Was geschah am 26.12.2004?

Was als >Todeswelle< und >Sintflut< gehandelt wurde, letzten Endes aber den Namen >Weltbeben< verpasst bekam, war in erster Linie ein Medienereignis und in zweiter Linie ein Naturereignis. Es war ein Ereignis, das zwar viele vor Ort erlebten beziehungsweise nicht ueberlebten, das aber ungleich mehr Menschen im engeren Kreis der Familie neben dem Weihnachtsbaum und vor dem Fernseher sitzend erfuhren. Der unmittelbare Bezug zum christlichen >Fest der Liebe< war nicht nur zeitlich, sondern auch inhaltlich gegeben: Das Paradies war in groesster Not und somit auch alle christlichen Kodierungen, die die Zeichenmaschine des Tourismus in die Postmoderne hinuebergerettet hatte.

Unmittelbar nach dem Ueberfall des Wassers auf das Paradies draengte ein Bilder-Tsunami in die Wohnzimmer und in die Koepfe aller Daheimgebliebenen. Die heile Welt des Paradieses als >Ort der Unschuld< und >Himmel auf Erden< wurde von Grund auf erschuettert, ein Moment, in dem alle Gewissheiten in Zweifel gezogen wurden. Die Orientierungslosigkeit der Menschen brachte die Bild-Zeitung auf den Punkt: >Gott, wo warst Du?< Die Bilder, welche derartige und andere Sinnfragen geradezu gewaltsam stellten, entfesselten ein Nachbeben der besonderen Art: den Spenden-Tsunami. Er wurde gleichsam ornamental bebildert und schien nach nur wenigen Tagen alle Sinnfragen aus der Welt geschafft zu haben. Nie zuvor hatte die >Weltgemeinschaft< so schnell gehandelt und so viel gespendet. Die Nebenwirkung: Mit dem Spenden- Tsunami hatte man sich von der Verantwortung fuer das, was geschehen war und den damit verbundenen Sinnfragen freigekauft. Wie sonst waere es moeglich gewesen, dass man zwei Monate nach dem Ereignis selbstbewusst schreiben konnte: >Mit den Ursachen des Bebens hatte der Mensch nichts zu tun. Punkt.< War zu diesem Zeitpunkt der Abstand zu der Katastrophe nicht bereits gross genug, um zu erkennen, dass sie >nicht nur einen Riss im Globus, sondern auch einen Riss im Weltbild verursacht hatte<, wie der Philosoph Jens Badura kuerzlich in Berlin sagte?

Wer nach den >Ursachen des Bebens< fragte, kam eigentlich nicht umhin die Beschaffenheit des Bebens im Hinblick auf seine unterschiedlichen Dimensionen hin zu befragen: Wie waren die geologischen mit den sozialen Erschuetterungen verzahnt? Wie hingen die unterschiedlichen Tsunamis miteinander zusammen? Wo begann die Gewalt der Natur und wo endete sie? All diese Fragen standen unmittelbar nach dem 26.12. im Raum, doch der Spenden-Tsunami setzte den ausschwaermenden Gedanken des Bewusstseins einen >Punkt<. Und als bereits drei Monate nach dem Ereignis ein Geschichtsbuch auf den Markt kam [>Tsunami: Geschichte eines Weltbebens<], war die Zeit gekommen, den Fall ad acta zu legen. Spaetestens als die Deiche in New Orleans brachen und sich die Aufmerksamkeit auf ein anderes Desaster verlegte, hatte man mit dem >Weltbeben< abgeschlossen. War das jemals so schnell und umfassend mit einer Katastrophe dieses Ausmasses geschehen? Doch die Geschwindigkeit der Verdraengungsarbeit ist im >Medienzeitalter< kein Skandal – ohnehin waere es toericht die zeitliche Struktur des Ereignisses auf die Beschleunigungslogik zu reduzieren. Ein Skandal vielmehr ist: Keiner der Star-Intellektuellen meldete sich zu Wort, keiner von denen, die sonst jeden Anlass willkommen heissen, um sich ins Gespraech zu bringen und ins Rampenlicht zu ruecken: Zizek, Beck, etc. Haette wenigstens einer von ihnen das Wort ergriffen, waere dem Spenden-Tsunami ein Sinn-Tsunami gefolgt. Die intellektuellen Debatten unterstehen heutzutage der Logik der Auktion: Wenn das Anfangsgebot ausbleibt, kommt auch keiner um es zu ueberbieten. Deshalb hat das philosophische Nachbeben nicht stattgefunden, das sich durch das Ereignis vom 26.12. und den Folgetagen so sehr aufzudraengen schien. Der Riss im Weltbild wurde stattdessen umgehend gekittet. Der Umgang mit dieser Katastrophe – er erinnert an die kollektive Bearbeitung des Tsunami von 1755, weil er dessen polares Gegenteil impliziert: Die aufgeworfenen Sinn-Fragen fuehrten damals zu einer tief greifenden Auseinandersetzung, was das Ereignis zum Kristallisationspunkt der Aufklaerung werden liess.

Das Gegenteil der Aufklaerung war schon immer die Verdunkelung. Der [Nicht-]Umgang mit der Katastrophe vom 26.12.2004 zeigt welchen Grad dieser Prozess heute erreicht hat.

[Anm.d.Red.: Weitere Beitraege zum Themenkomplex >Katastropen, Massenmedien und Seinsbeben< erscheinen in der Rubrik Weltbeben.]

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