Zugehörigkeit als Investition: Die Warenwerdung der Staatsbürgerschaft – und unsere Alternativen

Die Berliner-Gazette-Jahreskonferenz FRIENDLY FIRE erkundet neue Formen der Staatsbürgerschaft. Nicht zuletzt rückt dabei der heutzutage blühende Kauf und Verkauf von Staatsbürgerschaften in den Blick und so denkt die Al Jazeera America-Redakteurin Atossa Araxia Abrahamian über die größten Schwachstellen des Konzepts sowie über die Utopie des Weltbürgertums nach. Ein Interview.

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Hatten Sie während der Recherche zu Ihrem Buch „The Cosmopolites” zu einem bestimmten Moment die Zukunft der politischen Staatsbürgerschaft vor Augen? Wenn ja, was für ein Moment war das, und was war das für ein Bild von der Zukunft?

Als ich herausfand, dass es einen großen, legalen Markt für Staatsbürgerschaften für Investoren gibt, wurde mir klar, dass die Staatsbürgerschaft viel mehr (oder weniger!) ist als die emotionsgeladene, bedeutungsvolle, demokratische Idee, als die sie von vielen gesehen wird. Allein die Tatsache, dass Nationalstaaten ihre Pässe und die Rechte, die damit einhergehen, auf legale, nicht angreifbare Art und Weise verkaufen, sagt etwas darüber, wie die Staatsbürgerschaft heute verstanden wird: als Ware, nicht als eine Reflexion von Rechten und Verantwortlichkeiten.

Ich glaube, mir wurde das klar, als ich bei einer „Global Citizenship”-Konferenz in London war. Ich hatte angenommen, beim Tagesordnungspunkt „Globale Staatsbürgerschaft” würde über Multikulturalismus und Kosmopolitanismus diskutiert werden – stattdessen nutzten finanzschwache Inselstaaten die Gelegenheit in der Hoffnung auf Investitionen, Werbung für ihre Pässe zu machen.

Das klingt ziemlich dystopisch! Wo wir gerade über die Zukunft der Staatsbürgerschaft reden – ich frage mich, ob Sie eine utopische Vision dafür haben? Also für eine Politik und/oder eine Praxis der Staatsbürgerschaft, auf die Sie während ihrer Feldforschung gestoßen sind, die auf eine demokratischere Zukunft abzielen? Vielleicht erinnern Sie sich an ein Erlebnis oder eine Beobachtung, die das ausgelöst hat?

Unter der wirklich utopischen Vision einer Staatsbürgerschaft stelle ich mir etwas wie eine Weltbürgerschaft vor, mit der Menschen leben könnten, wo sie wollen – unabhängig von ihren Eltern oder ihrem Geburtsort, unabhängig auch davon, wie viel Geld sie haben. Immer wieder haben Denker für irgendeine Version davon plädiert, von Saint Simon bis Karl Marx, aber meistens im Zusammenhang mit Religion oder Klasse. Dafür gibt es einen Grund: Es ist schwer, eine schrankenlose, ungehinderte Demokratie zu leben.

Ich würde nicht so weit gehen, zu sagen, dass wir auf Clanwirtschaft und Ausgrenzung gepolt sind, aber wir müssen auch grundlegende historische Tatsachen bedenken, die man unmöglich rückgängig machen kann. Auch in den progressivsten Visionen haben Umverteilungsmechanismen ein bestimmtes Level an koordinierter Bürokratie nötig (es sei denn, sie sind komplett automatisiert, was wieder eigene Probleme mit sich bringt!). Wenn Weltbürgerschaft oder offene Grenzen nicht möglich wären, wäre meine Idee von einer Utopie eine, in der alle Menschen viel leichter an eine Staatsbürgerschaft kommen könnten, und in der der Wohnsitz in der Frage, wer ein Staatsbürger ist und wer nicht, Vorrang vor Ethnizität, Religion oder Geburtsland hat.

In Europa wurde eine politische Person lange Zeit so definiert: Vernünftig denkende Menschen stellten öffentliche Forderungen, und dann benutzten sie mit der Hilfe konsensbildender Maßnahmen die Werkzeuge der Demokratie, um ihre Forderungen zu verwirklichen. Und doch haben diese Werkzeuge (Wahlen, etc.) ihren Reiz und ihre Macht verloren; der Staat selbst, von dem diese Werkzeuge kommen sollten, wird zunehmend unerreichbar. Müssen wir neu definieren, was es bedeutet, politisch zu sein? Wenn ja, was könnte es heute bedeuten?

Ich glaube, diese Grundidee, dass Wähler Forderungen stellen und erwarten, dass sie gehört werden, ist immer noch vernünftig. Und offensichtlich strahlen Wahlen eine starke Macht aus, sonst würden wir nicht in einer Welt leben, in der es Trump und den Brexit gibt. Aber der politische Prozess ist auf jedem Schritt korrumpiert und wird heute so stark von Geschäftsinteressen vermittelt und beeinflußt, dass die Art der Forderungen, die Vernunft, die dahinter steht, und der Ausgang der Wahlen beeinträchtigt werden. Wer nicht gut informiert ist, kann keine guten Entscheidungen treffen; wenn man das Gefühl hat, dass niemand zuhört, werden die Forderungen kaum den Erwartungen der „normalen” Politik entsprechen; wenn Politiker manipulieren und wenn die dicken Brieftaschen Lobbyarbeit betreiben, um die Gesetze für Wahlberechtigte zu ändern, damit marginalisierte Gruppen es so schwer wie möglich haben, überhaupt wählen gehen zu können, dann kann man vielleicht nicht wählen gehen. Das summiert sich alles.

Zur Definition einer politischen Person gehörte auch seine/ihre Staatsbürgerschaft. Doch im Zug der oben erwähnten Erwicklung wird politische Staatsbürgerschaft von einer depolitisierten Version ihrer selbst ersetzt: der Bürger als Konsument, Nutznießer, etc. Ist die Staatsbürgerschaft im Rahmen des Staates immer noch etwas, das politische Bedeutung haben kann? Wenn ja, was für eine Bedeutung könnte das sein?


Staatsbürgerschaft beinhaltet traditionellerweise, Rechte und Verantwortlichkeiten zu haben. Ich glaube, es gibt in dieser Gleichung immer weniger Verantwortlichkeiten. Zugleich – vielleicht als Folge der Abkoppelung und des Verlustes kohärenter nationaler Identität – werden auch die „Rechte” untergraben; Kürzungen von Ausgaben für die Wohlfahrt, Austerität, etc.

Aber es ist nichts wert, dass für eine Menge Leute – gerade für Leute, die sich selber als Nationalisten oder Patrioten verstehen – Staatsbürgerschaft wirklich von Bedeutung ist, und die Tatsache, dass alle Anderen das nicht so sehen, ein Affront auf ihre Weltsicht ist. Erinnern Sie sich an „Make America Great Again”? Ironischerweise sind das die Leute in den USA, die am meisten gegen Wohlfahrt und das soziale Sicherheitsnetz sind.

Sinn macht das aber schon, weil die Idee der Staatsbürgerschaft aus einer extrem rechten Perspektive meist sehr eng gefasst ist – sie behauptet im Grunde, dass Staatsbürgerschaft nur für Weiße sein sollte oder für Menschen europäischer Abstammung oder für eine andere ethnisch definierte Gruppe. Das mag undemokratisch sein, aber es ist nicht entpolitisiert. Und wenn man seine Mitamerikaner (oder andere Mitbürger) nicht als Teil seiner Gemeinschaft anerkennt, wird man auch nicht wollen, dass die Regierung sie unterstützt. Für die Megareichen ist die Staatsbürgerschaft nicht entpolitisiert, sondern sie verfügen über immer mehr Macht, politische Kampagnen zu finanzieren und zu beeinflussen. Das ist eine äußerst politische Vision von Reichtum und Macht. Sie ist nur nicht besonders gerecht oder demokratisch.

Ich habe Gruppen beschrieben, die zur Konservativität neigen, weil sie das Narrativ auf eine Weise gekapert haben, die die Linken nicht auf dem Schirm hatten. Der politische Diskurs der letzten Jahre hat sich so stark auf den Begriff der Freiheit konzentriert, dass Regierungen glauben, sie können den Leuten nichts vorschreiben. Das ist ja vielleicht was Gutes – aber es ist nicht zu verleugnen, dass es mit einer Gesellschaft, deren politische Bedeutung abnimmt, einhergeht.

Das wirft letztlich die Frage auf, was die Staatsbürgerschaft Leuten bedeuten könnte, die keine Nationalisten, Patrioten und/oder Megareiche sind? Diskutieren wir die Politik der Staatsbürgerschaft nicht zu eng, wenn wir „den Rest” unserer Gesellschaft auslassen – ganz abgesehen von den Menschen des Globalen Südens, die – pauschal gesagt – oft völlig andere Fragen an den Gesellschaftvertrag haben, die aber heute in immer größerer Anzahl in den Globalen Norden migrieren… Wo könnte man damit anfangen, diese Ansichten und Positionen zu erklären?

Damit, dass Staatsbürgerschaft für verschiedene Gruppen und Personen Verschiedenes bedeutet, weisen Sie auf etwas Wichtiges hin. Allgemein neigen die Menschen dazu, sich mit ihrer Staatsbürgerschaft zu identifizieren – emotional oder zumindest – sagen wir mal – administrativ. Für Menschen aus dem Globalen Süden, und das umschließt sowohl die Armen wie auch die Reichen, diktiert die Staatsbürgerschaft, was man tun oder nicht tun kann und wohin man gehen oder wegen Visa-Beschränkungen nicht gehen kann.

In weiten Teilen des Westens erwarten wir, dass eine Staatsbürgerschaft von einem bestimmten Schutz, von bestimmten Rechten begleitet wird, auch von Wahlrechten. Im Fall Israels – und ich benutze dieses Beispiel im allertheoretischsten Sinn – dient die Staatsbürgerschaft als Sicherheitsnetz; sie ist ein Ort, an den Juden sich wenden können, wenn sie anderswo verfolgt werden. Kurzgefasst denke ich nicht, dass es wirklich möglich ist, einheitlich zu definieren, was Staatsbürgerschaft für alle Menschen bedeuten kann. Die Bedeutung der Staatsbürgerschaft spiegelt letztlich die Ungleichheiten, die wir auf der Erde sehen.

Wenn wir die Staatsbürgerschaft wieder politisieren wollen, müssen wir auch auf die Schwachstellen und Missstände schauen, die den Staatsbürgerschaften als Produkt (und Katalysator) von Staatsnationen anhaften – zum Beispiel ihre Logik der Ausgrenzung, basierend auf dem Geburtsort der Menschen, etc. . Was sind für Sie die größten Schwachstellen der Staatsbürgerschaft in der Ära der Staatsnation, und wie können wir die gegenwärtige Krisenzeit nutzen, um sie anzusprechen und zu überwinden?

Die größte Schwachstelle ist die, dass die Menschen, die die engagiertesten, stolzesten und – wie auch immer – patriotischsten Bürger wären, nicht einmal das Recht auf einen legalen Status gegeben wird. Das liegt natürlich an dieser ethnischen Idee der Staatsbürgerschaft, die sehr destruktiv ist. Dabei finde ich es verrückt, dass Länder wie die USA so viele Immigranten deportieren wollen, die sich einen Arm und ein Bein dafür ausreißen würden, Amerikaner zu sein. Wenn du Immigranten gut behandelst, dann sind sie deine größten Fürsprecher und eine riesige Bereicherung. Bret Stephens – wohlgemerkt ein Konservativer – stellte das auf eine Swiftsche Art in einer sehr lesenswerten Kolumne für die New York Times fest.

Beispielsweise erklärt er: „Weil ich das Kind von Immigranten bin und im Ausland aufwuchs, waren die Vereinigten Staaten für mich ein Land, das in erster Linie den Neuankömmlingen gehört – den Menschen, die sich am meisten anstrengen, dazuzugehören, weil sie wissen, wie wertvoll das ist; und die sich am meisten um Erneuerung bemühen, so dass unsere Ideen und unsere Anziehungskraft nicht an Frische verlieren. Das war einst ein Klischee, aber in den Zeiten von Trump muss es immer wieder von Neuem erklärt werden. Wir sind ein Land von Immigranten – auch von und für sie. Amerikaner, die das nicht kapieren, sollten verschwinden.”

Wenn wir die Staatsbürgerschaft in Anbetracht des Anstiegs transnationaler Netzwerke als neue gemeinsame Horizonte für menschliche Koexistenz wieder politisieren wollen – welche institutionelle Strukturen sehen Sie sich entwickeln, die solch eine Entwicklung, die Sie in Ihrem Buch als etwas, das Globale Staatsbürgerschaft genannt werden könnte, tatsächlich berücksichtigt haben? Welche institutionellen Strukturen fehlen dagegen, könnten aber entwickelt werden? Welche institutionellen Strukturen sind wiederum am schwersten zu entwickeln und möglicherweise die größten Hindernisse, die es zu überwinden gilt?

In meiner Recherche stieß ich nicht auf viel, das mir Grund für Optimismus gab, um Ihnen die Wahrheit zu sagen! So viele utopische Ideen zur Technologie, die uns alle vereint hätte, sind nicht Realität geworden, viele von ihnen wurden von extremen Liberalisten angeführt. Jetzt, wo wir mit einem riesigen nationalistischen Rückschlag konfrontiert sind, setzt uns das wahrscheinlich mehrere Jahrzehnte zurück.

In der sozialistischen Politik gibt es Hoffnungsschimmer, aber dort beschäftigt man sich nicht mit Staatsbürgerschaft auf einer globalen Ebene – zumindest noch nicht. Ich glaube, es ist unrealistisch, irgendwann in der nächsten Zeit mehr offene Grenzen zu erwarten oder einfacheren Zugang zu Staatsbürgerschaft für Immigranten. Ich glaube, wir befinden in einem Zeitabschnitt, in der Nationalismus neu interpretiert wird; ich hoffe darauf, dass er gesellschaftlich, nicht ethnisch definiert wird. Das ist eine ziemlich niedrige Schwelle, aber es ist eine Verbesserung.

Anm.d.Red.: Atossa Araxia Abrahamian hält am 3.11.2017 bei der Berliner-Gazette- Jahreskonferenz FRIENDLY FIRE im öffentlichen Abendprogramm einen Vortrag. Ebenso als Speaker auf dem Panel: der Medienkünstler Ingo Günther. Beide sprechen zur Frage der globalen Staatsbürgerschaft. Mehr Infos hier. Die Fragen stellte die Berliner Gazette-Redaktion. Übersetzt aus dem Englischen: Stephanie Fezer. Foto: Krystian Woznicki (CC-Lizenz).

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