Arbeitskämpfe in Europa: Neubeginn einer Bewegung oder letztes Aufbäumen?

Madrid, Paris, Brüssel: In zahlreichen europäischen Ländern kommt es seit Ausbruch der Covid-19-Pandemie zu einer ungewöhnlich hohen Zahl an Arbeitskonflikten, darunter Streiks in Fabriken, Logistikunternehmen und Dienstleistungsbetrieben. Der Politikwissenschaftler Jörg Nowak erforscht in seinem Beitrag die aktuellen Arbeiter*innenkämpfe und zeichnet nach, was für erstaunliche – häufig jedoch kaum beachtete – Dinge seit März 2020 in Europa passiert sind. Ein Streifzug.

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In einer ersten Phase traten die Streiks vor allem im Gesundheitsbereich und in großen Lagerhäusern wie etwa von Amazon auf, und in einer zweiten Phase verstärkt in Fleischfabriken und in der Landwirtschaft. Insofern waren die seit der Pandemie als „essentiell“ bezeichneten Bereiche besonders betroffen – nicht zuletzt, weil es dort während der Lockdowns eine besonders starke Arbeitsbelastung gab und Schutzmaßnahmen für die Arbeiter*innen häufig unzureichend waren.

Das betraf vor allem den Gesundheitsbereich – in mehreren europäischen Ländern waren um die 10 % aller mit dem Coronavirus Infizierten Arbeitende aus diesem Sektor, und Schutzkleidung war nicht ausreichend verfügbar. Es ist geradezu zynisch, dass in den nun als essentiell definierten Sektoren die Arbeit bereits vor der Pandemie besonders schlecht bezahlt und gesundheitsgefährdend war, und dies hat sich während der Pandemie eher verschlechtert.

Streiks im Gesundheitssektor – in ganz Europa

Die französische Regierung ließ konsequenterweise Proteste von Arbeiter*innen aus dem Gesundheitssektor am 16. Juni 2020 unter Verweis auf die Regeln zur sozialen Distanzierung von der Polizei niederknüppeln – allein in Paris waren 18.000 auf die Straße gegangen. In Madrid kam es im Juli 2020 zu einem zweiwöchigen Streik von 1000 Ärzt*innen gegen befristete Verträge und niedrige Bezahlung, und in Belgien, Bulgarien und Rumänien haben Pflegekräfte in Krankenhäusern mehrfach gegen schlechte Arbeitsbedingungen protestiert.

Andere als essentiell bezeichnete Sektoren sind die Agrar- und Nahrungsmittelindustrie, Lieferdienste und Onlinehändler, Frachttransport und der öffentliche Nahverkehr. Auch hier kam es zu zahlreichen Protesten: In Italien und Spanien kam es zu Streiks von meist migrantischen Landarbeiter*innen. Im Juni 2020 wurden 300 von 600 Lidl-Filialen sowie alle zehn Logistikzentren des Lidl-Konzerns in Spanien bestreikt, da die Gesundheitsvorkehrungen am Arbeitsplatz unzureichend waren.

Logisitikzentren von Amazon in Frankreich wurden bereits Ende März bestreikt, und in Italien kam es zu vielfältigen Protesten in der Logistik, zum Beispiel beim Konzern TNT. In Brüssel gab es im Mai 2020 einen umfangreich befolgten Streik im Nahverkehr, wiederum gegen fehlenden Gesundheitsschutz. Hier hatte die Gewerkschaft ein Abkommen mit den Arbeitgebern geschlossen, ohne sich mit der Belegschaft abzustimmen, und so kam es zum wilden Streik.

Arbeitskämpfe in der Industrie

Aber auch in der Industrie gab es einige größere Konflikte: Tata Steel in IJmuiden in den Niederlanden wollte im Juni 2020 1000 von 9000 Beschäftigten entlassen. Nach 25 Tagen Streik war das Ergebnis, dass es bis zum Jahr 2026 keine Entlassungen geben wird. In Spanien, in der Sonderwirtschaftszone Montcada bei Barcelona, haben die Angestellten des dortigen Nissan-Werkes fast 100 Tage lang gegen die Schließung ihres Werkes gestreikt. Diese konnten sie nicht verhindern, sondern lediglich in einem Anfang August abgeschlossenen Abkommen bis zum Dezember 2021 hinauszögern. Während die etwa 2400 Festangestellten Sozialpläne bis zur Rente erhalten, sind die 1500 Leiharbeiter*innen nicht darin einbezogen, und einige der Tausenden Angestellten bei Nissan-Zulieferern sind seit August 2020 im Streik, zum Beispiel 500 Arbeiter*innen der Firma Acciona.

Insofern kann man zweifelsfrei festhalten, dass Arbeitskonflikte während der Pandemie weit verbreitet waren und sind, aber bedeuten sie einen Aufbruch der europäischen Arbeiterklasse oder lediglich ein kurzzeitiges Aufflammen in einer Krisensituation? Besonders in Großbritannien kam es zu zahlreichen wilden Streiks in der Bauindustrie, Logistik, der Fleischindustrie und in der lokalen Verwaltung – unter anderem wegen der hohen rechtlichen Hürden und Einschränkungen bei offiziellen Streiks.

Viele der Streiks während der Coronakrise wurden von den Belegschaften selbst geführt und kleinere Gewerkschaften und Basiskomitees spielten eine große Rolle in den Konflikten. Insofern gibt es durchaus Zeichen für eine Wiederbelebung der Basisaktivitäten in den Betrieben. Auf der anderen Seite ist das erhöhte Konfliktpotential von Seiten der Arbeiter*innen angesichts der schon begonnenen und noch zu erwartenden Stellenstreichungen und Lohnsenkungen eher noch zu gering, um eine alternative Perspektive durchzusetzen.

Umstrukturierungen im Schnelldurchlauf

Besonders bei Fluggesellschaften werden Tausende Stellen gestrichen, viele Dienstleistungssektoren wie Tourismus, Restaurants und Hotellerie sind vollkommen eingebrochen und es zeichnet sich jetzt schon ab, dass das Kapital die Coronakrise nicht nur für umfangreiche Entlassungen, sondern auch für erhöhten Technologieeinsatz nutzen wird. Die Coronakrise erlaubt es Unternehmen, lang geplante Sparmaßnahmen und erhöhten Technikeinsatz recht schnell einzuführen.

Diese massiven strukturellen Veränderungen werden sich in den nächsten 18 Monaten bemerkbar machen, ebenso wie eine Pleitewelle bei kleinen und mittleren Unternehmen, von denen etwa 20 Prozent schon vor der Pandemie quasi pleite waren und sich als Zombieunternehmen gerade noch über Wasser hielten. Die Europäische Kommission ging im Mai 2020 davon aus, dass Unternehmen in Europa im besten Fall 720 Milliarden Euro bis zum Endes des Jahres verlieren werden und dass bis dahin ein Viertel aller Unternehmen mit mehr als 20 Angestellten in Europa Pleite sind und nicht mehr auf flüssiges Kapital zurückgreifen können – auch dann, wenn Löhne subventioniert werden.

Die reale Entwicklung seit Mai verlief um einiges schlechter, als in dieser Studie der Kommission angenommen wird. Das bedeutet, dass Unternehmen nicht investieren werden: die Europäische Investitionsbank geht davon aus, dass private Investitionen um mehr als die Hälfte fallen werden. Die Europäische Kommission konnte sich im Juli nicht auf staatliche Hilfen für Unternehmen einigen, daher wird es nationale Lösungen zur Hilfe von Unternehmen geben, was ein europäisches Handeln der Arbeiter*innenbewegung erschwert.

Diese Situation wird die Unternehmen in die Lage versetzen, mit realen Verlusten zu argumentieren, um die Arbeitswelt radikal nach ihren Interessen umzugestalten. Egal ob auf europäischer oder auf nationaler Ebene, diese Situation erfordert Alternativkonzepte auf politischer Ebene im Interesse der Arbeitenden – daher reicht eine Streikwelle an der Basis nicht aus, um dem Kapital etwas entgegenzusetzen.

Uberisierung der Arbeitswelt

Wenn die Arbeiter*innenbewegung in Europa als Antwort auf diese schon begonnene und noch anstehende Welle der Entlassungen in den nächsten sechs Monaten keine gut organisierten Ansätze der Gegenwehr sowie Alternativkonzepte entwickelt, wird sie sich in einer Welt wiederfinden, die sie kaum wiedererkennen wird. Besonders gut bezahlte Stellen in der Industrie werden noch rarer und der Bereich der persönlichen Dienstleistungen wird eine weitere Verschlechterung bzw. eine weitere „Uberisierung“ erleben mit noch mehr Scheinselbständigkeit und Arbeit auf Abruf – ein Modell, das heute schon Lieferdienste und das LKW-Gewerbe prägt.

Insofern geht es für so etwas wie den europäischen Sozialstaat, den die Arbeiterbewegung einst erkämpft hat, definitiv ums Überleben.
Bisher ist im Gefolge der Coronakrise weder auf der Ebene von Alternativkonzepten noch auf der Ebene europäischer transnationaler Koordination viel passiert – die Coronakrise und der anstehende ökologische Umbau würden jede Menge Steilvorlagen für konstruktive Gegenkonzepte bieten, aber solche Gelegenheiten müssen auch ergriffen werden. Mit dem allmählichen Abflauen der Corona-Infektionen bietet sich vielleicht auch die Gelegenheit, der Offensive des Kapitals etwas entgegenzusetzen. Deutlich ist jedenfalls, dass sehr schwierige Bedingungen auf die Arbeiter*innenklasse in Europa (und auch anderswo) zukommen, aber solch eine Zuspitzung kann auch die Gelegenheit bieten, die aktuelle Produktionsweise abzuschaffen und die drohende Klimakatastrophe abzuwenden.

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