Wir sind viele Lenins

Wenn ein Mensch stirbt, beginnt der Puls der Nacht zu schlagen. Dieser Puls schlaegt besonders vernehmbar, wenn es sich bei dem Begrabenen um eine Beruehmtheit handelt. Als Zombie bleibt diese Beruehmtheit eine Figur des oeffentlichen Lebens. Beispiele? Nehmen wir Lenin. Sein Schritt ins Jenseits im Jahre 1924 war gleichbedeutend mit einem grossen Schritt tiefer in das kognitive Kellergewoelbe jener Massen, die der Revoltionsfuehrer bis dato in seinem Bann hielt.

Seine physische Abwesenheit bahnte den Weg fuer eine Praesenz der besonderen Art: Lenin wurde zu einem Sinn-Container, der groesser, aufnahmefaehiger war, als jemals zuvor und selbst jenen Unterschlupf gewaehrte, die ihn waehrend seines >ersten Lebens< nicht kannten. Wenn die Aegypter ihre ehemaligen Herrscher in Pyramiden verscharrten, die das Leben aller allein schon durch ihre Ausmasse in Raum und Zeit ueberschatteten [wie lange und wie viele Menschen mussten fuer den Bau schuften?], so wurde fuer Lenin mit einem herrschaftlichen Mausoleum gewissermassen ein russisches Pendant zur Pyramide errichtet. Gerahmt von Begraebnismarathons, begleitet von Medienberichten und aufgewertet durch unterschiedlichste Druckerzeugnisse, die jedermann nach Hause nehmen konnte. >Lenin lebt in uns allen, wir alle leben in Lenin!<. Mit dieser Verlautbarung brachte das Zentralkomitee die Stimmung der Zeit auf den Punkt, sicherte sich mit diesem gezielt geschuerten Totenkult aber auch die Herrschaft. Eine riskante Rechnung. Denn wenn Lenin in uns allen lebt – lebt er somit nicht auch auf jeweils andere Weise und zu jeweils unterschiedlichen Bedingungen weiter? Um einen Tocotronic-Vers zu paraphrasieren: Wir sind viele Lenins, jeder Einzelne von uns. Wie viele Leben aber hat Lenin? Wer hat sich seinen Geist angeeignet? Auf welche Weise? Konnten im Zuge dessen Herrschaftsansprueche unterwandert werden sowie die damit verbundenen Instrumentalisierungen einer Totengemeinschaft? Mit solchen Fragen setzen sich Denker in dem Sammelband >Lenin Reloaded< auseinander. Das Osteuropa-Institut der FU hat derweil eine Filmreihe zusammengestellt, die diesen umtriebigen Zombie einer filmisch-reflexiven Analyse unterzieht: >Lenin lebt!<.

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