Wir lernen hier und jetzt

Von Brecht gibt es ein schönes Wort: Lehrwert. Das wäre wieder aufzugreifen in den aktuellen Debatten über die Aneignung und Enteignung des Wissens. Über die politische Ökonomie der Wissensgesellschaft. Über die immaterielle und intellektuelle Produktion. Interessant wird’s in der Übersetzung. So hat Brecht seine Lehrstücke als “learning plays” übersetzt – was viel plausibler ist, schließlich geht es ja genau darum, dass es die Spielenden sind, die dabei etwas lernen sollen, nicht die Zuschauenden (die werden nur hineingelassen, wenn ihre Anwesenheit den Spielenden nutzt).

Also warum nicht gleich so – warum keine “Lernstücke”? Wahrscheinlich hing Brecht zu sehr an der “Lehre”. Nun ist dieses Wort so tief in Ungnade gefallen, dass man sich schon fast danach bücken, bzw. ducken muss, wenn man es wieder in den Diskurs schmuggeln will. Weil die “Lehre” in Form der “reinen Lehre” für die Abstrafung der Abweichler steht, für die Kalkgrube, das Auslöschen des Antlitz, die Vernichtung des Anderen. Genau das aber soll gelernt werden in Brechts wohl berüchtigstem Lehrstück: “Die Maßnahme”.

Sterben lehren – das geht nicht

Doch was genau soll nun gelernt werden? Junge Genossen killen oder sterben? Das ist nicht so ganz klar – und vielleicht geht es genau darum, um diese Unentscheidbarkeit, um die Schwelle zwischen der Tat und der Untat. Sterben zu lernen war schließlich die nobelste Aufgabe für Philosophie und Kunst seit der Antike. Und genau hier müsste man ansetzen, das wäre der Punkt: sterben lehren – doch das geht nicht: Man stirbt alleine.

Aber eben im Sterben verschwindet jenes ‘man’, jene Anonymität der Städtebewohner ebenso wie das Phantasma des unbeirrbaren Individuums und macht Platz für etwas anderes: jene “kleinste Größe” von der Brecht im Todeskapitel seines FATZER-Fragments spricht, seinem großen gescheiterten Lehrstück.

Am Ende des FATZER-Materials von Brecht gibt es auch den Entwurf für große und kleine Pädagogien, in dem die Lernenden Gesten einstudieren, Haltungen ausprobieren etc. Diese Pädagogien beschäftigen mich, seitdem ich zu Brechts 100. Geburtstag (1998) Teil eines szenischen FATZER-Projekts war, das unter der Regie von Hans-Thies Lehmann im I.G.-Farben-Haus in Frankfurt am Main stattgefunden hat.

Das I.G.-Farben-Haus hat eine unheimliche Geschichte – wie Kafkas Schloß steht es neben dem Grüneburgpark, war sozusagen Frankfurts erstes Hochhaus noch bevor die Skyline auf den Trümmern der zerbombten Stadt errichtet wurde. Dieser Ort war die Mordzentrale eines der schlimmsten Kriegsverbrecher-Konzerne (I.G.-Farben hat ein eigenes Außenlager in Auschwitz-Birkenau betrieben), wurde später zum Headquarter der US-Army, auf das die RAF einen Bombenanschlag verübte (seitdem war es durch den NATO-Zaun von der Stadt abgeschirmt) und wurde dann nicht Zentrale der EZB, sondern Uni-Campus.

Das I.G.-Farben-Haus als Lernumfeld

Ich bin schon auf dem Weg zur Schule jeden Morgen am I.G.-Farben-Haus vorbeigeradelt. Jahre später erlebte ich wie die Geisteswissenschaften der Goethe-Universität von Bockenheim in dieses Haus einzogen, das nun gerne als ‘Poelzig-Bau’ oder ‘Campus Westend’ bezeichnet wird.

Was also habe ich gelernt in jenen drei Nächten 1998 – zwischen 20 Uhr und Sonnenaufgang – in denen wir rund um das Casino (wo die RAF-Bombe explodierte) FATZER performt haben? Was habe ich über die Uni gelernt, als sie sich aus dem Bockenheimer Campus zurückzog (Sitz des Instituts für Sozialforschung, Ort der Frankfurter Schule und Schauplatz der Studentenbewegungen 1968ff.) und sich in einem idyllischen Ivy League School Environment einnistete (in dem jetzt Studiengänge wie “Law & Finances” gelehrt werden)? Was habe ich gelernt auf dem Weg zur Schule, dem Lessing-Gymnasium, jenem letzten altsprachlichen Gymnasium – als letzter Jahrgang, der noch obligatorisch Alt-Griechisch lernen musste (und ab der 5. Klasse Latein)?

Nun: “Non scholae, sed vitae discimus!” (“Nicht für die Schule, sondern fürs Leben lernen wir!”) Schreibt euch das hinter die Ohren! Setzen! Heute jedoch lernen wir ja bekanntlich ein Leben lang, als ob ein Haufen aufgeklärter Seneca-Schüler den Kapitalismus reformiert hätte – um das ganze Leben zur Schule zu machen! Seit diesem Zeitpunkt, seitdem sich die Fabrik in die Gesellschaft aufgelöst hat (spätestens 1977ff.) lernen wir lebenslänglich fürs Überleben im postmodernen Kapitalismus.

Leben und sterben, lernen und lehren

Davon hatte ich auf dem Weg zur Schule noch keine Ahnung – doch lud schon damals der morgendliche Park zum Schwänzen ein. Ich wusste: Später wird man es stets bereuen, den richtigen Zeitpunkt verpasst zu haben, Schule zu schwänzen – wie in einem Zeitkristall schießen da die intensiven Momente des Lebens zusammen und ergeben ein Muster, den Kaffeesatz des eigenen gelebten Lebens, jenen berühmten Lebensfilm, der sich im Moment des Todes abspult.

Leben und Sterben sind so ineinander verschlungen wie Lernen und Lehren: “Je voudrais apprendre à vivre enfin” heißt es im ‘Auftakt’ von Derridas Marx’ Gespenster: “Ich möchte endlich lernen, endlich lehren zu leben.” Adressiert von Schulmeistern klingt das wie eine Drohung, eine Dressur. Dennoch: Leben lernen zu wollen, von sich selbst, ist eine logische Unmöglichkeit, eine Aporie – von ihr ist auszugehen, loszugehen, von dieser Grenze zwischen Leben und Tod, Lebenden und Toten, unverzüglich.

Das Leben ist nicht anderswo

Denn das ist das Perfide an den den Seneca-Satz zitierenden Humanisten. Was suggeriert wird ist: Das hier ist nicht Dein Leben. Dein Leben fängt erst an, wenn Du hier raus bist. Aber sobald Du raus bist, fängt das Leben auch noch nicht an. Sondern erst wenn Du da raus bist, wo Du dann rein gekommen bist – nach der Schule. Das Leben ist nicht anderswo, wie ein gewisses Pariser Grafitti einst versprach, sondern das Leben ist das, was wir lernen, indem wir leben und umgekehrt.

Will sagen: Die semantische Nähe von “Leben” und “Lernen” sollte ausgebaut werden in Zeiten der biopolitischen Produktion – jene “kollektiven Lernprozesse”, von denen auch Hans-Jürgen Krahl in Frankfurt sprach, als die Studenten auf die Barrikaden gingen. Als ein solcher Prozess ist auch die Besetzung eben jenes Casinos zu sehen, das ich oben beschrieben habe. Wütende Studierende haben es diesen Winter besetzt. Gut so! Verwandelt das Casino – in eine Schule, eine eigene Schule: “für eine freie Universität”! Endlich zu lernen, zu lehren, endlich zu zu sein, d.h. zu leben!

14 Kommentare zu “Wir lernen hier und jetzt

  1. Dankeschön! Wie recht Du hast, man bekommt ständig vermittelt, dass man noch nicht angekommen ist, und das ist ein blödes Gefühl. Andererseits wollen wir uns immer weiter entwickeln, das Leben als Weg sehen, und das ist heute verdammt schwer.

  2. Ist deine Forderung, dass “die semantische Nähe von “Leben” und “Lernen” ausgebaut” werden sollte, eine Forderung danach, dass “lebenslange Lernen”, den Verwertungslogiken des Neolibarlismus zu entziehen? Und dass demnach eine neue Defintion des lebenslangen lernen wagen muss?

  3. Hatte Brecht doch mit allem Recht? Kleiner Scherz ;) Aber mal ganz im Ernst: Mir ist der Zusammenhang zwischen Lehr/Lernstücken, Leben/Lehren nicht ganz aufgegangen. Vielleicht gibt es eine Möglichkeit für den AUtor, das noch mal mit anderen Worten zu sagen? Ich würde mich sehr freuen!

  4. Mich schockt: In einer Kriegsverbrecherfabrik sitzen heut die Nachfolger der Frankfurter Schule. Und ich frage mich: Wird dieses Lernumfeld von der Universität aus genügend reflektiert? Wissen die Studenten, wo sie sich befinden? Oder spielt das heute alles keine Rolle mehr?

  5. Scherz beiseite: Natürlich hatte Brecht recht! Mir geht es um jenen mittleren Bereich, jenes dritte Geschlecht der Verben, das es im Deutschen nicht gibt, im Alt-Griechischen jedoch schon (da ist sie wieder, die humanistische Schulbildung): nämlich das Medium, weder aktiv noch passiv, sondern aktiv-passiv oder passiv-aktiv, ein Geschehenlassen: So stelle ich mir das Leben vor, das ja eben auch nicht nur aktiv von uns gelebt wird, sondern das auch uns lebt – so wie die Sprache ja auch nicht nur von uns gesprochen wird, sondern uns spricht. Dafür ein Bewußtsein zu finden, für diese Balance, das wäre vielleicht die Lebenskunst – und die kann man weder lehren noch lernen, weder vermittelt bekommen, noch ganz allein auf sich gestellt verstehen, sondern nur in jenem merkwürdigen Schwebezustand, der uns zu einem gesellschaftlichen Wesen macht, zu einem Fisch im Wasser des Wissens. Und dieses Lebenlernen ist untrennbar vom Sterbenlernen, denn auch der Tod ist, wie Nancy gezeigt hat, zugleich höchst singulär und allgemein, das allergemeinste, was man sich vorstellen kann. Und was hat das mit der Frage nach Krieg und Frieden zu tun? Dazu lese man bitte einen anderen alextext: http://www.andco.de/index.php?context=media&section=texts_theory_theatre&id=1694

  6. @Holysh*t: Es gibt von einer Minorität von Studierenden am IG Farben Campus den Versuch dazu: http://initiativestudierenderamigfarbencampus.wordpress.com/ Von seiten der Universitätsleitung wurde seit dem Umzug 2001 meist mit einer Geschichtspolitik der Verdrängung oder der Verharmlosung operiert wie man an Namen wie “Westend Campus” oder “Poelzig Bau” sehen kann. Auf Betreiben von Studierenden wurden 2004 in Zusammenarbeit mit dem Fritz Bauer Institut Überlebende von Buna-Monowitz eingeladen und seit einiger Zeit gibt es auch ein größeres Gedenkprojekt auf dem Gelände, zu dem auch ein Archiv gehört mit Zeugenaussagen, das man auch im Internet finden kann. Jedoch genießt die Majorität der Studierenden die parkähnliche Idylle und nimmt auch gerne die verordnete Hygiene in Kauf, die sich auch gegen jegliche Art von politischer Aufklärung richtet, sei es Flugi, Spucki, Aufklebi… Das hat sich in diesem Winter schlagartig geändert mit der Besetzung des Kasinos, die brutal von der Polizei geräumt wurde. Video: http://www.daburna.de/blog/2009/12/07/video-der-raeumung-des-casino-frankfurt/

  7. “Die Funktion von Kunst besteht […] darin, die Wirklichkeit unmöglich zu machen.” – so mein Vorbild Heiner Müller. Kongenial dazu vielleicht “Die Funktion von leben besten darin, das sterben unmöglich zu machen.” Demnach können wir nie wirklich lernen. Daher frage ich mich:
    @Alex: Gibt es diesen Schwebezustand von dem du sprichst überhaupt. Entweder wir leben oder wir tun es nicht, entweder wir lernen, oder wir werden gelernt…

  8. Manchmal tritt man, manchmal wird man getreten – das ist die Logik Deines PCs, ON – OFF, 1 – 0, übertragen auf die Gesellschaft. Demgegenüber steht eine andere Logik, die Logik der Poesie. Sie zu verteidigen war Müllers erstes und einziges ethisches Gebot: Zu verhindern, dass die Maschine die Macht übernimmt. Was sehen wir auf der Bühne? Einen Sterbenden, einen potentiell Sterbenden. Daher kommt unsre Solidarität mit ihm (O-Ton Müller).

  9. @HolySh*t: Ergänzend zu Alex’ Zusammenfassung zum Umgang von Universität und Studierenden mit dem Campus ums IG Farben Haus: Es gibt das Wollheim Memorial (www.wollheim-memorial.de), sowohl vor Ort über eine Kunstinstallation und einen Dokumentations- und Arbeitsraum verankert wie auch übers Netz abrufbar; es gibt eine Performance-Gruppe die sich unter anderem kritisch mit Universität und Studium auf dem Gelände auseinandersetzen (http://artychock.webs.com/), und es gibt die erwähnte Gruppe Studierender am IG Farben Campus; nichtsdestotrotz sind das natürlich (leider nur) einzelne Initiativen.

  10. Pingback: Baustellen bilden

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