Alles haengt mit allem zusammen

Alles haengt mit allem zusammen. Wie oft haben Sie diesen Satz schon vernommen und unhinterfragt stehen lassen? Unhinterfragt, weil der Satz zugleich wahr und nichtssagend klingt. So wahr und nichtssagend wie: Die Welt wird immer kleiner. Ich sitze jetzt an meinem Schreibtisch und moechte der Sache nachgehen. Ich moechte den Satz woertlich nehmen und ueber den grossen Zusammenhang nachdenken, sprich: ueber die Gesamtheit aller irdischen Beziehungen. Das mag vermessen klingen. Aber offenbar ist heutzutage Vermessenheit notwendig, um dieser unhinterfragten Rede etwas Sinn abzugewinnen.

Vielleicht muss man vermessen sein, um den Verlust jeglichen Massstabs zu verwinden, den besagte Rede mit sich bringt: Wenn alles mit allem zusammenhaengt, das heisst sowohl Dinge als auch Menschen, dann hat das Ich keine Limitierungen und die Welt keine Konturen. Limitierungen und Konturen [wenngleich nur von provisorischer Natur] sind aber notwendig um ein Gespuer fuer Massstaebe zu entwickeln. Wer messen kann, erkennt Verhaeltnisse, Beziehungen und Zusammenhaenge.

Wenn alles mit allem zusammenhaengt, und alle mit allen, dann heisst das auch, dass nichts und niemand wirklich miteinander zusammenhaengt. Wenn alles mit allem zusammenhaengt, dann gibt es beliebig viele Beziehungn, beliebig viele Verbindungsmoeglichkeiten. Das ist ein hochgradig dynamischer Zustand. Alles und alle werden staendig aufs Neue miteinander verbunden und wieder entkoppelt. Die Bewegung loest die Starre des grossen Zusammenhangs auf, verfluessigt ihn als Ganzheit und zeitigt eine Ueberproduktion von Beziehungen. Das Zuviel an Beziehungen [und Beziehungsoptionen] wird nicht selten als sozialer Stress beschrieben oder als allgemeiner Mangel von Sinn. Ich konstatiere angesichts dessen jedoch weder Beziehungslosigkeit noch Sinnleere, sondern sehe vielmehr die Notwendigkeit, diesen Zustand affirmativ zu durchdringen.

Es gilt nicht zuletzt danach zu fragen, ob sich die Annahme, dass alles mit allem zusammenhaengt, also auch, dass ich mit allen und allem zusammenhaenge – ob sich dies als Erfahrung beschreiben laesst und was diese Erfahrung ausmacht. Der Ausgangspunkt fuer diese Beschaeftigung ist mein Alltag. Ich lebe und arbeite in einer Grossstadt und verarbeite meine Erfahrungen und Gedanken in verschiedenen Schritten und Lebenslagen, in der vielleicht entscheidendsten Phase jedoch am Schreibtisch. Hier schreibe ich, und indem ich schreibe, bekommt mein Denken nicht nur eine konkrete, sondern auch eine verbindliche Kontur. Indem ich [auf eine Veroeffentlichung hin] schreibe, uebernehme ich Verantwortung. Gegenueber mir selbst, dem Verlag und dem Leser.

Von meinem Schreibtisch aus sind es kaum als 300 Meter Luftlinie Entfernung zu einer der verkehrsreichsten Kreuzungen Berlins. Doch wenn ich hier sitze und aus dem Fenster schaue, sehe ich nichts davon. Nichts, beziehungsweise nur Spuren. Was ich nicht sehe, kann ich jedoch in Andeutungen hoeren. Ich hoere ein stetiges Rauschen und sehe ein gruenes Gebaeude. Ich sitze im dritten Stockwerk. Das Fenster, vor dem mein Schreibtisch steht, ist zur Strasse gewendet, die ich nicht sehe, ebenso wenig wie den Boden, auf dem das gruene Gebaeude steht.

Ich habe diesen Anblick fotografiert und neulich bei einem Vortrag in Sapporo, Japan, Studenten gezeigt: >Was ist das fuer ein Gebaeude?<, frage ich sie. Der Ausschnitt, den der Blick aus dem Fenster zeigt, laesst eine schnelle und eindeutige Antwort darauf nicht zu. Ein Lagerhaus? Eine Garage fuer Hubschrauber? Bei meinem Vortrag gehe ich einige Meter nach links und nach rechts ueber das projizierte Bild hinaus, um anzudeuten, dass das Gebaeude in der Horizontalen groesser ist. Ausserdem deute ich an, dass der Ausschnitt den Boden des Gebaeudes zeigt, nicht aber die >Fuesse<, auf denen es steht – wie gesagt, ich sitze in der dritten Etage direkt davor. Ich erklaere ferner: Im Inneren dieses gruenen Gebaeudes kommen Menschen an, waehrend andere warten, um weiterzukommen. >Ein Bahnhof?<, fragt eine Studentin. Exakt. Dieser Bahnhof steht direkt an der Kreuzung, aber ich sehe nur einen kleinen Ausschnitt davon. Ueber dem Bahnhofsdach sehe ich einige Daecher von Haeusern, die dahinter stehen und es nur knapp ueberragen. Darueber eroeffnet sich der Himmel. Im Augenblick ist er grau. Um meiner Frage nachzugehen, habe ich nun vier Optionen. Ich kann ueber diesen Ausschnitt nachdenken und reflektieren, wie das jeweilige Element auf den grossen Zusammenhang verweist beziehungsweise wie es darin eingebettet ist: der Bahnhof als Teil eines Verkehrsnetzes; die Haeuserdaecher als Teil einer staedtischen Siedlungsstruktur [und beides als Teil einer Infrastruktur, die ueber die herkoemmlichen Grenzen der Stadt hinausgeht]; der Himmel als Netzwerk der Stille, der Strassenlaerm als Spur eines Netzes von Geraeuschen, das sich vor mir verdichtet und in anderen Dichtegraden den gesamten Planeten ueberzieht. Ich kann aber auch, als zweite Option, auf die Strasse gehen und in die Stadt >hineintauchen<, mich treiben lassen oder systematisch bestimmte Routen abgehen, um das Geworfensein ins urbane Dickicht auf den grossen Zusammenhang hin zu ueberpruefen. Ich koennte mich aber auch drittens von der Gravitationskraft loesen, mit meinem Blick aus dem Fenster ueber Bahnhof und Haeuser erheben, und – wie ich es manchmal nachts im Traum tue – zu einem Hoehenflug ueber die Stadt, in den Himmel hinein ansetzen, dorthin, wo ich auf Anhieb den grossen Zusammenhang spuere, weil ich umgeben bin von einer Materie, von einer Farbe, von einem Raum, der den gesamten Planeten umspielt. Ich koennte aber auch, und das ist die vierte Option, am Schreibtisch sitzen bleiben, meinen Blick auf den Bildschirm vor mir fokussieren, und weiterschreiben. Weiterschreiben, weiterdenken, weiterlesen und weitergehen, als ich es in den ersten drei Optionen kann, weil ich hier, am Schreibtisch, vor meinem Computer, in einen Raum eintauchen kann, der einerseits weiss ist, wie das beruehmte unbeschriebene Blatt Papier und damit offen, still, leer und aufnahmebereit fuer meine ganzen Gedanken, Assoziationen, Analysen und Synthesen, also fuer das, was staendig den grossen Zusammenhang herstellt und mich im Nancy'schen Sinne davon entfremdet. Einen Raum, der andererseits schwarz ist, um ein gelaeufiges Klischee vom Cyberspace aufzugreifen, ein dunkler Datenraum, von Natur aus ohne Licht, sowohl am Tage als auch in der Nacht kuenstlich erhellt und deshalb staendig belebt zu sein scheint, zwar vergleichbar mit einer niemals zu Ruhe kommenden Metropole wie Tokio, aber weniger ein konkreter Ort des permamenten Verkehrs als ein nimmerendender Prozess der Entgrenzung. Es ist diese Schwarz-Weiss-Anordnung, welche die vierte Option so besonders anziehend und so besonders fruchtbar macht. Fruchtbar fuer ein Denken, das die Dichotomie als Treibstoff begreift, weil es nicht anders kann als ueber jedwede Dichotomie hinaus zu gehen, insbesondere dann, wenn das Denken den grossen Zusammenhang erfassen will. Ich entscheide mich daher fuer das Weiterschreiben, aber zunaechst muss ich meine Arbeit unterbrechen.

5 Kommentare zu “Alles haengt mit allem zusammen

  1. Der Satz bringt einfach alles auf den Punkt.
    Der menschliche Geist mag damit zwar überfordert sein, jedoch ist diese Aussage so erdrückend wie wahr.

  2. Danke für Ihre Infos
    Interessant, dass unser neuer Umwelt- u. Innensenator in der Hansestadt Lübeck, Herr L. Hinsen ,
    die Erkenntnis, dass” alles mit allem zusammenhängt” schon mehrfach in der politischen Diskussion erfolgreich eingesetzt hat.
    Was bedeutet dies für die Diskussionspartner in Lübeck ??

    chon

  3. Dem „Alles“ eine Grenze geben: z.B. mein Körper: Ein Schaden an der Fußsohle kann auf Dauer den ganzen Bewegungsapparat schädigen u.a.m.. Erst mit der Grenze ergibt sich die Bedeutung!

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