Datenberge und Nachhaltigkeit: Wie sollten wir die 251.287 Depeschen auswerten?

Das Ereignis, das als “Cablegate“ in die Geschichte eingegangen ist, ruht inzwischen auf einem erstaunlichen Konsens: Kommentatoren, so unterschiedlich wie der linksradikale Philosoph Slavoj Žižek und der Pressesprecher der US-Botschaft in Berlin, sind sich darüber einig, dass die US-Depeschen eigentlich nichts enthüllt hätten. Diese Grundstimmung lässt uns darüber hinwegsehen, dass bislang nur ein ausgewählter Kreis von JournalistInnen eine ausgewählte Anzahl der Dokumente ausgewertet hat – wohlgemerkt mit dem hochgradig selektiven Kriterienkatalog der Massenmedien. Es ist an der Zeit, einen neuen Anlauf zu nehmen, meint die Journalistin und Medienwissen- schaftlerin Christiane Schulzki-Haddouti. Wir fragten sie mit Blick auf die 251.287 internen Berichte und Lagebeurteilungen der US-Botschaften: WAS BLEIBT?

*

Nach der ereignishaften “Enthüllung” Ende Dezember durch die Massenmedien SPIEGEL, Guardian, New York Times, Le Monde und El País ist die Auswertung der Depeschen ins Stocken geraten. Ich vermute, der Grund liegt in der Strategie, die bei der Erschließung des Datenbestands nahe liegt. Ein großer Vorteil der digital vorliegenden Depeschen besteht in ihrer digitalen Durchsuchbarkeit. Die Redaktionen haben eine so nahe liegende wie effiziente Strategie angewandt: Sie haben zunächst nach den Personen, Institutionen und Themen gesucht, mit denen sie sich bereits beschäftigt haben. Spiegel und Guardian haben auf diese Weise bis Ende Dezember rund 150 Geschichten veröffentlicht. Das ist eine ganze Menge. Gemessen an dem zur Verfügung stehenden Material jedoch ist das aber nur ein kleiner Bruchteil.

Ich vermute, dass die rund 3900 Dokumente, die bis heute (22.2.2011) auf WikiLeaks veröffentlicht wurden, von den Redaktionen verarbeitet wurden. Dies vorausgesetzt, lässt sich im Hinblick auf die noch bevorstehende Auswertungsphase eine einfache Rechnung anstellen. Bislang wurden in einem Zeitraum von 2,5 Monaten 1,5 Prozent der Depeschen ausgewertet. Dieses Veröffentlichungstempo vorausgesetzt, würde es also noch sieben Jahre dauern, bis alle Depeschen redaktionell bearbeitet und veröffentlicht sind. In dieser Zeit gibt es jedoch viele Faktoren, die zu einer Beschleunigung oder Verlangsamung der Veröffentlichungsrate beitragen können.

So hat etwa der SPIEGEL ein großes Expertenteam aufgestellt, das sich ausschließlich mit WikiLeaks beschäftigt. Es ist aus rein wirtschaftlichen Gründen unwahrscheinlich, dass dieses Team auch noch in sieben Jahren die Depeschen bearbeitet. Ein weiterer Risikofaktor ist der Prozess von Julian Assange und der weitere Fortbestand der Organisation WikiLeaks. Obwohl er ja in ein privat motiviertes Verfahren verwickelt ist, hat er dies inzwischen so eng mit der WikiLeaks-Strategie verknüpft, dass hiervon ein erheblicher Einfluss auf WikiLeaks selbst zu erwarten ist.

Komplexe Themen vs. Nachrichtenwert

Ich habe keine systematische Auswertung vorgenommen, von daher kann ich im Hinblick auf möglicherweise vernachlässigte Themen nur meinen Eindruck wiedergeben, den ich angesichts der Zusammenstellung des Guardian bekommen habe. Aufgegriffen wurden die Themen, die einen klassischen Nachrichtenwert haben. Auffällig war dies bei der Auswahl der Titelgeschichte des Spiegel, die die Bewertung bekannter Politiker durch die US-Diplomaten skandalisierte. Die Personalisierung ist eine erfolgreiche Strategie, um das Interesse der Rezipienten zu steigern. Ein weiterer Nachrichtenfaktor war natürlich die Überraschung.

Die Enthüllung der Depeschen selbst war eine Nachricht wert. Unerwartete Ereignisse lösen meist ein besonderes Interesse aus und könnten publikumswirksam inszeniert werden. Die Geschichte über den Auftrag des US-Außenministeriums, UNO-Mitarbeiter auszukundschaften thematisierte eine gesellschaftliche Normverletzung, die auf eine rechtswidrige Handlung zurückging. Das heißt, die Entscheidung basierte auf einer Suchstrategie, die sich an den Nachrichtenfaktoren orientierte.

Eine komplexe Geschichte hingegen wie die Liste der kritischen Infrastrukturen wurde erst sehr viel später publiziert. Aufgegriffen wurde sie von der Tagespresse, die aber nicht die Bedeutung der der Liste hinsichtlich ihrer politisch-strategischen Bedeutung analysierte. Dies hätte in die komplexe Diskussion um die Strategiefindung für den Schutz kritischer Infrastrukturen geführt, die aktuell auf EU- und Bundesebene geführt wird, die aber nur fachlich interessierten Lesern vermittelbar ist.

Ich vermute daher, dass komplexe Themen bei der Auswertung insgesamt vernachlässigt wurden. Sie verlangen deutlich mehr Nachrecherche und Einordnung, sind also aufwändiger in der Aufarbeitung. Ich vermute auch, dass Themen, die nur für Fachöffentlichkeiten interessant sind, ausgeklammert wurden. Aufgefallen ist mir das am Beispiel des Themas “Cyber Security“. Es spielt immer wieder eine Rolle, lässt sich jedoch nur über eine Vielzahl von Depeschen erschließen.

Den Exklusivitätskreis durchbrechen

Für Journalisten, die jedoch keinen Zugriff auf das gesamte Material haben, ist das zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht möglich. Verschiedene Strategien stehen JournalistInnen in dieser Situation zur Verfügung: Beispielsweise könnte man anfangen, die vom Guardian veröffentlichten Metadaten auszuwerten. Das könnte Hinweise auf interessante Policy-Änderungen geben. Für den Zeitraum rund um den 11. September 2001 wurde dies ja bereits vorgenommen. Sie zeigt, dass sich eine solche Analyse lohnen würde. Allerdings müsste man dann anschließend auch in das Material eintauchen können. Und das ist bei der gegenwärtigen Datenlage nur dem exklusiven Kreis von gegenwärtig sieben Redaktionen möglich. Das sind der Spiegel, der Guardian, die New York Times, Le Monde und El País sowie die Aftenposten und Die Welt.

Vor diesem Hintergrund könnten FachjournalistInnen und WissenschaftlerInnen versuchen, eine Kooperation mit den Redaktionen einzugehen, die den Exklusivitätskreis der “Fantastischen Fünf“ durchbrochen haben, also mit der Aftenposten und der Welt. Dabei sollte von vornherein eine klare Fokussierung auf bestimmte Themen und Fragestellungen erfolgen. Allein das Meta-Thema Policy-Making wäre für Politikwissenschaftler und Historiker hoch relevant. Da in letzter Zeit auch weitere Leaks wie etwa die Palästina-Papiere bei Al-Dschasira und dem Guardian entstanden, könnte man hier verschiedene Positionen und Strategien vergleichen und nach ausgesuchten Fragestellungen analysieren.

Die “Palästina-Papiere“ allein bieten Stoff für mehrere Dissertationen. Aus medienwissenschaftlicher Sicht könnte man untersuchen, inwieweit sich die Sicht der Diplomaten von der Sicht der Journalisten unterscheidet und in welchem Ausmaß sie Themen aufgreifen und vertiefen, die nicht auch von der Presse abgedeckt werden. Damit ließe sich feststellen, inwieweit sich Informationsflüsse im staatlichen Sektor vom öffentlichen Sektor unterscheiden. Frühere Studien haben etwa zum Thema “Open Intelligence“ festgestellt, dass 95 Prozent der Informationen, die Nachrichtendienste verarbeiten, aus öffentlichen Quellen stammen. Bei etwas längerem Nachdenken könnte man sicherlich noch auf viele weitere Themen kommen.

Anm.d.Red.: Die Verfasserin dieses Beitrags reichte am 12.12.2010 eine Beschwerde beim Deutschen Presserat gegen den SPIEGEL ein – da das Nachrichtenmagazin zu diesem Zeitpunkt für den deutschsprachigen Raum über einen exklusiven Zugang zu dem Gesamtpool der Depeschen verfügte und ihrer Ansicht nach damit gegen den Presserat-Kodex verstößt. Eine Entscheidung des Deutschen Presserats soll Ende März erfolgen.

39 Kommentare zu “Datenberge und Nachhaltigkeit: Wie sollten wir die 251.287 Depeschen auswerten?

  1. wie schätzen Sie in diesem Zusammenhang die Rolle der Massen ein? Stichwort: “crowdsourcing”, bzw. “kollaborativer Journalismus”.

  2. apropos Kartell und so: vor einiger Zeit las ich folgendes:

    “Jetzt hat die Aftenposten auch mit dem Svenska Dagbladet verhandelt, das seit gestern nun ebenfalls alle Depeschen sichten darf, so eine gestrige Meldung der Nachrichtenagentur AFP (23.01.2011).”

    Was ist aus dieser Geschichte geworden?

  3. mir kommen ein paar Fragen in den Sinn, die sich mir aufzwängen, wenn ich die schönen Bilder sehe und gegenlesen mit Worten wie Datenberg, etc.

    Ist der Datenberg, von dem hier die Rede ist, eine Schatzkammer oder eine Deponie? Anders gefragt: wie müssen wir unser Denken ändern, wenn wir die Deponie (die normalerweise auch nicht öffentlich zugänglich ist) künftig als Schatzkammer ansehen wollen? Wie passt hier das Bild des Bergwerks ins Bild – dieses Zeichen von körperlicher, industrieller Arbeit?

    ( http://de.wikipedia.org/wiki/Deponie )

    ( http://de.wikipedia.org/wiki/Schatzkammer )

    ( http://de.wikipedia.org/wiki/Bergwerk )

  4. @neuro grundsätzlich gut und wichtig, meine praktischen Erfahrungen haben mir aber gezeigt, dass man nicht all zu viel erwarten darf. Wir hatten ja im Zusammenhang mit der Enfopol-Berichterstattung (bitte googlen) auch schon auf Telepolis geheime Dokumente veröffentlicht in der Hoffnung, die Leser würden noch mehr daraus machen bzw. dass noch mehr Dokumente auftauchen würden. Aber da kam gar nichts. Detlef Borchers hat ähnliches bei Toll Collect mit Wikileaks versucht, aber auch das hat nicht funktioniert (siehe dazu meine Rezension bei der Fuzo http://p2.to/18aI ). Andererseits gab es ein paar gute Beispiele beim Guardian und Talking Points Memo. Es kommt wohl auf das Material an. Je eher es Expertenwissen verlangt, desto weniger dürfte das zunächst was bringen bzw. eine Plattform muss sich erst etablieren und eine gewisse Masse anziehen, dann könnte es was werden. Allerdings ohne weitere Belohnungsmechanismen schwierig.

  5. Ich stelle mir gerade vor, wie innerhalb der nächsten Jahre monatlich eine kleine Schlagzeile die Runde macht: “Wieder eine Wikileaks-Enthüllung aus dem Berg der Depeschen gefischt” – und es irgendwann alle nur noch so sehr interessiert wie “Wieder eine Studie, die beweist, dass Männer vom Mars und Frauen von der Venus kommen”.

  6. Eine Frage: Geht es Ihnen darum, dass Journalisten Zugang zu den Dokumenten bekommen, oder alle Bürger?

  7. @Leander Kaufmann Beide. Aber der Informantenschutz ist wichtig und muss erhalten bleiben. Daher ist eine Veröffentlichung für alle erst dann möglich, wenn die Dokumente entsprechend bereinigt wurden. Es muss ein Weg gefunden werden, der die Auswertung für alle beschleunigt.

  8. was ist nach wikileaks und den von dieser organisation ausgelösten digitalen datenfluten aus den innovationen des journalismus geworden, der seit der internet-revolution, web 2.0 etc. nicht mehr nur von ausgebildeten journalisten und so genannten experten betrieben wird, sondern eben von bürgern, bloggern, etc.? — diese frage möchte ich der autorin dieses beitrags stellen, denn ich habe das gefühl, ganz klar, dass die datenberge eben nicht abgearbeitet werden können von irgendwelchen wissens-arbeitern aus dem volk, sondern von hochspezialiserten kräften. die rede ist hier ja von wissenschaftlern und von (fach) journalisten.

  9. @zk die oben genannten URLs weisen ja schon auf viel versprechende Projekte hin, die sich der Auswertung der verfügbaren Depeschen widmen wollen. Warten wir ab, was hier herauskommt. Man könnte auch mal Blogs nach eigenen Analysen durchsuchen – für Hinweise bin ich sehr dankbar!

  10. Der prominente Politikwissenschaftler Herfried Münkler, der sich gegen die Veröffentlichung der US-Depeschen ausgesprochen hat, nannte vor einiger Zeit im SPIEGEL einen ganz interessanten Grund, die Exklusiv-Verwertung der Originaldokumente kritisierend:

    “Aber können wir wollen, dass nicht mehr der Staat, sondern andere Akteure die Herrn und Hüter des Geheimnisses sind? Tatsächlich ist das Geheimnis mit seiner Aufdeckung durch WikiLeaks nicht verschwunden, sondern die Verfügung darüber hat gewechselt. Ist wirklich alles, was WikiLeaks an Informationen zugespielt wurde, veröffentlicht worden, oder haben Julian Assange und seine Leute bestimmte Informationen zurückgehalten? Und selbst wenn sie nichts zurückgehalten haben, weder das Unwichtigste noch das Wichtigste, so sind sie doch zum Herrn und Hüter des Geheimnisses geworden, gerade dadurch, dass sie es brechen und aufdecken, beziehungsweise indem sie die Veröffentlichung aus Gründen der Aufmerksamkeitsökonomie portionieren und immer neue Informationen nachschieben. Sie machen selbst Politik mit dem Geheimnis.

    Wer aber kontrolliert die selbsternannten Kontrolleure? Sind es die beteiligten Redaktionen von SPIEGEL, “New York Times”, “Guardian”, “Le Monde” und “El País”, die aber die Portionierung steuern und damit Herr werden über die Aufmerksamkeitsökonomie?”

    ( http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-75476953.html )

  11. @Krystian Woznicki: Wir brauchen keine Geheimnisse sondern Transparenz, und zwar insbesondere bei so mächtigen Institutionen wie des Staates und auch derjenigen, die wir für diese Aufgaben wählen. Um diese Transparenz geht es doch WikiLeaks. Münkler bringt m.E. da wieder mal was sehr durcheinander.

  12. @Christiane Schulzki-Haddouti: aber ich sehe hier eindeutig ein problem der kompetenz: technik und wissen, also handhabung von technologie und verwaltung von wissen, wie das bei dem neuen datenjournalismus im grunde ganz einfach so vorausgesetzt wird zum beispiel, da kann nicht jedermann ganz einfach so mitmachen.

    und selbst wenn ich mich nicht als DIY-datenjournalist versuchen möchte, selbst wenn ich einfach nur als blogger bei der auswertung der depeschen mitmachen will — wo fange ich an?

    ich meine der SPIEGEL und der assange haben doch nicht zufällig auf die ganzen blogger geschimpft und mit ihren publikationen in 2010 gezeigt wozu es den klassischen qualitätsjournalismus noch braucht und wo die blogger einfach nichts ausrichten können.

    die entwicklung des journalismus nach wikileaks scheint mir aufjedenfall viele innovationen in diesem bereich zu nivellieren und die alten mächte aus der alten welt zu konsolidieren.

    denken sie da wirklich anders?

    das würde mich jetzt echt interessieren.

  13. die frage ist, ob diese sache mit dem leaking ein elitärer sport ist bzw. im zunehmenden maße (mit zunehmend großen datenbergen und zunehend exklusiven deals) geworden ist?

    wie können die massen da überhaupt noch einsteigen?

    die autorin des beitrags sagt doch selbst: komplexe themen könne man den massen nicht zumuten.

  14. @Horst A. Bruno alias Brunopolik: “Wir brauchen keine Geheimnisse sondern Transparenz” ja das sehe ich auch so. Transparenz im Sinne Accountability. Münkler macht aber einen wichtigen Punkt: Viele glauben, dass mit WikiLeaks und den großen Enthüllungen der letzten Jahre eine gänzlich neue, durch und durch demokratische Transparenz-Ordnung hergestellt worden ist, doch in der gegenwärtigen Situation sind wir noch ziemlich weit davon entfernt.

    Diese Beobachtung für eine Ablehnung des WikiLeaks-Paradigmas heranzuziehen halte ich jedoch für falsch.

    Vielmehr sollte man, auch im Sinne dieses Beitrags fragen, wie man die gegenwärtige Situation (Stichwort: Monopolisierung) mit den Grundlagen der Demokratie in Einklang bringen kann.

    Wir müssen weg von der Monopolisierung.

    Wir müssen aber im Zuge dessen unser Verständnis von Demokratie erweitern.

  15. Veranstaltungshinweis zum Thema:

    “Wikileaks – Kommt die Demokratisierung der Information?”
    Eine Diskussion im Rahmen von “Der Standard-Montagsgespräch”

    — Montag, 28. Februar 2011, 19.30 Uhr
    — Haus der Musik, Seilerstätte 30, 1010 Wien

    ( http://world-information.org/wii )

    Es diskutieren:

    Daniel Domscheit-Berg (Ex-Wikileaks Sprecher, Openleaks)
    Constanze Kurz (Chaos Computer Club Berlin)
    Peter Pilz (Nationalratsabgeordneter Die Grünen)
    Konrad Becker (World-Information Institute)

    Moderation: Alexandra Föderl-Schmid (Chefredakteurin Der Standard)

    Mit Wikileaks haben die zentralen politischen Themen der digitalen Kommunikationsrevolution der letzten 30 Jahre – etwa das Recht auf Zugang zu Information als Kern einer demokratischen Gesellschaft – das Zentrum der etablierten Politik erreicht. Wikileaks, bei allem Interesse an den Besonderheiten und individuellen Akteuren, ist deshalb keine isolierte Ausnahme, sondern nur der radikalste Akteur eines historischen Prozesses.

    Wie verschieben sich die Grenzen zwischen Geheimhaltung und Transparenz bei Regierungen und großen Konzernen? Wie kann mit immer größeren Datenmengen umgegangen werden? Wie soll öffentliche Kontrolle in Zukunft aussehen? In diesem Kontext müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen des Zugangs zu Regierungsinformationen neu diskutiert werden. In Österreich fehlt ja immer noch ein “Freedom of Information Act”, obwohl die Überwindung der Verwaltung von Daten nach Gutsherrnart dringend erforderlich wäre. Die momentan praktizierte Art der Geheimhaltung entstammt einer Tradition der politischen Theologie zur Legitimierung von Souveränität und ist in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle
    demokratieschädigend.

    Ebenfalls von zentraler Wichtigkeit ist die demokratische Nutzbarmachung öffentlicher Information. Vieles von dem, was nominell frei verfügbare Daten wären, ist de facto für die meisten Bürger nicht interpretierbar. Das Zugänglichmachen von Information bedeutet nicht nur das Zur-Verfügung-Stellen von Zahlenreihen, sondern auch den Zugang zu Visualisierungen und Analysen, um dieses Wissen lesbar zu machen. Das Thema umfasst auch den Informantenschutz und die Pressefreiheit, sowohl rechtlich als auch ökonomisch. Dass es gerade um diese Dinge nicht besonders gut bestellt ist, öffnet ja erst Raum für Akteure wie Wikileaks.

    Die Diskussion will Modelle der Offenlegung von Informationen sowohl “von unten” als auch “von oben”, d.h. als Bestandteil politischer Arbeit und eines informationspolitischen Parlamentarismus erörtern. Zur Frage steht aber auch der Prozess einer Rekonstituierung politischer Informationslandschaften. Wie müssen die Informationspflicht und der Informationsschutz in politischen Gemeinwesen neu verankert werden? Was bedeutet Open Data Government? Und wie kann Bürgerbeteiligung in
    demokratischen Informationsgesellschaften aussehen, die über die zersplitterter Interessengruppen oder populistische Kampagnen hinausgeht? Wann ist ziviler Ungehorsam á la Wikileaks gerechtfertigt, ja sogar notwendig?

    — Live-Stream

    http://world-information.org/wii/wikileaks

  16. was fehlt in dem kleinen aufsatz, ist überhaupt die diskussion um die prämissen der leaks. setzt man voraus, dass solcherlei info-lecks irgendeinen anderen effekt haben als die bestätigung der bereits bestehenden meinung als untertan über seine herrschaft, dann sollte man doch überlegen, worin der sinn des aufwandes bestünde sieben jahre »geheimnisse« zu lüften, die weniger heimlich jeden tag im kapitalismus sowieso offen zur schau gestellt werden? stichwort: niedriglohnsektor, afganistankrieg, europ. grenzpolitik, etc. scheint also keinen zu irgendetwas zu bewegen, außer für ein mangel an »demokratisierung« der infos zu beschwerde zu führen…

  17. ein erstaunliches Phänomen/Paradoxon! WikiLeaks rast mit der Geschwindigkeit des Internet (E-Speed); WikiLeaks verlangsamt mediale Verdauungsprozesse (langer Atem: sieben Jahre werden wir brauchen…).

  18. @vertraulich: ich kann den Punkt nachvollziehen, aber dennoch sehe ich auch, dass der Umgang mit Cablegate zum Präzedenzfall werden kann. Wenn WikiLeaks sich hier im Grunde schon nicht an die eigenen Prinzipien hält, und die Informationen für alle zugänglich macht, wie sollen dann FolgeLeaks gestaltet werden? Worauf soll man sich als JournalistIn oder auch BürgerIn berufen, wenn man Zugang zu Informationen haben will? Auch in diesem Sinne geht es um die Nachhaltigkeit von Cablegate.

  19. Daniel Domscheit-Berg berichtet in dem Buch “Inside WikiLeaks” über seine Zeit bei WikiLeaks und hat zu dem Thema dieses Artikels einige interessante Kommentare gemacht.

    Er sagt u.a. dass die Inhalte der Depeschen/Enthüllungen v.a. von den nicht-beteiligten/ausgeschlossenen Medienpartnern heruntergespielt worden sind.

    Er sagt auch, dass der SPIEGEL womöglich deshalb mit einer so schlappen Geschichte in das Enthüllungsrennen gegangen ist (wir erinnern uns an das Cover: “ENTHÜLLT” was die Weltmacht über führende Politiker denkt), weil zu dem Zeitpunkt klar war, dass man als Exklusivpartner gaaaanz viel Zeit haben würde, um die Depeschen Stück für Stück auszuwerten, v.a. weil WikiLeaks logistisch und technisch nicht in der Lage war, die Dokumente auf seiner Seite online zu stellen.

  20. Wie anstrengend und langwierig gute journalistische Handarbeit sein kann, zeigte der Film “All the President’s Men” aus dem Jahr 1976, der sich um Watergate dreht. Robert Redford spielt den jungen Journalisten Bob Woodward, der akribisch recherchiert und nachfragt. Wenn man bei jedem Cable so genau arbeiten will, dann dauert es vielleicht sogar mehr als sieben Jahre. Hier ein Ausschnitt aus dem Film von YouTube:

    http://www.youtube.com/watch?v=hzZJamfE48Q&feature=related

  21. dank dafür. weiß eigentlich irgend jemand was aus den angekündigten bank-leaks und der cd-rom mit steuersündern geworden ist die anfang des jahres an wikileaks übergeben wurde?
    hat sich das alles irgendwie erledigt? oder kommt da noch was?

    würde mich doch mal interesserien wie da so der stand der dinge ist, weil es ja auch so ruhig um wikileaks wurde.

    mfg
    florian

  22. Vielen Dank für den guten Artikel und auch die Kommentare dazu sind sehr interessant.
    Ich finde das Bild mit dem Datenberg ziemlich passend, wenn man dazu noch die Besitzfrage stellt. Krystian und solfrank haben es ja schon angedeutet, dass man sich nach der ersten Blendung durch die Veröffentlichung nun auch fragen sollte, wer genau jetzt die Informationen besitzt. In den letzten Tagen und Wochen habe ich viel versucht über Assange zu erfahren und es wird für mich immer fragwürdiger, ob er es wirklich nur aus dem Wunsch der “besseren Welt durch Transparenz” gemacht hat, oder ob er nicht doch lieber ein Player wie die NY Times und der Spiegel sein will. und somit nur Informationen verkauft. Somit sind wir in der Gefahr, die Christiane Schulzki-Haddouti auch anspricht, dass es um eine Besitzfrage des Datenbergs geht und nicht mehr so um die “Information für Jedermann”.
    Dazu kommt, dass es zum Beispiel sehr schwierig ist die Akten zum Afghanistan-Krieg zu lesen, wenn man nicht beim Militär ist und somit tut sich genauso wieder eine Informationselite auf, die das versteht und es für andere filtert. Dazu gehören natürlich auch Journalisten und die filtern wiederum erstmal nach den besten Nachrichtenwert. Was wiederum dazu führt, dass wir uns mit Beurteilungen von Diplomaten über deutsche Politiker abgeben müssen, die nun mal wirklich komplett unwichtig sind. Da könnte ich auch D-Promis beim Maden-Essen zusehen.
    Aber Informationen über den nuklearen Waffenbestand in EU-Länder bekommt man nicht unbedingt auf der ersten Seite vom Spiegel präsentiert. Und somit bleibt alles wie es ist. Schöne neue Welt.

  23. @florian kuhlmann: ich fand das hier:

    17.1.2011

    “Julian Assange vows to reveal tax details of 2,000 wealthy people. Swiss banker gives WikiLeaks founder data ‘to educate society’ about amount of potential tax revenues lost to offshore schemes”

    ( http://www.guardian.co.uk/media/2011/jan/17/julian-assange-tax-wikileaks-swiss )

    19.1.2011

    “Swiss arrest former banker for giving data to WikiLeaks. Rudolf Elmer arrested hours after being found guilty of breaching Switzerland’s bank secrecy laws in another case”

    ( http://www.guardian.co.uk/media/2011/jan/19/rudolf-elmer-arrest-data-wikileaks?INTCMP=SRCH )

    19.1.2011

    “Swiss banker convicted over WikiLeaks publications. Judge gives Rudolf Elmer suspended fine for breaching banking secrecy in giving client information to whistleblowing website”

    ( http://www.guardian.co.uk/media/2011/jan/19/swiss-banker-wikileaks-rudolf-elmer?INTCMP=SRCH )

  24. @r2d2 danke schon mal dafür. allerdings ist das ja auch schon ne ganze weile her und leider kam da nichts mehr nach …
    wäre sehr bedauerlich wenn das irgendwo ‘versanden’ würde?

  25. @florianik: ja das veranden sollte nicht passieren, aber wir sehen glaube ich auch an den kabeln, dass die organisation gerade sehr überfordert ist: die haben erst einen bruchteil der depeschen veröffentlichen können. vielleicht müssen wir realistischerweise anerkennen, dass da die anderen, aktuellen projekt einfach später dran kommen. ich weiß, klar, das hat domscheit-berg kritisiert, es war ein grund für seinen ausstieg, aber solange wikileaks publiziert und es halbwegs ordentlich macht, müssen wir geduld haben — oder halt selbst aktiv werden… und digitale briefkästen gründen, die dann auch entsprechend betreut werden …

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