Gesellschaft auf Speed: Vom Mitlaufen und Mitdenken in der digitalen Revolution

Eine Welt ohne Digital? Selbst für Digital Immigrants wird die Zeit vor dem WWW immer verschwommener. Es sind zwei Welten entstanden: die vor und eine nach der digitalen Revolution. Politikwissenschaftler André Wilkens ist Digital Immigrant und blickt zurück auf den digitalen Wandel. Er beschreibt die Zeit des Internets als es noch nicht durchzogen war vom Kapitalismus, als Anarchie und Utopie herrschten, bis heute, wo alle und alles eine Website haben und eine neue Welt entstanden ist. Das Protokoll eines Mitläufers in der digitalen Revolution.

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Ich bin analog aufgewachsen, meinen ersten Computer habe ich 1988 versucht zu bedienen. Meine Diplomarbeit habe ich in Potsdam auf einer Schreibmaschine geschrieben, meine Masterarbeit auf einem weißen Würfel-Mac in London. Bei meinem ersten Job in Brüssel lief alles noch über Hauspost und Fax. Es gab in unserer Abteilung einen Mann, der Computer bedienen konnte, eine Kombination aus Sekretärin und EDV-Experten, ein Einäugiger unter den Blinden. Meine erste E-Mail schrieb ich 1993, das WWW gab es schon, aber der Zugang an meinem Arbeitsplatz war beschränkt auf Mitarbeiter in der IT-Abteilung. Man hatte Angst, dass alle Mitarbeiter nur auf Porno-Webseiten unterwegs sein würden.

Dann ging es Schlag auf Schlag, jede Organisation musste eine Webseite haben, Onlinebanking, Blogs, Facebook, iPads, News… Ich bin ein Fan dieser Entwicklung, beinahe wäre ich selber mal Fast-Internet-Milliardär geworden, dann kam Snowden… Ich bin in den letzten 30 Jahren vom Analogen ins Digitale hineingewachsen, ich kenne noch beide Welten. Ich habe mich gefreut wie Bolle, als ich in Ostberlin meinen eigenen Telefonanschluss zugeteilt bekam, habe auf Schreibmaschinen getippt, habe in Lexika nachgeschlagen, bin in Bibliotheken gegangen, habe lange Liebesbriefe geschrieben und erhalten, bin mit Landkarten ans Ziel gekommen und habe mich mit und ohne Landkarten verfahren.

Als ich 1989 das erste Mal sah, wie ein Faxgerät funktioniert, konnte ich kaum fassen, dass Texte innerhalb von Minuten über Tausende Kilometer an einen anderen Ort gebeamt wurden. Diese Art 2D-Printing war wie Science-Fiction. Nachdem ich versehentlich mit frisch gepresstem Orangensaft die Tastaturen von 5 Universitätscomputern ruiniert hatte, war es 1992 Zeit für den ersten Siemens-Nixdorf-Klapprechner, ein Wunderwerk und ungefähr noch so schwer wie meine Adler Reiseschreibmaschine. Ich war unabhängig. Wunderbar. Ähnlich ging es mir 1998 mit meinem ersten Telefonino (ich lebte da gerade in Turin).

Digital: zum Anfassen schön

Mit meinem ersten Blackberry gehörte ich 2003 dann zu den wichtigen Leuten, die ständig erreichbar sein mussten, da sonst unabdingbar die Welt nicht funktionieren würde. Mit MacBooks und iPhones wurde Digital auch zum Anfassen schön. Sie funktionierten, man brauchte keine Bedienungsanleitung und man wollte sie anfassen. Für meine Frau war ihr erstes iPhone eine Zeitenwende. »Es ist das erste Mal, dass ich Technik liebe.« So ging es mir 2008 mit meinem ersten Mac- Book. Und dann kam das iPad, Technik, die intuitiv, geradezu menschlich funktionierte. Auf einmal konnte ich mir vorstellen, Texte, Zeitungen und Filme auf einem Computerbildschirm zu konsumieren, was ich vorher nicht gemacht hatte.

Computer, auch Macs, erinnerten mich immer noch vor allem an Arbeit. iPad war anders. Ich nutzte eine Dienstreise in die USA, um mir 2010 eines der ersten iPads zu kaufen. Heute ist das schon fast Vintage. Neben der immer schöneren Hardware gab es noch andere digitale Dinge, die wirklich clever und nützlich waren. Für mich waren das von Anfang an die sozialen Medien. Als jemand, der in den letzten 20 Jahren in 5 Ländern gelebt, in vielen mehr gearbeitet und überall dort Freunde, Kollegen und Bekannte hat, war Facebook für mich sofort eine wunderbare Möglichkeit, mit allen in Kontakt zu bleiben, sich auszutauschen, andere Perspektiven zu gewinnen. Ich sehe und benutze Facebook als meine Öffentlichkeit, meinen persönlichen Thinktank, zusammen betrieben von meinen Freunden und mir. Ich bin drin. Ich fühl mich gut, ich steh auf Digital.

Meine Kinder sind digital natives, für sie gibt es keine Welt ohne Digital. Sie können sich eine Welt ohne Internet und iPads so wenig vorstellen wie ohne Elektrizität oder fließendes Wasser. Wie sieht unser Alltag heute aus? Wir stehen auf, duschen, frühstücken, während wir schon mal auf Facebook und Twitter checken, was es Neues in der Welt gibt. Die Kids spielen auch schon mal Angry Bird und chatten mit Freunden über dies und das, auch Schule. Dann geht’s zur Arbeit, in der S-Bahn checken wir weiter Social Media und die News. Kaum einer guckt noch aus dem Zugfenster, alle haben ihr eigenes Fenster in die Welt.

Offline? Online!

Im Büro sind wir dann erst recht permanent in irgendwelche Systeme eingeloggt, die Updates geben und uns irgendwo hinschubsen. Auf dem Nachhauseweg wiederholt sich das morgendliche Ritual und abends schauen wir online Filme, skypen mit jemandem, buchen Flüge, machen Onlinebanking, oder kaufen vielleicht online ein. Jeden Tag google ich 80 bis 100 Mal. Das ist mein Anteil an den circa 3,5 Milliarden Suchanfragen, die Google täglich erreichen. Wir sind praktisch nie offline.

Erinnert sich noch jemand an Second Life, die Plattform, die mal the next big thing war, und wo man online sein erträumtes Lieblingsleben führen konnte? Sie ist verschwunden, weil unser First und Second Life zusammengewachsen sind. Wir leben in der digitalen Welt, Punkt. Digital ist ein Wundermittel, Arbeitsmittel, Heilmittel, Rauschmittel, Aufputschmittel, Entspannungsmittel, Zerstreuungsmittel, eine Droge. Alles in einem und je nach Betrachtungsweise. Man gibt es irgendwo dazu und fast sofort wird alles schneller, besser, effizienter, flacher und meist kleiner. Und irgendwie wird auch alles immer mehr.

Digital hat uns schlauer gemacht, durch Google und Wikipedia haben wir auf alles schnell eine Antwort und zu allem eine Meinung. Durch Skype kann jeder mit Freunden und Verwandten über Kontinente hinweg stundenlang reden, ohne Angst vor horrenden Telefonrechnungen zu haben, und dies auch noch in Bild und Farbe. Laptops, Tablets und Handys machen es möglich, nicht nur vom Büro aus, sondern auch in Parks, Cafés oder zu Hause zu arbeiten. Wir können aus dem aktuellen Buchangebot der ganzen Welt auswählen, auch in Originalsprache, und uns die Bücher bequem nach Hause schicken lassen. Und das funktioniert eigentlich mit fast allen Dingen.

Die Errungenschaften des Digitalen

Wahrscheinlich kann man auch einen Privatjet online bestellen. Haben wir zu viel gekauft, können wir, was wir nicht mehr brauchen, auf Ebay anbieten und gleich noch einen Designerstuhl zum halben Preis ersteigern. Wir müssen nicht mehr drögen Fernsehprogrammen folgen, sondern stellen uns unser eigenes Bildschirm-Programm zusammen, inhaltlich und zeitlich passgenau. Nachrichten erhalten wir dann, wenn wir sie brauchen, und nicht nur mit der Morgenzeitung und den Tagesthemen. Um auf der Höhe der Tagespolitik zu sein, braucht es kein teures Abo für die FAZ oder eine andere Tageszeitung. Und dank Google Maps und GPS benötigen wir auch keine Stadtpläne und Landkarten mehr, kommen aber trotzdem stressfreier und pünktlicher ans Ziel.

Wann immer wir etwas Zeit haben, können wir spielen, wir brauchen dazu weder Schachbrett noch Mitspieler. Jeder kann immer genau die Musik hören, die er in dem Moment gerade gut findet. Das gleiche gilt für Filme und Videos. Alles kann durch ein paar Fingerbewegungen erledigt werden, es gibt keinen Grund, sich Kälte, Hitze, Wind, Staub oder der Hektik des Tages auszusetzen.

Dank digitaler Handys können wir jeden dauernd erreichen, wir brauchen uns weniger Sorgen darüber zu machen, wo unsere Kinder sind, wir können uns entschuldigen, wenn wir wieder zu spät zu einem Termin kommen, ohne dass es zu unprofessionell aussieht, wir können Reisezeiten nutzen, um notwendige Telefonate zu erledigen. Durch Facebook, Twitter, Weibo, YouTube, Skype und unzählige Blogs ist eine Art globale Öffentlichkeit entstanden, die es früher so nicht gab oder nur in Ansätzen unter Eliten. Es bilden sich globale Meinungen zu globalen Ereignissen, Mode, Musik und Sport, die bisher nur national durch Medien geschaffen werden konnten.

Digitales Zeitalter: Jahr 330 nach Leibniz

All das und viel mehr haben wir Digital zu verdanken. Was ist Digital überhaupt? Eine Definition könnte man in zwei Zeichen oder in Buchlänge geben. Dazwischen ist viel Interpretation. Fangen wir beim Wort an. Digital bedeutet so viel wie »Zahl« und leitet sich aus dem lateinischen Wort d i g i t u s = Finger ab. Digital basiert auf der Umwandlung von elektrischen Signalen in binäre Zeichen. Daten werden durch Digital als eine Reihe von Einsen und Nullen dargestellt. Dies ermöglicht die Produktion, Vernetzung, Distribution und den Konsum von Daten. Ich verstehe und benutze Digital im Weiteren als Sammelbegriff für vernetzte Informationstechnologie, die auf der Programmierung von Zahlen basiert.

Mein Verständnis von Digital ist gesellschaftlich und kulturell. Technische Definitionen können andere besser. Es geht mir um die Anwendungen und Folgen von Digital. Wen eine spannend geschriebene Abhandlung der Geschichte von Digital in Buchlänge interessiert, dem kann ich »Turing’s Cathedral: The Origins of the Digital Universe« des Technikhistorikers George Dyson empfehlen, der die Ursprünge der Digitalisierung auf Gottfried Wilhelm Leibniz zurückführt. Der Leipziger Digitalpionier Leibniz entdeckte schon 1679, dass sich Rechenprozesse mit einer binären Zahlencodierung durchführen lassen, und sich dadurch die Prinzipien der Arithmetik mit den Prinzipien der Logik verknüpfen lassen. Dies ist die Basis, auf der Digital funktioniert.

Wir leben im Jahr 330 nach Leibniz. Um Digital zu nutzen, brauchte man dann noch die entsprechende Maschine. Was man einen Computer nennt. Der erste Computer war ein Berliner. Der Berliner Ingenieur Konrad Zuse entwickelte 1941 einen funktionstüchtigen, vollautomatischen, programmgesteuerten Rechner mit Speicher und einer aus Telefonrelais bestehenden Zentralrecheneinheit. Dieser Rechner mit dem Namen Z3 wird als erster funktionsfähiger Computer der Welt bezeichnet. Einen funktionstüchtigen Nachbau kann man sich im Deutschen Museum in München ansehen. Danach wurden programmgesteuerte Computer in den USA, Deutschland, Polen und der Sowjetunion gebaut.

Zuse und Gates: Evolution des Computers

Der Wettlauf um die beste und schnellste Rechenkapazität hatte begonnen, und damals spielte Europa mit Siemens, Telefunken und Robotron noch eine Rolle. 1968 stellte Hewlett-Packard dann den ersten Personal Computer vor, bis dahin hatten Computer eher Zimmergröße. Was damals einen riesigen Raum ausfüllte und nur von speziellem Personal bedient werden durfte, passt heute auf ein mittelmäßiges Smartphone. Die technischen Entwicklungen der 1960er-Jahre waren der Anfang der digitalen Zeitenwende. Die Befreiung des Menschen von geistigen Tätigkeiten hatte begonnen. 30 Jahre nachdem der damalige IBM-Chef Thomas J. Watson prognostiziert hatte, dass es nur einen Weltmarkt für insgesamt 5 Computer gäbe, stellte IBM 1975 den ersten tragbaren Computer vor.

IBM und Co. bauten dann immer bessere Computer, aber der junge Bill Gates erkannte, dass Computer nur die Hülle für ein noch nicht existierendes Nervensystem waren, das er dann 1980 für IBM unter der Bezeichnung Microsoft DOS und später als Windows für die ganze Welt entwickelte. Microsoft ist immer noch das meistbenutzte Operating-System der Welt und Bill Gates der reichste Mann auf Erden. Die nächste große digitale Zeitenwende kam mit der Erfindung des Internets, also der Vernetzung von Computern und Daten zu einer quasi zweiten Welt, die es vorher gar nicht gab.

Interessanterweise entstand das Internet Anfang der 1960er- Jahre im Umfeld von Wissenschaftsinstituten, die sich mit staatlicher Militärforschung beschäftigten und nach einer Möglichkeit suchten, sich über Computer sicher miteinander zu vernetzen. Dieses Ur-Internet weitete sich in der Wissenschaftsgemeinde aus, blieb aber auch lange innerhalb dieser Gemeinde ein geheimer Ort. Ab 1971 wurden über dieses Ur-Internet erste Mitteilungen verschickt. 1984 kam die erste E-Mail in Deutschland an, an der Uni Karlsruhe. Dass im Vergleich dazu heute, so schätzt man, 180 Milliarden E-Mails am Tag verschickt werden, ist schon verrückt.

Anarchie und Utopie bis der Kapitalismus kam

Ab 1990 konnte das Internet auch außerhalb von Universitäten verwendet werden. Der Brite Tim Berners-Lee entwickelte 1989 am CERN in Genf die Grundlagen des World Wide Web, das ab Sommer 1991 weltweit verfügbar war. Aber so richtig los ging es erst 1993, als der erste grafikfähige Webbrowser namens Mosaic zum kostenlosen Download angeboten wurde. Erst dies ermöglichte die Darstellung von Inhalten des WWW. Von da an konnte das Internet auch von Technik-Laien wie mir genutzt werden. Ich erinnere mich an die ersten Webseiten: viel unterstrichener Text und ein bisschen Grafik. Die meisten sahen aus wie schlechte PowerPoint-Präsentationen und man wartete oft eine Minute und länger, um von einer Webseite zur nächsten zu gelangen. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen.

Dieses Internet war am Anfang ein eher anarchistischer Ort, fast eine Utopie, in der alles frei und kostenlos war. Es hatte tatsächlich etwas von einem Gemeingut, einem freien Ort, ohne Regeln, ohne Eigentum, ohne Macht. Das Ur-Internet wurde von Hippie-Nerds aus Kalifornien und anderswo gebaut, die es lange schafften, die Regeln der ersten realen Welt aus dieser neuen digitalen Welt herauszuhalten. Mathematik, Anarchie, Science-Fiction und Pioniergeist trafen zusammen. Davon zeugen auch die Logos der Internet-Digitalen. Schauen Sie sich die Logos von Apple und Google und den Facebook-Daumen an, alles Spaß-Logos im Vergleich zu Ford, Siemens und IBM.

In seinen Geburtsjahren war das Internet eine fast kapitalismusfreie Zone. Es dauerte ein paar Jährchen, bis sich die Hippie-Nerds ausgetobt hatten und der Kapitalismus auch das Internet eroberte. Aber dann ging es auf einmal gigantisch schnell. Zwischen 1997 und 2000 gab es eine regelrechte Blase. Alle Leute unter 30 wollten auf einmal durch das Internet möglichst schnell und leicht reich werden. Alles schien möglich. Und es gab viele Investoren, die Millionen verwetteten für Ideen, die 1 Punkt und die 3 Buchstaben »com« beinhalteten. Erinnert sich noch jemand an Pixelpark, EM.TV, Gigabell? Dies waren die ersten Amazons und Zalandos der neuen digitalen Ära. Der bedeutendste Internet- Anbieter seiner Zeit, AOL, war auf einmal so viel wert, dass er sich eines der größten Medienhäuser der Welt, Time Warner, kaufen konnte.

Die Blase platzte. Es war zu viel Ramsch darunter. Die unwirtschaftlichen Ideen blieben auf der Strecke. Übrig blieben die Leute mit einem echten Plan und mit Stehvermögen, die wahren digitalen Kapitalisten, die heutige digitale Aristokratie. Sogar in Brüssel, wo ich damals lebte, und das weder damals noch heute eine High-Tech-Hochburg war und ist, gab es um die Jahrtausendwende jeden Monat »first tuesdays«, wo sich Leute mit Dotcom-Ideen mit Investoren trafen und gleich vor Ort Deals machten. Ich arbeitete damals für eine große amerikanische Werbeagentur, die früh erkannte, dass das Internet den Werbemarkt revolutionieren würde.

Big Data und die Lehrjahre des digitalen Kapitalismus

Unsere Werbestrategen sahen eine Zeit voraus, in der jeder Konsument auf Grundlage seines täglichen Verhaltens im Internet – und der Spuren, die er dabei hinterlässt – persönlich auf ihn zugeschnittene Werbung erhalten würde. Einfach indem die Werber diese Spuren einsammeln, auswerten und zu Kundenprofilen zusammenstellen, die dann passgenaue Werbung ermöglichen. Das war die Erfüllung des Traumes vom Direct-Marketing, das bis dahin per Post und mit riesiger Streuung eher schlecht als recht veranstaltet wurde. Jetzt konnten wir Werber unser Know-how im Datenmanagement nutzen, digitalisieren und ausbauen. Der Wert von Daten war uns schon damals, lange vor der Diskussion um Big Data, bewusst.

Fast wäre ich in dieser Zeit selber Internet-Unternehmer geworden, vielleicht sogar Internet-Milliardär. Meine Idee hieß My Paper und stellte Nutzern ihre eigene Zeitung zusammen, auf Basis ihrer Präferenzen (zum Beispiel Politik in Englisch aus dem Guardian, Kultur in Deutsch und Englisch, Sport in Italienisch aus Gazzetta dello Sport, Vermischtes aus der Bildzeitung etc.). Auf der Grundlage einer damals neuen Software konnten wir nicht nur eine Liste von Links liefern, die einen dann zu einer anderen Webseite schickten, sondern die aggregiert zusammengestellten Artikel auch so formatieren, dass das finale Produkt tatsächlich wie eine Zeitung aussah. Das war 2000, dann platzte die Dotcom-Blase und es gab keinen müden Franc mehr für eine Internet-Idee.

Nicht nur bei personalisierten Medien dauerte es noch ein bisschen, bis sich digitale Geschäftsmodelle wirklich durchgesetzt hatten. Am Anfang stand der Versuch, über Werbung Geld zu verdienen, später durch Shopping ohne physische Einkaufsfläche. Dies kann man als die Lehrjahre des digitalen Kapitalismus bezeichnen. Seit ein paar Jahren dreht sich nun alles darum, was man mit den vielen gesammelten Nutzerdaten alles machen kann, nämlich viel mehr als nur Werbung und Bücher zu verkaufen. Data ist Big, Big Data. Jeder Mensch hinterlässt jeden Tag durch die Nutzung digitaler Medien unzählige Spuren und gibt so, gewollt oder ungewollt, Auskunft über seinen Standort, seine Freunde, seine Überzeugungen, über seinen Konsum, über ganz wesentliche Aspekte seines Lebens.

Das hat er vorher auch getan, aber es war wie Luft, »im Winde verweht« oder auch Abfall des Lebens. Im Digitalen Zeitalter wird dieser Abfall wertvoll und deshalb abgesaugt. Alles wird registriert, aufgezeichnet, vernetzt. Nichts geht verloren. Daten sind der Rohstoff und Treibstoff von Digital. Ein Bericht des World Economic Forums in Davos2 bezeichnet persönliche Daten als das neue Öl, als die Ressource des 21. Jahrhunderts. Und im Unterschied zu Öl lassen sich Daten problemlos fördern, es gibt sie überall, sie verschmutzen die Atmosphäre nicht und finanzieren keine autoritären Regime. Es ist wie im Märchen, wo die Goldmarie aus Stroh Gold spinnt.

Wir haben eine Digitale Revolution miterlebt, die unsere Arbeitswelt, aber auch unsere private Welt, unsere sozialen Beziehungen, unsere Konsumption von fast allem und in der Folge eigentlich unser ganzes Leben total umgekrempelt hat, in nur 25 bis 30 Jahren. Für mich als Ostberliner war der Fall der Berliner Mauer das bisher prägendste Erlebnis meines Lebens. Aber im Vergleich zur Digitalen Revolution war dies nur ein lokales politisches Ereignis mit relativ geringfügigen Auswirkungen. Die Digitale Revolution hat die ganze Welt erfasst und hält sie auf Trab.

Wie das digitale Bedürfnisse schafft

Die Industrielle Revolution hatte eine ähnlich tiefgreifende Wirkung, brauchte dafür aber über 200 Jahre. Im Verlauf hat sie unter anderem die Spinning Jenny, den Manchester-Kapitalismus, die Eisenbahn, die Titanic, Adam Smith, Max Weber, Marx/ Engels/Lenin und erste Sozialgesetze hervorgebracht. Digital ist wie die Industrielle Revolution, aber auf Speed. Waren im Industriezeitalter Kohle, Öl und Stahl die entscheidenden Faktoren, sind es heute die Daten. Und Daten können wir unendlich produzieren. Das Tolle an Digital ist, dass es dauernd neue Bedürfnisse schafft, die man vorher gar nicht erahnen konnte, außer Star- Trek-Fans vielleicht.

Wir wussten nicht, dass wir dauernd Kurznachrichten über unsere Befindlichkeiten in die Welt schicken wollen, wir wussten nicht, dass wir dauernd im digitalen Flohmarkt unterwegs sein wollen, wir wussten nicht, dass wir Weltnachrichten minütlich erhalten wollen, wir wussten nicht, dass wir immer beruflich erreichbar sein wollen, wir wussten nicht, dass wir Filme von uns, unseren Freunden und unserer Familie der ganzen Welt zeigen wollen, wir wussten nicht, dass es auf jede Frage sofort mindestens eine Antwort gibt. Diese neuen Bedürfnisse werden digital sofort erfüllt, und das mit immer schnellerem Tempo.

Die Vorstellung, dass wir morgen nur noch die digitalen Bedürfnisse von heute haben werden, kommt uns rückschrittlich vor. Wie die Geschwindigkeit der Digitalen Revolution wahrgenommen wird, liegt im Auge des Betrachters. Für die über 40-Jährigen scheint sie dramatisch hoch, da sie sich noch an eine Zeit ohne Internet und Smartphone erinnern können. Für die Jüngeren ist die Digitale Revolution Alltag. Sie gehen davon aus, dass das brandneue Smartphone am Ende des ersten Verkaufstages schon Vintage ist. Digital war in ihrer Muttermilch. Und Digital ist grenzenlos, es ist nicht an Nationalstaaten gebunden, es gibt keine Mauern, bisher. Digital ist global, mit Digital kann jeder ein Weltbürger sein.

Für jemanden wie mich, der hinter einer Mauer aufgewachsen ist, zählt das viel. Wenn man später mal gefragt werden wird, wo man denn war, während der Digitalen Revolution, was antwortet man? War man ein Revolutionär, der das alte Regime gestürzt hat? Oder war man ein Mitläufer? War man ein Reaktionär, der die Revolution aufhalten wollte? Ich sehe mich auf der Seite der Revolution. Ich bin aber kein digitaler Revolutionär, kann nicht programmieren und hab auch kein digitales Start-up. Wie die meisten von uns bin ich ein digitaler Mitläufer. Sagen wir im vorderen Drittel. Ich fühl mich gut, ich steh auf Digital. Bisher.

Anm.d.Red.: Der Text ist ein Auszug aus dem Buch Analog ist das neue Bio, das im Metrolit Verlag erschienen ist. Die Thesen des Buches werden am 24. März um 19 Uhr im Gespräch mit Harald Welzer, Soziologe und Stefan Wegner, Geschäftsführer von Scholz & Friends ­Agenda, diskutiert und vertieft. Ort: Scholz & Friends, Litfaß-Platz 1, 10178 Berlin. Eintritt frei. Die Bilder im Text sind Detailsauschnitte aus diesem Foto von Andreas Levers, das unter der Creative Commons Lizenz CC BY-NC 2.0 steht.

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