Wenn gestern heute wieder morgen ist

Unser europaeisch-abendlaendisches Zeitverstaendnis beruht auf der Vorstellung der Linearitaet. Demnach spult sich eine einzige gerade Zeitlinie ohne Umwege gleichmaessig ab. Zeit hat demzufolge auch einen Anfang. Zunaechst aufgrund der Bibel und der darin geschilderten Generationenfolge noch in der fruehen Neuzeit auf 4000 Jahre vor Christi Geburt berechnet, uebernahm nach der Aufklaerung [einer Zeitepoche, die en passant auch unsere Zeitvorstellungen aenderte] die Wissenschaft die >Rechnungspruefung< und schickte die Astronomie und Archaeologie ins Feld, um den Beginn der Erde und den Beginn der Menschheit zu bestimmen. Wenn die Zeit einen Anfang hat, dann muss sie theoretisch auch ein Ende haben. Die Bibel erklaert das mit der Ewigkeit. In ihr ist die lineare Zeit aufgehoben und ein zeitloser Gluecks- oder Elendszustand im Himmel oder in der Hoelle steht am Ende unserer messbaren Zeit. Das juengste Gericht, von den Ur-Christen noch zu ihren Lebzeiten erwartet, leitet diese Nicht-Mehr-Zeit ein. Die Naturwissenschaften erklaeren das Ende der Zeit mit dem Vergluehen der Sonne und dem Verschwinden der Erde in der Bedeutungslosigkeit des Sternenstaubs.

Wie aber, wenn es gar keinen Anfang und kein Ende der Zeit gibt? Die australischen Aborigines mit ihrer religioesen Vorstellungswelt der Traumzeit sehen sich eher in einem Kreislauf des irdischen Menschen, der mit dem Kreislauf der mythischen Zeit korrespondiert. In einer zeitlosen Schoepfungsperiode gestalteten mythische Urheroen in tierischer oder tiermenschlicher Form die Ebenen und Gebirgszuege, die Wasserloecher und Fluesse, die Pflanzen und Tiere. Auch deren Fruchtbarkeit und Dienstbarmachung fuer die Menschen wurden in dieser Traumzeit festgelegt. Und die Traumzeit regelte das soziale Zusammenleben der Menschen, ihre Eheregeln, Gesetze und Verhaltensweisen. Doch nirgendwo in den Ueberlieferungen und Mythologien wird von der Erschaffung der Erde oder der Erschaffung aus dem Nichts berichtet – ein ex nihilo gibt es nicht. Stets war die Erde, wenn auch formlos, bereits da. Die Schoepfungsperiode kam zum Abschluss, als die mythischen Urheroen ihre Taten vollbracht hatten und in die von ihnen geschaffene Umwelt eingingen. Sie wurden zu den Ahnen der heutigen Menschen, die sich ihnen verwandtschaftlich, moralisch und religioes verpflichtet sehen. Durch die Initiation der Jugendlichen werden diese in die Geheimnisse der Traumzeit eingeweiht. Mittels religioeser Kulte und Zeremonien kann Kontakt zu dieser Traumzeit, zu den Heroen und Ahnen aufgenommen werden.

Obgleich also die Schoepfungsphase selbst abgeschlossen und vorbei ist – sie ist passé! – ist sie trotzdem nicht fini! Sie ist heute noch wirkmaechtig und beeinflusst das Leben der jetzigen Menschen von grundauf. Das Land und die heiligen Staetten muessen auch heute noch bewahrt, die Regeln befolgt, die Verpflichtungen eingehalten werden. Nur so ergibt das Leben Sinn. Lebenssinn in einer zirkulaeren Zeit. Waehrend unser Zeitverstaendnis mit einem sich stetig nach oben bewegenden Fahrstuhl zu vergleichen ist, in dem sich die Menschen von Jahr zu Jahr, von Ereignis zu Ereignis in messbaren Abstaenden fortbewegen, so gleicht die Zeit in den Augen der Aborigines eher der Gestalt eines horizontalen Kreises aehnlich einem Karussell, in dem der obere Kreis – sprich: die Gegenwart – in gleichem Abstand zur Basis – sprich: der Traumzeit – stehen. In der Vorstellung der Traumzeit ist daher ein zeitloses Durchdringen allen Lebens, das die Menschen und die Natur in all ihren Dimensionen umschliesst, enthalten.

Solch zirkulaere Zeit vermittelt enorme Sicherheit und Ruhe. Nichts muss erreicht werden, denn alles ist schon da. Nichts muss herausgefunden werden, denn alles ist erklaert. Deshalb blieben die Aborigines beispielsweise sehr gelassen, als die australischen Archaeologen erstmals ihre Ausgrabungen machten und mittels moderner Methoden und Techniken belegen konnten, dass die Kultur der Aborigines uralt sein muss. Hatten das nicht schon die Mythen erzaehlt?

Im Gegensatz zu dieser Gelassenheit gleicht in unserem Kulturkreis die Zeit einer nervoes tickenden Uhr. Bestimmte Dinge muessen – von jedem Menschen stets aufs Neue – erreicht werden, und dies in immer kuerzeren Taktfolgen. Die biologische Uhr tickt, die berufliche Uhr tickt, die Karriere muss bis zu einem bestimmten Punkt gelungen sein, damit noch Haus und Kinder finanziert werden koennen. Und heutzutage muss auch noch der Lebensabend zusaetzlich mit vielen Zahlungen abgesichert werden, da die Renten ja viel zu niedrig sein werden.

Eine gegenteilige Erfahrung machte ich in Mikronesien. Jeder hat sein Stueck Land, auf dem Taroanbau moeglich ist, das Meer ist immer voller Fisch. Falls alle Stricke reissen, wird es stets einen Bruder geben, der einen mit Fisch versorgt, es wird immer eine Schwester geben, die einem Bananen und Taro gibt. Die Inseln sind so klein, dass man sich ohnehin taeglich begegnet, wozu da noch hektisch hintereinander her telefonieren? Falls es ueberhaupt Telefon gibt. Hat man kein eigenes Zuhause, so wohnt man bei den Eltern, ansonsten bei den Adoptiveltern, Tanten, Onkeln oder Geschwistern. Zugegeben, dies ist idealisiert. Auch die Menschen in Mikronesien haben ihre Sorgen, erstreben Ansehen und Geld, muessen im Schweisse ihres Angesichts in den stickigen, schlammigen Tarofeldern schuften. Geschwisterfamilien quartieren sich bei einem ein, und alle wollen versorgt sein. Aber alles geschieht in einer anderen Taktung. >Island time< hiess das. Wozu der Zeitdruck? Morgen ist man ja auch noch da. Auch bei den Aborigines im modernen Australien, die oft zu den sozial schwachen Schichten zaehlen, wird Zeit anders gelebt. Hier hat die Gleichgueltigkeit gegenueber der Zeit keinen sorglosen, sondern oftmals einen resignativen Charakter. Bildungs- und Berufsaussichten sind ihnen oft verschlossen. Die Schule ist spaetestens mit 15 oder 16 Jahre vorbei und es kommen die ersten eigenen Kinder. Was hast Du heute gemacht? >Nothing, nothing< lautet die Antwort der jungen Frauen. Die aelteren hingegen, mit 50 Jahren schon mehrfache Grossmuetter, haben die Autoritaet und die Zeit, sich fuer Belange der Gemeinschaft einzusetzen, und sind in ueberproportionalem Masse in den Selbstvertretungsorganisationen der Aborigines aktiv. Zurueckgekehrt aus dem Pazifik verweigerte ich mich noch eine Weile der Zusammendraengung der Zeit und ihrer Beschleunigung. Ich war unwillig, wieder in die schnelle und kleinteilige Taktung einzutreten. Ein auslaufender Arbeitsvertrag, mangelnde neue Perspektiven und die Ermahnungen: >Nun musst Du aber etwas machen!< aenderten das sehr bald. Heute versuche ich durch Logistik viel vorauszuplanen. Derzeit schliesse ich ein umfangreiches Forschungsprojekt ab, das drei Jahre dauerte. Nicht immer war es leicht, sich die Zeit genau so einzuteilen, um auf den Punkt genau fertig zu werden. Ich arbeitete immer gegen die Uhr. Da ich mich aber stets mit den Dingen beschaeftigte, die mich ohnehin am meisten interessierten, machte mich das nie nervoes. Ich fuehlte mich auch nie gestresst. Nur die Komprimiertheit der Zeit, die Zusammendraengung der vielen kleinen Einheiten und ihre immer dichtere Abfolge nahm ich sehr stark wahr. Auf die Frage, was ich den ganzen Tag so getrieben habe, ohne Verlegenheit sagen zu koennen: >Gar nichts, gar nichts< – davon war und bin ich Lichtjahre entfernt. Doch um meinen Traumberuf ausueben zu koennen, nehme ich das gerne in Kauf.

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