterbrechen, dann könnten 29.597.778 Menschen die gleiche Arbeit erledigen. (Rechnung: 225 durchschnittlich geleistete Arbeitstage jährlich x 6 Arbeitsstunden am Tag = 1.350 Arbeitsstunden jährlich. Arbeitsvolumen Vollzeit 39.957.000.000 Stunden / 1.350 Arbeitsstunden = 29,58 Millionen Arbeitnehmer.)

Fehlende starke Hand des Staates

Folglich könnte man über 5,3 Millionen Menschen mehr als Arbeitnehmer beschäftigen. Umgekehrt würden Millionen von Arbeitsplätzen wegfallen, wenn plötzlich alle in Vollzeit arbeiten würden. Durch eine 30-Stunden-Woche könnte man die Arbeitslosenzahl massiv eindämmen – und zudem etliche nicht erfasste Ein-Euro-Jobber, Mini-Jobber und am Existenzminimum lebende Selbstständige einen gesicherten Arbeitsplatz bieten.

Klar: Bei dieser (Noch-)Illusion ist der Gesetzgeber gefragt: Zum einen bedarf es eines angemessenen gesetzlichen Mindestlohns, zum anderen einer neuen Definition der Vollzeit, also einer 30-Stunden-Woche. Diese Schritte wären deshalb notwendig, weil kaum ein Arbeitgeber „freiwillig“ mehr Beschäftige einstellt; Teilzeit ist daher oft unbeliebt, denn je weniger Arbeitskräfte er oder sie hat, desto mehr Profit erwirtschaftet er. Hier bedürfte es einer gerechten Angleichung der Lohnnebenkosten und deutlicher Gesetze. Klarerweise brächte es also statt einer „unsichtbaren Hand der Märkte“ einer starken Hand des Staates. Noch aber legt der Staat die Hände in den Schoß.

Anm.d.Red.: Foto von Benjamin Breitkopf / cc by 2.0

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