Am Nullpunkt des Seins: Christian Petzolds Film “Transit” erzählt vom Alltag im Ausnahmezustand

Der vieldiskutierte Film “Transit” scheint wie gemacht für ein Europa in Zeiten der “Flüchtlingskrise”. Doch die Potenziale des Films, unsere Lage kritisch zu kommentieren, konnte das bisherige Echo nicht freilegen. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki versucht die Lücke zu schließen und rückt nun zentrale Motive wie zu Gespenster gewordene Personen ins Blickfeld – damit aber auch drängende Fragen des gesellschaftlichen Seins.

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Europa ist im Ausnahmezustand. Der flüchtende Georg sitzt in einer Pariser Bar, auf den Straßen patroullieren die Nazis. Er nimmt einen Auftrag an, zur Belohnung winkt eine Fluchtmöglichkeit aus der Stadt. Post zu überbringen an den über gute Verbindungen nach Mexiko verfügenden Schriftsteller Weidel erweist sich jedoch als tückisch. Georg wird den ebenfalls Flüchtenden in dessen Hotelzimmer tot vorfinden und dessen Unterlagen an sich nehmen, Manuskript und Papiere. Damit setzt er sich nach Marseille ab und strandet dort wie so viele, die, auf der Flucht vor den Nazis, Europa mit dem Schiff verlassen wollen aber nicht können, weil sie die Reise nicht antreten können – entweder aus bürokratischen Gründen (es fehlen Papiere) oder aufgrund von inneren Konflikten. Immer wieder zeigt Christian Petzolds “Transit” die Realität des Papiers und die der Seele unentwirrbar miteinander verflochten; so schwebt der Film am Nullpunkt des Seins.

Schon auf der Reise in die Hafenstadt, als Georg die Unterlagen Weidels durchgeht und die Briefe sowie das Manuskript liest, beginnt er in die Welt des Schriftstellers einzutauchen. Schicksalhaft wird er dann in Marseille vom mexikanischen Konsul für Weidel selbst gehalten als er dessen Unterlagen überbringen will. Seine Frau sei gerade hier gewesen, auf der Suche nach ihm. Georg, der auch die Briefe Marie Weidels gelesen hat, vermag es, damit umzugehen, weil er weiß, dass sie sich von ihrem Mann getrennt und dann – bereits im nächsten Brief – schlagartig wieder an den Hals geworfen hat. Warum sie nach der Trennungserklärung ihre Entscheidung revidiert, erfahren wir nicht. Entscheidend jedoch ist: der Film verweigert die Plausibilisierung der Handlung. Was er nicht sagt, zeigt er auch nicht: das Motiv, den Grund. Weidels Frau, wie auch Georg, dessen Beweggründe für Handlungen ebenfalls offen bleiben, wirken seelenlos und unergründlich zugleich.

Auf der Suche nach ihrem Mann marschiert Marie quer durch Marseille. Sie hat dabei etwas von einer Computerspielfigur, wirkt irgendwie ferngesteuert, ohne inneren Antrieb, ohne Autonomie: ein Gespenst, das einem Gespenst hinterher jagt. Überall, wo sie nach ihrem Mann fragt, sagt man ihr, er sei gerade gegangen. Indes schlüpft Georg situativ in die Rolle des Schriftstellers. Um Weidel zu sein, rezitiert er Passagen aus dessen Unterlagen wie ein Schüler, der Auswendiggelerntes vor der Klasse vorträgt. Später, im mexikanischen Konsulat nach der Motivation für sein Schreiben bzw. Nicht-mehr-Schreiben gefragt, verweist er auf eine Episode in der Schulzeit: Der Lehrer wollte damals einen Aufsatz über die schönsten Ferienerlebnisse, was er wie eine unliebsame Pflicht erledigt habe, so komme es ihm mit dem Schreiben als inzwischen gefeierter Autor ebenfalls vor. Nun, so gibt er zu verstehen, wolle er mit der fremdbestimmten Routine nicht länger weitermachen. Doch der Film verharrt im Schwebezustand und lässt offen, ob Georg gelingen kann, das Gespenst-sein zu überwinden.

Das ökonomische Kompatibel-werden

Wie spätestens seit Petzolds Trilogie “Die innere Sicherheit” (2000), “Gespenster” (2005) und “Yella” (2007) bekannt ist, formt der Regisseur seine Figuren als Gespenster. Damit rückt ins Blickfeld, was die politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Schieflagen der Gegenwart immer wieder hervorbringen: das Nicht-Dasein einer ausrangierten und marginalisierten Existenz. Verdrängt und vergessen – also überflüssig gemacht –, gehört die zum Gespenst gewordene Person nirgends mehr so richtig dazu. Petzolds Filme begreifen diesen Seinszustand als Ausgangspunkt, um Verwandlungsprozesse zu beleuchten. Immer wieder geht es um das Umfunktionieren des Gespensts, konkret: um dessen (ökonomisches) Kompatibel-werden mit einer Welt, die es nicht mehr zu brauchen scheint, wie der Filmwissenschaftler Jaimey Fisher konstatiert. Georgs Mutation zum Schriftsteller ließe sich als ein derartiger Umbau begreifen. Doch bemerkenswerterweise wirkt er dabei umso gespenstischer: Er gibt vor jemand zu sein, der er nicht ist und gibt dann seinen Rückzug aus dessen Gewerbe bekannt. Anders gesagt, er begründet eine neue Existenz, um sie im nächsten Moment aufzulösen.

In dieser Szene verhandelt “Transit” die Frage nach dem Grund und der Motivation des Tuns explizit und besonders beziehungsreich: Warum schreibt er? Warum will er nicht mehr schreiben? Georg muss hier beantworten, was er nicht wissen kann, weil es in Weidels Unterlagen darauf keine Hinweise gab. Auf dieser (fehlenden) Grundlage muss er etwas sagen, dass sowohl plausibel ist im Hinblick auf seine Fähigkeiten (er ist Handwerker) und dass ebenso den Erwartungen des Konsuls entspricht, der in Weidel den politisierten Schriftsteller sieht und ihm deshalb etwas skeptisch gegenübersteht. Es einer der wenigen Momente, in denen Georg als Weidel aufzuleben und über das Vorgeschriebene hinauszugehen scheint. Beim improvisierten Fabulieren ringt er sich eine überraschende Version von fremdbestimmter Arbeit ab. Er reproduziert nicht die Idee vom fremdbestimmten Handwerk und befreiender Kunst, doch er löst sich auch nicht von solchen Plattitüden, wenn er den Rückzug aus fremdbestimmter Kunst und den Ausbruch ins befreiende Handwerk ankündigt. Vielmehr variiert er die Plattitüden nur.

Variationen von abgedroschenen Wendungen und belanglosen Aussagen, die den Film zugleich rätselhaft und trashig wirken lassen – solche Variationen von Plattitüden artikulieren die Krisen der Geflüchteten-Identitäten im Gewand des Alltäglichen und der Routine. Das unterstreicht der Film bereits am Anfang, als Georg den riskanten Auftrag, Weidel Post zuzustellen, quasi gewohnheitsmäßig annimmt. Die brisante Dienstleistung erscheint als Banalität, das Überleben im Ausnahmezustand als Wiederholung des Immergleichen. Wenn die Handlung als Routine erscheint und wenn die Figur dabei leidenschaftslos und unmotiviert wirkt, dann zeigt sich darin nicht zuletzt, dass das Umfunktioniert- und Kompatibel-werden mit der herrschenden Ordnung keineswegs einen Ausweg aus der gespenstischen Existenz bietet: Als sich die zum Gespenst gewordene Person in eine Art routinierten Dienstleister verwandelt, lösen sich die Parameter des Gespenstischen nicht auf, sondern verschieben sich ins Register der Routine.

Ausnahmezustand oder Alltag?

Schien der Gespenst gewordene Georg für einen Moment wieder eine Person geworden zu sein, so erweist sich sein Prozess als Schweben am Nullpunkt des Seins, dort, wo der Grund entweder abwesend ist, aufgelöst ist oder nie gegeben war. Dabei forciert der Schwebezustand einen Widerspruch: Routine entfaltet sich schließlich dort, wo Alltag herrscht. Doch hier, im Ausnahmezustand, kann es eigentlich keinen Alltag geben. Die Existenz des Flüchtenden ist von einer permanenten Bedrohung überschattet. Es kann jederzeit passieren, dass Georg verraten, denunziert, festgenommen, abgeführt, deportiert oder exekutiert wird. Insofern gibt es eigentlich keine Möglichkeit, sich in einer Routine einzurichten und die Dinge einfach laufen zu lassen.

Doch gerade das zeigt der Film als gegeben: das Überleben im Ausnahmezustand ist kein dramatischer Kampf, sondern business as usual. Handlungen und Szenen werden zu Plattitüden. Sogar der Selbstmord einer Geflüchteten, der buchstäblich aus dem Nichts geschieht, wirkt unmotiviert und grundlos. Ist der Akt eine konsequente Maßnahme, um sich den Routinen des Überlebens im Ausnahmezustand zu entziehen? Oder nur eine weitere Spielart der gespenstischen Routine?

“Transit” lässt solche Fragen offen und fächert ein Universum ohne Grund und Boden auf. Es könnte aus den Schattenspielen des Film Noir zusammengesetzt sein, doch fast alles ist im tragenden Marseille-Kapitel in grell-leuchtendes Sonnenlicht getaucht. Unter dem schier alles erfassenden Blick des Lichts entfaltet die Boden- und Grundlosigkeit eine paradoxale Logik: Die Figuren wirken nicht nur rätselhaft, sondern zugleich auch platt, nicht nur unergründlich, sondern zugleich auch seelenlos. Wen wundert es, dass viele KritikerInnen lediglich nur das eine oder andere affirmieren wollen? Etwa wenn die Filmkritikerin Thekla Dannenberg in Georg lediglich den „ungreifbaren Mann mit einer hypnotisierenden Unergründlichkeit“ sehen will.

Dreht sich das Flüchten häufig um Geschichten des Fremdwerdens – der Geflüchtete als Fremder, der Zufluchtsort als Fremde, die Erfahrung des Flüchtens als Entfremdung, etc. – so spitzt Petzold dieses Motiv zu und gewinnt ihm etwas Irritierendes ab, in dem er mit Verfremdungen arbeitet. Allein die Rahmung markiert dies deutlich. Historische Schichten lagern übereinander: Der Nazi-Stoff, der auf einem Roman von Anna Seghers basiert, entfaltet sich im Frankreich der Gegenwart. Mehr noch: Das Voice-over, das im zweiten Drittel einsetzt, stimmt einen abgehoben wirkenden Ton des Literarischen an und verstärkt dadurch die Distanz der Figuren zu sich selbst und zu ihren Handlungen – statt das Geschehen tiefergehender zu plausibilisieren.

Diese Unstimmigkeiten üben einen erheblichen Einfluss auf Möglichkeiten aus, die Geschichte und die Figuren-Existenzen zu lesen. Man ist geneigt – und das zeigt auch das mediale Echo auf den Film – sie zu bemängeln oder sie einfach zu übersehen und sich dann mit dem allzu Offensichtlichen zufrieden zu geben. Etwa, Europa während des Dritten Reichs sei analog zum Europa in Zeiten der EU. (Der Film scheint nahezulegen, dass man getrost vom “Holocaust im Mittelmeer” sprechen darf, ohne weiter differenzieren zu müssen. So einfach scheinen die Sachverhalte zu sein.) Oder Geflüchtete seien Leidende im Transit, einem Zustand des Übergangs, der selbst immer wieder nur geborgt, in Aussicht gestellt oder entzogen wird.

Doch es ist gerade das allzu Offensichtliche, das der Film durch seine immer wieder beunruhigenden Unstimmigkeiten in Frage stellt. Gerade dort, wo es möglich scheint, Sinn schnell und einfach herzustellen (wie in puncto Europa und Flüchtlinge), erweisen sich die Zusammenhänge als haltlos, grundlos und irgendwie beliebig. So bleiben die Unstimmigkeiten, die “Transit” uns drängt ernst zu nehmen: als Diskurs über den hinfällig gewordenen Grund, der Zusammenhänge und Figuren in Sinn erdet bzw. eben nicht erdet.

Der Grund ist hinfällig geworden

Auch wenn der Film Sinn entzieht, so ist er nicht nur negativ, wenn er Aussagen zu machen scheint und dann wieder annulliert. Er stiftet auch in überraschenderweise Sinn und hat somit auch Neues über Flüchtende in Europa zu sagen. Beispielsweise: Während üblicherweise der Grund die Geflüchteten sowie ihre Lebenssituation als Ausnahme etabliert, so wird dieser Grund in “Transit” entzogen. Der Film zeigt auf diese Weise, dass die Begründung der Ausnahme hinfällig geworden ist – somit aber auch die Begründung der Regel. Dies ließe sich auf zwei Ebenen verstehen. Einerseits als Kritik am Regime der Ausnahme – ein Regime, das nicht zuletzt das Person- und Mensch-sein relativiert, wenn es die bedingungslose Gleichheit aller durch Ausnahmeregelungen (die auch Ausnahmen von der Ausnahme zulassen) in Frage stellt und beispielsweise Menschenrechte lediglich selektiv zugesteht.

Andererseits als Kritik an der projizierten Norm bzw. Regel: Was müssen wir projektiv investieren, damit migrierende und flüchtende Personen unseren Begriff von Normalität und Alltag nicht aus den Fugen geraten lassen? Anders gefragt: Was hat es zu bedeuten, dass wir mehr oder weniger freiwillig migrierende und flüchtende Personen, die in den letzten Dekaden so normal und alltäglich geworden sind, als Ausnahmeerscheinungen konstruieren? Was würde sich an unserer Vorstellung von Normalität ändern, wenn wir affirmierten, dass Migration und Flucht keine Ausnahmen, sondern gewissermaßen längst Alltag geworden sind?

Nicht zuletzt stellt Georgs unmotiviert wirkendes Alltagsdasein die landläufige Vorstellung von Subjektivität in Frage: nämlich die Idee, dass das Subjekt stets einen Grund haben muss, um zu existieren und zu handeln. Stattdessen rückt ein Subjekt ohne Grund ins Blickfeld: ein Subjekt, das defizitär ist, weil es zum Gespenst geworden ist; zugleich ein Subjekt, das im Umfunktioniert-werden das Defizitäre einer Existenz der Zugehörigkeit zum Vorschein bringt, weil es deren Funktionieren in der herrschenden Ordnung als gespenstische Routine erkennbar werden lässt. So führt “Transit” immer wieder zum Nullpunkt des Seins – dort, wo die tendenzielle Ununterscheidbarkeit von Person und Gespenst als Modus des politischen Subjekts zum Vorschein kommt.

Anm.d.Red.: Demnächst erscheint im Vorwerk Verlag ein von Ilka Brombach und Tina Kaiser herausgegebener Band über Christan Petzolds Werk. Das Foto oben ist ein Standbild aus “Transit” (Piffl Medien).

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