WikiWomen: Warum es zu wenige aktive Frauen bei der Wikipedia gibt und wie sich das ändern lässt

Geschlecht und Netzgemeinschaften – das Thema wird heiß diskutiert, nicht zuletzt weil im vergangenen Sommer der Computerspiel-Community Morddrohungen gegen Frauen ausgesprochen wurden. Auch die Online-Enzyklopädie Wikipedia hat mit dem Gender-Gap zu kämpfen: Nur 10 Prozent der AutorInnen sind weiblich. Wirkt sich das auf den Inhalt aus? Lässt sich das ändern? Die Künstlerin Cornelia Sollfrank spricht mit der Wikipedia-Frauen-Aktivistin Silvia Stieneker. Ein Interview.

*

Cornelia Sollfrank: Wie bist du dazu gekommen, für Wikipedia zu arbeiten? Wann hast du damit begonnen? Und was genau hast du gemacht, bzw. machst du noch?

Silvia Stieneker: Ich bin 2012 von Wikimedia Deutschland angefragt worden für ihr Referenten-Netzwerk zu arbeiten. Diese Referenten sind in Schulen gegangen, Universitäten etc. und haben vorgestellt, wie Wikipedia funktioniert. In diesem Netzwerk waren damals ca. 30 sehr engagierte Referenten, allerdings fast nur Männer – einige Frauen waren sporadisch dabei. Da Wikipedia aber auch immer wieder Anfragen von Frauengruppen, Frauentreffs etc. bekommen hat und das Thema Gender Gap zu der Zeit sowohl in der Wikimedia-Bewegung als auch medial breiter diskutiert wurde, wurde es notwendig, aktiv Frauen einzubeziehen. Es war von Anfang an klar, dass sich zu wenige Frauen bei Wikipedia engagierten, nur ca. 10 Prozent der Mitarbeitenden in der deutschsprachigen Community sind Frauen.

Ich habe einen journalistischen Hintergrund, und früher für das Kompetenzzentrum Technik-Diversity-Chancengleichheit im Bereich Digitale Integration gearbeitet und dort und an anderen Stellen medienpädagogische Workshops gegeben. So kam die Einladung zustande, und ich fand es gut und einleuchtend, mich da zu engagieren. Letztendlich wurde ich Referentin – und gleichzeitig auch Autorin. Aus dieser Referentinnen-Tätigkeit ist dann das Women edit-Projekt hervor gegangen, das ich von Sommer 2013 bis Ende 2014 geleitet habe.

Diese Funktion, anderen die technischen Grundlagen beizubringen, nennt man bei Wikipedia ‚Referent’…

Ja, aber das Referent_innennetzwerk existiert leider nicht mehr. Ich musste damals ja auch erst Erfahrungen sammeln mit dem Editieren; das habe ich parallel zu ersten Hospitationen bei Workshops gelernt. Dabei wurde mir klar, dass die Schwierigkeit gar nicht in der Technik liegt, also im Editieren selbst; da gibt es ein paar Kniffe, aber das kann man ganz schnell lernen.

Was ist dann das Schwierige?

Ich würde sagen, das was Frauen oft erst einmal abschreckend finden, ist die Art der Kommunikation unter den Wikipedianern. Da braucht man eine große Hartnäckigkeit und dann natürlich diese Grundhaltung, davon überzeugt zu sein, dass man etwas weiß, was wichtig genug ist, um es aufzuschreiben und im Internet zu veröffentlichen; viele Frauen haben diese Einstellung gar nicht. Seit einiger Zeit wird dieses Phänomen als Impostor-Syndrom bezeichnet (HochstaplerInnen-Syndrom, das eigene Licht unter den Scheffel stellen).

Wenn man dann neu ist bei Wikipedia wird man erst einmal kritisch beobachtet – was wohl allen Communities gemein ist… Wenn Leute sich freiwillig engagieren und es kommt jemand Neues dazu, dann wird erst einmal geprüft und beäugt, kann der/die was, bringt uns der/die was… Will der/die sich langfristig engagieren…? Dazu kommt, dass bei Online-Kommunikation die Gefahr, sich misszuverstehen sehr groß ist und dann die Dinge eskalieren – und bei Wikipedia scheint mir das ganz extrem zu sein. Es herrscht wohl ein großer Drang bei vielen Leuten, sich zu behaupten und „es besser zu wissen.“ Wenn man der Meinung ist, über ein Thema Bescheid zu wissen, dann gibt es mit Sicherheit ein paar, die es besser wissen. So kommt es schnell zu Konflikten und das ist für alle Newbies nicht leicht, auch weil der Ton sehr unfreundlich werden kann.

Das heißt, der Gender Gap bei Wikipedia hat nichts mit Technik zu tun, sondern ist eine Folge der spezifischen Kommunikationskultur?

So wird es vermutet. Man muss aber dazu sagen, dass das nicht für alle Bereiche gleichermaßen zutrifft. Wenn man sich jetzt vornehmen würde, den Sturm auf Wikipedia zu machen und etwa alle Artikel zum Thema Feminismus, Gender Studies etc. in seinem Sinne ändern würde, dann würde man sehr schnell Gegenwind bekommen und in Verdacht geraten, dass man nur ein bestimmtes Ziel durchsetzen will, d.h. nicht ernsthaft an der Enzyklopädie arbeiten will. Nimmt man sich hingegen erst einmal Nischenbereiche vor, geht es in der Regel ohne große Probleme. Am umstrittensten sind natürlich immer politische Themen…

… und ganz aktuelle feministische Themen, wie Gamergate. Sowohl der Gamergate-Skandal an sich, Morddrohungen gegen weibliche Game-Entwicklerinnen, und auch der Wikipedida-Eintrag dazu, brachten reichlich Konfliktpotenzial.

Ja, genau. Das war ein Riesenkonflikt in der englischsprachigen Wikipedia. Antisexistische Autorinnen und Autoren wurden von Administratoren gesperrt. Sie wurden wirklich in ihrer Autorinnen-Freiheit eingeschränkt und durften keine Texte mehr zu den Themen Computerspiele, Gender und Sexualität bearbeiten – mit dem Argument, man müsse den Konflikt beruhigen.

Das heißt es hat sich dann bei Wikipedia das nochmal wiederholt, was sich vorher in der Games-Kultur abspielte?

Nein, Gamergate war schlimmer. In Wikipedia werden keine Morddrohungen verbreitet, wenn doch, wird das sofort sanktioniert. Offene Beleidigungen und Drohungen werden nicht toleriert, darum laufen die verschiedenen Diskriminierungen viel subtiler ab und sind auch schwerer zu beweisen und zu sanktionieren. Mein Rat für Anfängerinnen: erst einmal mit unverfänglichen Themen beginnen und einfach viel üben, um die Funktionsweisen kennenzulernen und auch passiv Diskussionen verfolgen und mitlesen. Der größte Fehler, den man als Newbie machen kann, ist zu sagen, so, ich mache hier jetzt erst einmal alles anders.

Konntest du während der 18-monatigen Projektlaufzeit von „Women edit“ eine Veränderung wahrnehmen?

Minimal. Das Thema Gender Gap stand immerhin mal im Fokus. So gab es zum Beispiel angeregte Diskussionen und Vorträge bei den jährlichen WikiCons (Treffen der deutschsprachigen Wikipedia-Mitarbeitenden). Immerhin haben wir es geschafft, ein regelmäßiges Treffen für Frauen hier in Berlin zu etablieren. Die Frauen können dort andere Verbündete treffen, zusammen arbeiten, sich in Konflikten mit der Community zur Seite stehen usw.

Und zusammen mit anderen lassen sich dann auch besser Strategien entwickeln…

Unsere Hauptstrategie war, möglichst viele Real-Life-Veranstaltungen zu machen, weil wir bemerkt haben, dass viele Frauen den Zugang zu Wikipedia leichter finden, wenn sie es in einer nicht anonymen Gruppe machen, wenn einfach jemand da ist, den sie schnell was fragen können. Das hat sich sehr gut etabliert und bringt wahrscheinlich viel mehr als eine große Medienkampagne, die Frauen auffordert mitzumachen.

Diese Art der Betreuung erfordert natürlich auch eine Menge Ressourcen.

Meine Arbeit für die Gruppe, die weiterläuft und sich jeden ersten Mittwoch im Monat trifft, leiste ich jetzt ehrenamtlich. Und dadurch, dass es eine große Kontinuität gibt und viele inzwischen sehr erfahren sind, habe ich auch keine Sonderrolle mehr. Denen muss ich nichts mehr erklären, da geht es eher um Zusammenarbeit, und wenn Neue dazu kommen, werden die ganz organisch integriert. Die Stimmung ist gut und vertrauensvoll, so dass man sich einfach gern gegenseitig weiterhilft.

Gibt es denn noch eine Diskussion darüber, ob Wikimedia weiterhin Ressourcen zur Verfügung stellt, um den Frauenanteil aktiv zu erhöhen?

Als Thema bleibt es sicher aktuell, nur bei Wikimedia Deutschland steht es gerade leider nicht besonders weit oben auf der Agenda. Aber man muss auch sagen, dass es bereits eine Menge Aktivitäten gegeben hat, so war z.B. vor zwei Jahren hier in Berlin eine große internationale Konferenz zum Thema Diversity bei Wikipedia.

Was hat sich daraus ergeben oder entwickelt?

Es sind sehr viele Ideen entstanden, die durchaus in den verschiedenen Chaptern der Foundation weiter betrieben werden. Im Moment läuft z.B. weltweit ein Ideenwettbewerb für frauen-spezifische Projekte, für die man eine Finanzierung beantragen kann. Dabei kann es sich auch um Forschungsprojekte handeln.

Es handelte sich bei dem „Women edit“-Projekt also nicht nur um eine kosmetische Verbesserung; die frauen-spezifische Arbeit wird tatsächlich ernst genommen und weiter aktiv gefördert?

Das Ziel meines Projektes war es auch, Nachahmerinnen zu finden, d.h. regelmäßige Gruppentreffen für Frauen auch in anderen Städten anzuregen, aber da ist noch nicht viel entstanden. Ich bin auch herumgereist und habe mit Interessierten gesprochen, aber es gab keinen großen Enthusiasmus. Es gibt auch nicht wenige Frauen, die für Wikipedia arbeiten und die Gender Gap-Problematik abstreiten mit Aussagen wie „Geschlecht ist keine Kategorie im Internet“ oder „Es gibt heute doch gar keine Benachteiligungen mehr“ etc. Ich war manchmal frustriert darüber, wie wenig Solidarität es unter den Frauen gibt. Viele Frauen bei Wikipedia verstehen sich nicht unbedingt als „Frau“ in Wikipedia, das müssen sie ja auch nicht. Aber ich würde mir trotzdem einen besseren Zusammenhalt wünschen.

Das scheint mir in vielen Technikbereichen eine vorherrschende Haltung zu sein; ich denke das ist eine Überlebensstrategie.

Vielleicht. Diese Frauen wollen auch mit der Gender-Thematik nichts zu tun haben, und ich wurde in Einzelfällen sogar angefeindet, weil ich offensiv mit dem Thema umgegangen bin.

Welche Reaktionen hast du denn während deiner offiziellen Mission erlebt? Welche positiven und negativen?

Es gab durchaus hin und wieder Attacken gegen mich als Person, und der allgemeine Vorwurf kam, es sei Geldverschwendung für frauen-spezifische Angebote Geld auszugeben. Ich habe einige Rechtfertigungsemails erhalten von männlichen Usern, die mir erklärten, wie „divers“ sie doch selbst tagtäglich seien (lacht), oder mir versicherten, dass sie persönlich niemanden diskriminieren würden und es deshalb kein Thema sein könne…

Was ich spannend finde und was meines Wissens auch noch nicht ausreichend erforscht wurde, ist, wie sich der Gender Gap auf die Inhalte auswirkt. Das ist sicher sehr komplex und man müsste so eine Forschung eingrenzen, aber bisher hat sich niemand daran gemacht, es genauer zu untersuchen.

Es wundert mich, da es doch eine starke feministische Medienwissenschaft gibt, dass die sich noch nicht des Themas angenommen hat.

Genauso gibt es keine Forschung darüber, ob sich die User_innen mit ihrem tatsächlichen Geschlecht anmelden und wie sich die Bezeichnung als User oder Userin im Umgang miteinander auswirkt. Aus Erfahrung weiß ich, dass viele Frauen sich bewusst in der männlichen Form bezeichnen, einfach, um möglichem Ärger aus dem Weg zu gehen und sich nicht zu exponieren. Mich erinnert das eher an das 19. Jahrhundert, in dem weibliche Autorinnen unter männlichem Pseudonym agieren mussten, um überhaupt verlegt und gelesen werden zu können.

Oder sie subsumieren sich unter die Universalkategorie Mann/Mensch und haben keine Lust die Frau/Ausnahme zu sein… In solchen Zusammenhängen wird die Frau oft als das „Andere“ wahrgenommen.

Dadurch sind aber die, die sich aktiv frauen- und genderpolitisch betätigen noch isolierter.

Die Anzahl der aktiven Frauen zu erhöhen, ist die einzige Möglichkeit, die genderspezifischen Kommunikationsprobleme zu bewältigen. Je mehr Frauen da sind und sich als solche zu erkennen geben, desto weniger stellen sie eine Ausnahme dar. Aber wie du sagtest, es ist ein steiniger Weg.

Um den Frauenanteil sichtbar zu erhöhen, plädiere ich auch dafür, dass sich neue Userinnen in der weiblichen Form anmelden. Aber es ist immer noch so, dass gender-gerechte Sprache bei Wikipedia tabu ist; es gibt kein Binnen-I, kein Sternchen oder Unterstrich, der die Frauen oder gar noch andere Geschlechter anzeigen würde. Diese existieren in der Wikipedia-Sprache nicht. Es ist immer der Autor, der Administrator usw. Zwar gibt es dazu immer wieder Diskussionen, wie überhaupt sehr viel diskutiert und gestritten wird auf Wikipedia, aber zu diesem Thema bilden sich natürlich aufgrund der Zusammensetzung der Community keine Mehrheiten für eine gender-gerechte Sprache.

Das ist klar, eine demokratische Abstimmung hilft da wenig…

Und von oben herab kann man das auch nicht anordnen; würde es z.B. die Wikimedia Foundation verfügen, das ließe sich einfach nicht durchsetzen. Es ist eine Online Community, sie hat ihre Geschichte, ihre Zusammensetzung, ihre Dynamiken, der kann man nichts verordnen, und das ist ja auch eigentlich gut so.

Was natürlich auch genau das Reizvolle daran ist, das Faszinierende. Aber allein die Tatsache, dass der Gender Gap überhaupt Thema werden konnte, lässt ja schon hoffen, dass nicht alles so bleiben muss wie es ist und eine Lernfähigkeit besteht und ein Handlungsbedarf eingestanden wird.

Das hat natürlich auch mit der langjährigen Vorsitzenden der Foundation, Sue Gardner, zu tun. Sie hat sich sehr für Diversity engagiert (und die derzeitige Geschäftsführerin Lila Tretikov tut dies ebenso). Ohne sie würde es keine Edit-a-thons nur für Frauen geben – was für viel Polemik in der Community gesorgt hat. Dahinter stecken auch Ängste, wie im Fall des „Women edit“-Projekts, die Angst, dass dadurch anderen Autoren der Community was weggenommen würde, was absurd ist. Trotz dieses Engagements gibt es Sexismus. Der ist nicht unbedingt offensichtlich und wird nicht immer direkt ausgesprochen, sondern drückt sich oft auch indirekt aus.

Das heißt, er ist auch versteckt in den Strukturen …

Ja, durchaus, oder versteckt sich hinter den Strukturen. Andere Ärgerlichkeiten sind solche „Scherze“ wie z.B. eine bestimme Userin immer wieder mit „Fräulein“ anzusprechen, auch wenn sie das klar gemacht hat, dass sie es nicht möchte. So lange derartiges, diskriminierendes Verhalten nicht von der Mehrheit der User_innen aktiv abgelehnt und bekämpft wird, haben wir da ein Problem. Und wenn ich das sage, will ich nicht die Wikipedia Community nur schlecht machen; da sind viele kluge und engagierte Menschen am Werk, die eine tolle Arbeit machen…

Wenn du einen Wunsch frei hättest, was würdest du dir wünschen für Wikipedia?

Ich glaube tatsächlich, dass das alte feministische Thema der Sichtbarkeit, des Sichtbarmachens in diesem Kontext eine wichtige Rolle spielt, deshalb würde ich mir eine Portrait-Serie von aktiven Wikipedia-Frauen in einer größeren Zeitschrift oder Zeitung wünschen, einfach um sie als Rollenmodelle zu zeigen.

Anm.d.Red.: Das monatliche “Women edit”-Treffen findet immer am ersten Mittwoch des Monats statt. Um 18 Uhr geht es los, Ende ist zwischen 21 und 22 Uhr. Ort: Tempelhofer Ufer 23, 1. Etage bei Wikimedia Deutschland in Berlin Kreuzberg. Zur Anmeldung. Interview und Bild oben entstanden im Rahmen des Edit-a-thon Art+Feminism BERLIN Edition, Sonntags-Club e.V.

3 Kommentare zu “WikiWomen: Warum es zu wenige aktive Frauen bei der Wikipedia gibt und wie sich das ändern lässt

  1. “Nimmt man sich hingegen erst einmal Nischenbereiche vor, geht es in der Regel ohne große Probleme”

    Was soll das bedeuten? Das Frauen in der Wikipedia sich erst einmal mit kleinen Themen wie Wäsche, Essen und Kinder beschäftigen sollen, um Meriten in der Wikipedia zu erwerben, und die “großen” Themen den Platzhischen (Männer) überlassen sollen? Und dann – vielleicht! – auch einmal “aufsteigen” dürfen?

  2. Natürlich will keiner politische Extremisten aus der “Gender Science”-Fraktion bei Wikipedia Artikel frisieren lassen. Das versteht sich doch von selbst.

    Ansonsten gilt: Im Netz ahnt keiner, dass Du ein Hund bist.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.