Alles überstürzen

Philosophie ist Widerstand gegen den Zeitgeist, gegen die Beschleunigungszwaenge, gegen die Verlangsamungsappelle ihrer Zeit. Philosophie ist nicht anachronistisch, sie ist diachronistisch, das heisst sie durchquert ihre sozial, politisch, oekonomisch, kulturell etc. kodierte Zeit. Die Philosophie kennt ihre eigene Geschwindigkeit. Manchmal liegt ihre Beschleunigung in der Zurueckhaltung, in einer gewissen theoretischen Distanzierung und Abstinenz im Verhaeltnis zu den >Problemen der Zeit<. Manchmal beschleunigt die Philosophie, indem sie verlangsamt, indem sie sich entschleunigt oder sich tot stellt.

Die Gewalt der Philosophie liegt in dieser Beschleunigung, die etwas anderes als das blosse Gegenteil der Entschleunigung ist. Die Selbstbeschleunigung der Philosophie meint ihre Oeffnung auf die Dimension des Unentschiedenen, der Zukunft, der Kontingenz. Die Selbstbejahung des philosophischen Subjekts als Subjekt dieser Oeffnung ist eine notwendig ueberstuerzte Affirmation. Das Subjekt bejaht, was es nicht kennt. Die Selbstbeschleunigung der Philosophie ist eine solche Ueberstuerzung. Wer behauptet, dass es Ueberstuerzung nicht auch als Abstinenz von ihrer Zeit gibt, als Diskretion vom Zeitgeist, solange seine Beschleunigungszwaenge der Fixierung der etablierten Realitaeten zuarbeiten?

Es gibt Philosophie nur als Behauptungsphilosophie. Eine Behauptung ist immer zu schnell. Immer ueberhastet, immer uebertrieben und kopflos. Und dennoch hat die philosophische Behauptung ihre eigene Praezision. Philosophie ist eine Lebensform, die das Subjekt der Philosophie [die Philosophin, den Philosophen] ueber seine Gewissheiten hinwegreisst. Das Subjekt der Philosophie beschleunigt ueber seine objektive Realitaet im etablierten Realitaetsfeld hinaus. Was ist ein Subjekt? Subjekt ist, was sich auf seinen Objekt-Status nicht reduzieren laesst, was sich der Verdinglichung durch die historischen, politischen, oekonomischen, kulturellen Umstaende widersetzt.

Das Subjekt ist deshalb immer Subjekt eines gewissen Widerstands. Es ist Subjekt der Selbsterhebung angesichts dessen, was diese Erhebung erschwert oder verhindert. Es ist Subjekt, insofern es versucht, Subjekt zu sein und zu werden, Subjekt der Subjekt-Werdung, selbstaffirmatives Subjekt. Subjekt ist, was sich als Subjekt bejaht. Es bejaht seine Freiheit zur Entscheidung und die Verantwortung, die sie mit sich bringt. Das affirmative Subjekt will frei und verantwortlich fuer seine Handlungen und Entscheidungen sein. Es macht sich frei fuer seine Freiheit, statt sich in seine faktische Ohnmacht und Unfreiheit zurueckzuziehen. Das affirmative Subjekt tritt nicht zurueck, es tritt hervor. Es bejaht sich als Autoritaet von Handlungen, die es nie ganz kontrolliert.

Die Zeiterfahrung der Philosophie ist Erfahrung dieser Kontrolllosigkeit. Die Zeiterfahrung der Philosophie ist Erfahrung der Fragilitaet, der ontologischen Unbestimmtheit, das heisst der Konstruiertheit, des fiktionalen Status ihrer Zeit und Realitaet. Zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte der Philosophie ging es der Philosophie darum >Ansichten ueber die Zeit< zu formulieren. Das ist Journalismus, das ist Literatur. Die Philosophie beginnt mit dieser Weigerung, Ansichtssache zu sein. Sie ueberschreitet [zumindest ist das ihr Selbstverstaendnis] die Literatur und den Journalismus. Das gehoert zu ihrem Selbstverstaendnis: die Ueberschreitung der immer reaktiven, oft reaktionaeren, Partikularismen der Meinungsaeusserung und Interessensoekonomien. Das ist der philosophische Universalismus, den man verkennt, wenn man nicht begreift, dass die Gewalt dieses Universalismus sich der Gewalt des Relativismus als Behauptung, statt als Beweis oder Meinung entgegenstellt. Der philosophische Universalismus hat nichts in der Hand. Er greift nach dem Ungreifbaren. Er ist Beruehrung des Unberuehrbaren. Und er verteidigt diese Eigentumslosigkeit als sein Eigentum Selbstbeschleunigung ist Selbstentgrenzung. Das Subjekt der Selbstbeschleunigung tritt mit der Unschuld, mit der Inkommensurabilitaet und Unlebbarkeit des Lebens in Kontakt. Die Unlebbarkeit des Lebens meint seinen Kontingenz-Charakter, seine ontologische Arbitraritaet. In der Oeffnung auf diese Arbitraritaet ist das Subjekt erst frei. Das ist das Paradox der Erfahrung der Selbstbeschleunigung: dass sie dem Subjekt seine Freiheit und Unfreiheit in einem enthuellt. Weil ich nicht frei bin, bin ich frei. Im Raum meiner Unfreiheit [gesellschaftlichen, sprachlichen Kodifiziertheit], bleibt noch alles zu tun. Adorno sagt: >Es gibt kein richtiges Leben im falschen.< Wo denn sonst? Ich denke: Wenn die Entschleunigung, von der in der Berliner Gazette die Rede ist, das Subjekt ueber den Zwang zur Beschleunigung im Sinne kapitalistischer Effizienz [also eines sehr mutlosen, sehr beschraenkten Begriffs von Effizienz] hinausbeschleunigt, dann koennte diese Entschleunigung eine Form der Selbstbeschleunigung des Subjekts darstellen, die verhindert, dass es sich den Forderungen der Tatsachenoekonomien beugt.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.