Wenn alle gehen, wird alles gut

Gemeinsam I: Aristoteles unterscheidet drei Formen der Freundschaft: die geistige, die oekonomische und die koerperliche. Als erste Form existiert die Freundschaft um ihrer selbst Willen [>vollkommene Freundschaft<]. Die zweite Form bezweckt einen gemeinsamen aeusseren Nutzen. Bei der dritten ist der Zweck die Lust. Entscheidend bei der Bewertung von Freundschaften scheinen mir also nicht die gemeinsamen Interessen, sondern vor allem die Zwecke zu sein.

Die heutige liberaldemokratische Netzwerkkultur foerdert vor allem die politisch korrekte Zweckgemeinschaft und vergisst, dass Gemeinschaft auch Zweck an sich sein kann. Nach nichts zu streben und nichts zu wollen, und das auch noch gemeinsam, ist das absolute Tabu. Es gibt kein Netzwerk der Ambitionslosen. Stattdessen organisiert man sich [ob kommerziell oder nicht] anhand von Profilen der Aktivitaet, der ueberbordenden Produktion von >Inhalten<, Innovations- und Siegergesten [man vergleiche zum Beispiel die Ueberlegenheits-Posen von Avantgarde-Musikern, Poprowdys, Managern oder Supermodels].

Der Grund fuer diese Tendenz liegt meines Erachtens darin, dass viele verlernt haben, Gespraeche zu fuehren. Man fuehrt Verhandlungen oder ueberhaupt kein Gespraech. Der modernen evolutionaeren Anthropologie zufolge ist dies das Hauptmerkmal von Affen: Sie kommunizieren nur, um anderen ihre Zwecke aufzuzwingen. Netzwerkaffen verstehen also die Abstraktion der Zwecke zum hoeheren Zweck der Ambition an sich. Das gemeinsame Interesse wird vorgegaukelt oder >geglaubt<, aber nicht praktiziert. Die Ambition ist unser Gott, unser Geld, unser Ruhm. Ich denke zur Illustration an die Anfangssequenzen von Stanley Kubricks >2001 – A Space Odyssey<. Die Ambition, die mit dem Monolithen in die Welt kommt, fuehrt zur Erfindung des Werkzeugs, der Sprache, des Krieges und der Karriere. Nicht dass ich etwas gegen Affen haette – waehrend sich die meisten Affen um den Monolithen scharen, gibt es vereinzelt womoeglich auch philosophische Affen-Individuen, die sich vom Spektakel abwenden. Auch sie haben ihre Nachfahren.

Gemeinsam II: Was sind >gemeinsame Themengemeinsame ThemenIch geniesse die Waerme eines Sommerwindes<]. Oder man kann in eine Stimmung verfallen, in der alles fragwuerdig wird [selbst die Sommerwaerme wird zum Alarmsignal – >Global Warming<]. Das ist das Gemeinsame, dass alles ein >Ja< ausstrahlt oder ein >Nein<. Man kann nicht sagen, ob sich zum Beispiel ein Ja eher bewaehrt als ein Nein.

Gemeinsam III: Die Frage des Reisens – Ich weiss nicht, ob es fuer manche Menschen eine bestimmte biografische Soll-Kilometerzahl geben sollte. Es scheint mir aber evident, dass man rege bleiben sollte, falls man nicht viel reist [dann geht es nicht um Migration, sondern um >Mutation<, etwa im Sinne Gaston Bachelards]. Es geht darum, neue Erfahrungen gegen alte Erwartungen ins Feld zu fuehren, um Verknuepfungspunkte des Gemeinsamen zu ermoeglichen; denn nur mit der Erfahrung von Differenz kann man einen Begriff des Gemeinsamen entwickeln – aeusserlich und innerlich.

Kant ist sein Leben lang in Koenigsberg geblieben, hat es aber verstanden, seine universellen Ansprueche nicht nur philosophisch, sondern auch in anregende Reiseerzaehlungen umzusetzen. Seine anthropologischen Vorlesungen waren die beliebtesten unter Studenten. So bestand auch die Vorstellung des Reisens zu Kants Zeiten oftmals darin, neue geistige Horizonte zu erschliessen [Utopie = Reisen]. Der baudelairsche Kunstflaneur des 19. Jahrhunderts ist kuerzer angebunden. Er laesst sich von grossstaedtischen Impressionen leiten und muss nicht in die Ferne schweifen [Sein = Reisen]. Heute dient in dieser Tradition die Jet-Set-Boheme als Blaupause einer internationalen Umtriebigkeit, welche Wichtigkeit und geistige Regung belegen soll, bis man in letzter Konsequenz nirgendwo mehr ist [Sein = Utopie].

Kurzum: Ob man ein Gedicht schreibt, morgen >mal eben nach Barcelona< reist oder >an einem Projekt arbeitet<, bleibt sich im Prinzip gleich. Nur nicht sitzen bleiben. Nietzsche schreibt, er traue keinem Gedanken, der nicht im Gehen entstanden sei. Das heisst: Wenn wir alle gehen, wird alles gut.

Gemeinsam IV: Armut als Diskurs ueber das Gemeinsame – Armut ist kein Thema, wie fuer Thomas von Aquin das Boese kein Thema ist, da es sich als Mangel definiert. Wenn du den Mangel beseitigst, beseitigst du auch das Boese. Das Beseitigen des Boesen beseitigt dagegen keinen Mangel. Mangel ist ein Resultat, er hat kein >Wesen<. Insofern ist Armut, und sind auch die Armen, gesellschaftlich nicht darstellbar, sondern nur vorfuehrbar – statistisch oder exemplarisch [Talk Shows]. Der Arme hat kein Bild der Repraesentation, da er sich ueber den Mangel definiert, als mittellos, arbeitslos. Armut als Anti-Modus schweisst nicht zusammen, schafft nichts Gemeinsames, denn sie schafft nichts.

Globale Gemeinsamkeit laeuft dagegen heute zum Beispiel ueber Maezene wie Buffett, Soros oder Gates, die nicht einzelne Kuenstler, sondern gleich die gesamte Menschheit foerdern. Goennertum und Guenstlingswirtschaft werden zu Koordinaten einer Welt, in der Gemeinsamkeit ein individuelles Gut ist. Sie ist eine Jacht, wenn das Meer die Welt ist. Wenn Gemeinsamkeit vergeht und die Jacht in den Hafen einlaeuft, findet sich etwas Neues, eine neues Boot, das man fahren kann. In dieser Welt erhaelt die Armut eine Reihe von Darstellungen: >Entwicklung<, >Erziehung<, >Gesundung<, >Selbstbewusstsein< und dergleichen. Die Armut verneigt sich vor den Maezenen. Deren schrecklichste Utopie waere eine gesaettigte befriedete Welt, in der sie ihr angehaeuftes Geld nicht fuer gute Zwecke einsetzen koennten. Sie koennten sich und andere nun nicht mehr darstellen und muessten sich als das erkennen, was sie sind: moderne Tyrannen.

Gemeinsam V: Minimalsprache – Die zunehmende fachliche Segmentierung der Wissenschaften sabotiert den Austausch von Informationen zu Zwecken der Gemeinsamkeit. Obwohl heutzutage sehr auf Multi- und Interdisziplinaritaet Wert gelegt wird, muessen sich Teilnehmer bei wissenschaftlichen Konferenzen erst ueber Begriffe verstaendigen, um ueberhaupt sinnvoll kommunizieren zu koennen. Es ist, als ob mehrere ethnische Gruppen aufeinander treffen, um einen Friedensvertrag auszuhandeln. Das anschliessende gemeinsame Mahl hat die Funktion einer Friedenspfeife. Man benebelt sich und legt seine disziplinaeren Zwaenge ab. Schon redet man problemlos miteinander, ist aber nicht faehig, dieses so einfache >bekiffte< Miteinander in die wissenschaftliche Sphaere zurueck zu uebersetzen. Dies gleicht einem amputierten Dasein, das jeweils nur gewisse Organe einsetzen kann, aber nie alle gleichzeitig. Einerseits besitzen die >Amputierten< also ein abstraktes Vokabular, das auf einen gemeinsamen Nutzen abzielt. Andererseits werden diese Abstraktionen in sehr spezifischer Weise benutzt, so dass sie keinen gemeinsamen Nutzen haben koennen. Welcher Organe bedarf es aber, um eine Minimalsprache, derer etwa ein Leonardo maechtig war, wieder zu beleben?

Gemeinsam VI: Die >aufklaererische< Utopie einer universellen Gemeinsamkeit ist sowohl Motor der Emanzipation als auch der Tyrannei. Wird sie als Palette von Themen und Anschauungen verstanden, die einen gemeinsamen Raum ermoeglichen – in etwa so, wie Hannah Arendt die Polis verstand –, so dient sie als Antrieb eines positiven Populismus (>Multitude<). Wird sie jedoch als eine Mob-Ideologie verstanden, die Orte kreiert, welche nicht von allen betreten werden koennen, ist sie ein Modus der Tyrannei.Diese Tyrannei fungiert heute einerseits in Form des Prinzips der Primordialitaet. Ihre Ideologeme sind: >Identitaet<, >Nation<, >Kultur<, >Geschichte< usw., welche sich allesamt an spezifischer Gruppengemeinsamkeit orientieren [Gemeinsamkeit = Zugehoerigkeit]. Andererseits fungiert Tyrannei als >Empire<-Liberalismus mit seinen Ideologemen >Deregulierung<, >Privatisierung<, >Globalisierung<, >Freihandel<, >Wertegemeinschaft< usw. [verstanden als >individuelle< Gemeinsamkeit].

Es gibt also universelle, identitaere und individuelle Gemeinsamkeit, wobei die ideologischen Frontlinien keineswegs scharf getrennt sind. >Good Governance< und NGO-Kaderschmieden etwa fuehren heute zu linksliberalen Humanitaetseliten, die den Globus mit >Gemeinsamkeitsvorstellungen< so vereinnahmen wie jene Global Players, gegen die sie eigentlich antreten. Diese Ivy-League-Emporkoemmlinge tummeln sich in internationalen Institutionen unter dem Banner einer globalen Gemeinsamkeit, enden aber oftmals in Beratergremien bedeutender Unternehmen.

Die Gefahren fuer ein gelaeutertes Bewusstsein kommen also auch von den Gelaeuterten, so dass eine Metanoia, wie Boris Groys das staendige ideologische Lavieren nennt, von Noeten scheint, die schliesslich zu einer Aufweichung von Positionen fuehrt. Man will als Individualist nicht mit anderen verglichen werden, vergleicht sich aber selbst staendig mit ihnen und weicht aus – >laviert<. Aber das Ethos verliert sich dann in der Beliebigkeit. In einer Periode der gesellschaftlichen Entropie verlieren Ideen zunehmend ihre Eigenschaften und damit ihre Kraft. Womit wir schon wieder bei den Affen, dem Monolithen und dem sich abwendenden Philosophen waeren.

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