Gegenwartseffekte: Nach „Ich denke, also bin ich“ kommt „You tube – therefore you are“

Was bedeutet es, online zu existieren? Siegfried Zielinski, Professor für Medientheorie, spürt dieser Frage in einem dreiteiligen Essay nach. Im ersten Teil geht es um eine Echtzeit-Archäologie namens YouTube und die Frage, ob Gegenwart zum bloßen Effekt geworden ist.

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Spricht man gelegentlich noch unachtsam die Wörter, die für die Abkürzung PC stehen, vollständig aus, so klingt das merkwürdig antiquiert. Der persönliche Computer, vor zweieinhalb Dekaden erst in massenhaftes Funktionieren gebracht, erweckt aufdringlich den Eindruck, als sei er ein Konzept aus der Vergangenheit.

Einerseits sind die von Algorithmen und Mikroelektronik getriebenen Apparate den Körpern ihrer Nutzer regelrecht auf den Leib gerückt, den Funktionen des Bio-Adapters Oswald Wieners durchaus vergleichbar. Die sich in die Hand schmiegende und über den Tisch oder das Pad gleitende Maus hat in den frühen Achtzigern begonnen, die Bedienung von alphanumerischen Tastaturen allmählich überflüssig zu machen.

Die allzeit einsatzbereiten Nutzer tragen das letzte Interface für die mobilen Varianten der Endgeräte noch am und vor dem Körper, bevor es im nächsten Schritt unter die Haut gehen wird. Die glatten abgerundeten Artefakte der Kommunikation schmiegen sich in die Hand. Ihre flachen transluzenten Bildschirme werden mit den Fingerkuppen gestreichelt als wären sie die poröse Haut, die den Körper des anderen umschließt. Man wacht mit ihnen morgens auf. Für Viele sind sie das letzte, das sie berühren, bevor sie einschlafen, zum Beispiel wenn sie von ihrem elektronischen Dauerbegleiter geweckt werden wollen.

Die kleinen dynamischen Datenpakete mit techno-sinnlichem Zugang organisieren das Privatleben ebenso wie die Arbeit, das Studium, die Schule. Das Büro und damit die Verwaltung sind ubiquitär geworden. Das Leben wird administriert.

Paradiesaggregat Interface?

Die Artefakte sind intime Anhängsel der bio-logischen Einheiten geworden und helfen diesen, in der techno-logisch strukturierten Wirklichkeit besser zurecht zu kommen und sich orientieren zu können. Sie sind Bestandteil jener Paradiesaggregate, die wir benötigen, damit wir mit der Welt in Eintracht leben können und die Welt uns einigermaßen erträgt. Der Glücksanzug (Wiener) heißt heute Interface oder – ich bevorzuge die dramatischere deutsche Variante – Schnittstelle.

Andererseits haben Computer nichts Persönliches mehr an sich. Sie sind nicht länger autonome Stationen der Arbeit und des Amusements, wie es der Atari ST (Sixteen/Thirtytwo) oder der Commodore 64, mit denen wir uns in das Computieren eingeübt haben, noch waren. Die algorithmischen Prothesen von heute sind keine selbstständigen Einheiten mehr. Wo immer sich die Nutzer digitaler Notizbücher und Arbeitsstationen befinden, sind sie angeschlossen an telematische Knoten des Befehlens und des Befehleempfangens, des Bestellens, Verteilens, Informierens, der Propaganda. Das ist die Regel.

Computer, die Durchlauferhitzer der Kommunikation…

Die Daten, welche die mobilen Artefakte bevölkern, sind vielfach individuell codiert, haben nur für den Einzelnen entzifferbare Zusammenhänge. Aber die individuellen Geräte sind keine Endstationen (terminals) mehr, sondern sie funktionieren als Schnittstellen für ein System aus Telekommunikation und Informatik, in dem viele andere zur selben Zeit ebenfalls angeschlossen sind und in mehr oder weniger umfangreichen Dialogen miteinander, gegeneinander oder völlig beiläufig agieren. Sie sind Durchlauferhitzer für diverse Informations- und Kommunikationsprozesse.

Der einzelne laptop, das einzelne powerbook und ihre noch mobileren Varianten, die über keine stationären Laufwerke mehr verfügen, sind individuelle Verknüpfungen innerhalb von Dispositiven, die man mit überschwänglicher Geste soziale Netzwerke nennt. Der Wortstamm socius ist bei dem Adjektiv auf seine ursprüngliche Bedeutung reduziert: nämlich Teilnehmender zu sein, sich zu anderen gesellen, in einer Verbindung des Austauschs zu stehen, nicht mehr und nicht weniger.

…und Programme, die neuen Gastarbeiter

Die Nutzer bedienen Aktualisierungsmaschinen. Die einzelnen Artefakte funktionieren als handliche temporäre Behältnisse für eine Unzahl von anderen Artefakten programmlicher Art, den Anwendungen. Sie werden nur dann in Funktion genommen, wenn sie tatsächlich gebraucht werden. Das Partikulare besteht in der momentanen Vergegenwärtigung. Wie sich beim Kino für die ersten hundert Jahre die Variante durchgesetzt hat, gegen ein bestimmtes Entgelt gestaltete Zeit mieten zu dürfen, zahlen die Mitspieler im telematischen Netz für die Aktualisierung von Anwenderprogrammen.

So spielen sie auch zukünftige Applikationen für stationäre Computer durch. Die Anwendungen wandern aus der einzelnen Hardware aus und werden bei Bedarf temporär importiert. Programme werden zu geliehenen Dienstleistern; sie werden wie Gastarbeiter oder Leiharbeiter behandelt. Die Geräte werden zunehmend als Gehäuse für die Benutzung der so genannten sozialen Netzwerke eingerichtet und gestaltet. Jene entwickeln sich wiederum zu den zeitgemäßen Marktplätzen.

Bedeutet diese Aktualisierung wirklich Aktivierung von Gegenwart?

Soviel Erinnern und soviel Biographie wie im Zeitalter der Technologien des Vergessens hat es noch nie gegeben. Zukunft wird gegenwärtig in großer Unmittelbarkeit als das geplant, woran man sich erinnern wird oder erinnern soll: sie wird verbindlich. Besonders merkwürdig ist ein Phänomen, das wir, in Verlängerung einer Maschine der Firma Ampex von 1967, die instant replay hieß, und in Weiterführung eines Gedankens Vilém Flussers zur elektronischen Aufzeichnungstechnik, instantane Archäologie nennen können.

YouTube: eine Echtzeit-Archäologie

Was Ende der 1960er Jahre für professionelle Eliten, im Sport oder für feinmotorisch organisierte Arbeitsprozesse, entwickelt wurde, ist heute massenhaft installierte Kulturtechnik. In der digitalen Fotografie tritt das Phänomen am offensichtlichsten zu Tage. Aufgrund der extremen Verkürzung der Zeitspanne zwischen Aufnahme und Wiedergabe kann jeder sofort gezeigt bekommen, wie er noch vor wenigen Sekunden ausgesehen hat, und er wird mit diesem Wissen ein Gesicht machen, das für die nächste Aufnahme gewappnet ist. Junge Leute üben sich bis zum Exzess in dieser Kulturtechnik einer Echtzeit-Archäologie. Plattformen wie YouTube oder MySpace sind die exzessiv besetzten Spielplätze für diese Kulturtechnik.

Ist das überhaupt eine Form des Erinnerns oder nichts anderes als eine geringfügige Dehnung des Augenblicks in die Vergangenheit hinein? Haben wir es hier nicht mit einer pro-spektiven Archäologie zu tun oder gar mit einer fortgeschrittenen Form des »Entinnerns«? Es ist nicht der Blick zurück, auf den es der instantanen Archäologie ankommt, sondern der Blick, der durch das gerade Vergangene hindurch nach vorne gerichtet ist. Im Moment eines stattfindenden Ereignisses schon Gegenstand einer Erörterung von Vergangenem zu sein, schafft das Präsens ab.

Gegenwart wird zum Effekt

Gegenwart wird zum bloßen, extrem kurzzeitigen Effekt für die Zukunft, zur minimalen, nicht mehr erfassbaren Zeitgröße, eben zum Moment der Aktualisierung. Durch die extreme Verkürzung der Speicherzeiten und die gleichzeitige Ausdehnung der Speicherkapazitäten ins Unermessliche fällt nicht das Vergangene dem Vergessen anheim, sondern die Möglichkeit, Gegenwart zu erleben und zu genießen. Dafür ist keine Zeit mehr. Zukunft und Vergangenheit werden unmittelbar und effektiv miteinander verkoppelt.

Im Kern bedeutet das die Durchsetzung der kybernetischen Idee im psycho-sozialen Zusammenhang. Die wachsende Fähigkeit zur »instantanen Kalkulation höchst komplexer Interaktionen« hat Zbigniew Brzeziński schon 1970 als wesentliches Charakteristikum einer technetronischen Gesellschaft bezeichnet. Nachdem die Bereitschaft und Notwendigkeit zur sozialen Interaktion sich als Qualifikationsanforderung in beliebige Jobbeschreibungen hinein formuliert hat, wird nun die Fähigkeit zur Unmittelbarkeit zum höchsten Gut im mittelbaren Handeln technischer Kommunikation.

Der Nachfolger von „cogito ergo sum“

Dennoch, das You tube – therefore you are der gegenwärtigen Moderne, die von vielen Theoretikern, mangels eines besseren Begriffs, immer noch Postmoderne genannt wird, ist eine wirksame Alternative gegenüber dem eitlen cogito ergo sum (ich denke, also bin ich) der klassischen Moderne. Lacans Zweifel an der logischen Konsistenz der Verbindung zwischen dem denkenden und dem seienden Ich wird dadurch im technisch basierten Alltagsritual am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts nicht nur grandios bestätigt. Es kann auch zum Ausgangspunkt eines Handelns werden, das sich der Unmöglichkeit souveräner Subjektivität längst bewusst ist. Zumal die zersplitterten Subjektivitäten ebenso zersplitterten Gegenstandswelten gegenüberstehen.

Die Vorstellung von einem geschlossenen Block des Hegemonialen war schon immer genauso ein Phantasma wie die Vorstellung vom starken Subjekt als Mittelpunkt des Universums. Die Idee eines fragilen Subjekts könnte weiterhelfen, das Konzept einer schwingenden Existenz, wie es Gianni Vattimo vorschlägt. Darunter versteht er ein schwaches Subjekt, das aber meines Erachtens seine Lebenskraft auch nur aus dem Verhältnis zum Anderen beziehen und so durch den Anderen ein mitunter starkes Subjekt werden kann. Viele gute Gedanken sind paradox…

Anm. d. Red.: Das Foto oben stammt von Andi Weiland und steht unter einer Creative Commons Lizenz. Der obige Text entstammt Siegfried Zielinskis Buch [… nach den Medien] – Nachrichten vom ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert und erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Merve Verlags.

2 Kommentare zu “Gegenwartseffekte: Nach „Ich denke, also bin ich“ kommt „You tube – therefore you are“

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