Ware Weihnacht: Der Brauch kennt keine Alternativen zum Konsumrausch, doch es gibt sie

Weihnachten ohne den tiefen Griff in den Geldbeutel ist in unserer Gesellschaft nicht denkbar. Doch es gibt Alternativen zum Konsumrausch. Zum Beispiel: gemeinsame Zeit schenken. Berliner Gazette-Gastredakteurin Annika Bunse erkundet das Terrain.

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Es beginnt etwa im September, dann, wenn die Luft fast noch lau ist, sich der schöne Sommer mit einer letzten Verbeugung verabschiedet. Besucht man in dieser Zeitspanne jedoch den Supermarkt, erklären einem die Waren im Regal unmissverständlich: „Schluss mit den Flip-Flops, Tagen am See, Tanzen auf Open-Air-Festivals, Grillen und Pipapo, hier kommt der Weihnachtsmann, Ho Ho Ho.“ Lebkuchen-, Stollen- und geschickt gestapelte Dominosteinberge versperren da als erste Barrikade der Besinnlichkeit dem Einkauf für letzte Sommernachtsträume den Weg.

In den Folgemonaten zeigt die Ware Weihnacht dann ihr ganzes Gesicht: Marzipankartoffeln, fragliche Fensterdekorationen, Nippesfiguren mit Glitzer und Goldhaar, überall Nikolausmützen in den Auslagen, Lichterketten funkeln verführerisch, bis der Gipfel der vorweihnachtlichen Konsumschlacht erreicht ist: Geschenke kaufen. Der 24-tägige Countdown des Konsums beginnt meist mit dem ersten Dezember. Wunsch- und Einkaufslisten werden ab dann akribisch angelegt, Erledigungen, die die ganze Familie glücklich machen sollen, generalstabsmäßig geplant.

Postboten als Schlepper eines kostspieligen Brauchs

Innerhalb dieser Weihnachtskonsumwelt steht der sonst so schnöde Kommerz leuchtend wie der Tannenbaum selbst da, verblendet die Geschenke-Sucher durch den Altruismus, der all den guten Gaben anklebt. Vollbepackte Postboten, die zur Adventszeit im Schnitt 200 Pakete am Tag ausliefern, müssen dagegen Schwerstarbeit leisten, sie schleppen die wahre Weihnacht, ihnen sollten wir wirklich viele Geschenke geben. 2012 gaben wir laut Statista.com mehr als die Hälfte unseres Weihnachtsbudgets für Präsente aus – in der Umfrage sind das im Schnitt 218 von dem 408 Euro, die generell in die Festtage investiert werden.

Doch woher kommt der zweifelsohne kostspielige Brauch? Was zeichnet ihn aus? Sich Geschenke zu machen ist erst mal ein Ritual, das Menschen weltweit als genuin herzensgut betrachten, doch so einfach ist das Schenk-you-Prinzip dann doch nicht zu verstehen, versteckt sich darin doch neben dem kommerziellen Hintergrund auch noch eine soziale Sanktion. Geschenke sich generieren also, mit dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann gesagt, aus „Erwartungserwartungen“, die den Sinn haben, soziale Situationen stabil zu halten. Das Tückische an ihnen ist: Sie sind so einfach zu verfehlen.

Die Ritualisierung des Schenkens funktioniert genauso wie das Geschenkpapier, ist nur Hülle für das, was dahinter steckt. Beispielsweise wünschte sich meine Mutter, als ich 12 Jahre alt war, schon lange einen Duft, der aber etwas teurer war. Oft schwärmte sie davon am Küchentisch, als der Dezember anbrach und raunte mir zu, er habe das doch bestimmt „mitgekriegt“. Am Weihnachtsabend packten wir nacheinander die Geschenke aus, doch Ihres fehlte – leider lag auch nichts mehr unter dem Baum.

“Ein nützliches Ding” ohne Geschenkpapier

Mein Vater grinste sein breites Handwerkergrinsen und meinte: „So, jetzt kommt mal mit.“ Ehrfürchtig folgten wir ihm ans Fenster, blickten dort auf den Hauseingang und die Mauer. „Wo ist denn mein Geschenk?“ fragte meine Mutter verwundert. Lachend verkündete er: „Da steht es doch! Die Alu-Leiter da ist für dich. Nützliches Ding. Sollte in keinem Haushalt fehlen.“ Meine Mutter kaufte sich in der folgenden Woche ein Parfum und zahlte mit seiner Karte. Es war deutlich teurer als das Gewünschte.

Als Teil von sozialen Systemen haben Menschen also eine riesige Auswahl an Handlungen. Luhmann nennt das „Kontingenz“. Mein Vater hätte also Parfum, eine Reise in die Sonne oder eben eine Alu-Leiter kaufen können. Das Problem ist nur, dass die Kontingenz für alle gleichermaßen gilt und darum Erwartungen zwangsläufig notwendig werden. Ohne sie kann eine Person nicht abschätzen, wie sich die andere verhalten wird. Infolgedessen wird es schwer, das eigene Verhalten richtig zu koordinieren.

Schenken, die implizite Verhaltensregel

Auf diesem Wege entstehen also Erwartungserwartungen á la: „Er wird mir definitiv das Parfum schenken, ich habe es doch so oft wiederholt. Das muss er kapiert haben.“ oder „Mit dieser Leiter kann sie kaputte Glühbirnen austauschen oder so, das gefällt ihr bestimmt. Ich kann sie wohl auch dann und wann mal gebrauchen.“ Wenn diese – nicht wie die vorhergehenden Beispiele – aneinander anschlussfähig sind, bildet sich das soziale System weiter aus, erfolgreiche Interaktionen stabilisieren sich, werden generalisiert und zum Ritual, Brauch oder zur impliziten Verhaltensregel. „Schenken“ hat sich in dieser Hinsicht erfolgreich durchgesetzt.

Das Geschenke-Machen, das auf der einen Seite soziale Beziehungen stärkt, geht dabei auf der Anderen mit dem rationalen Kalkül des Konsums einher, verdeckt durch den Anschein der guten Tat, Glanz, Gloria und Gebäck. Für die Hersteller ist zumindest keine Zeit im Jahr so gewinnträchtig wie die Adventszeit, denn in diesen Monat begeben sich die Menschen massenweise auf rituelle Geschenke-Jagd und schleppen tüten weise Beute – je nach Clangröße – in die kuschelig dekorierte Weihnachtshöhle.

So prähistorisch, wie dieses Verhalten vielleicht anmuten lässt, ist es in Wirklichkeit aber nicht. Alt ist der Brauch auch noch nicht sonderlich. Erst seit ungefähr sechshundert Jahren gibt es die Bescherung, wie wir sie kennen. Zuvor war ausschließlich der Nikolaus dafür zuständig, Geschenke zu verteilen, was er auch bis heute am 6. Dezember tut.

Frohe Saturnalien!

Für den 24. Dezember gilt ein anderer Hintergrund. Das Schenken am Weihnachtstag geht auf die Römer zurück, die zum Jahresende den Gott Saturn in großangelegten Feiern ehrten – die so genannten Saturnalien – und dabei den Ritus entwickelten, dass Wohlhabendere den Ärmeren Geschenke machten. Mit dieser Aktion konnten sie auch gleichzeitig ihren Reichtum demonstrieren. Davon ist viel erhalten geblieben. Geschenke definieren auch heute noch implizit den gesellschaftlichen Status, denn sie sagen zugleich: „Das bist du mir wert“ oder „Schau her, das bin ich (in Geschenkform), wohlhabend sowie geschmackvoll.“

Im Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache ist das „Weihnachtsgeschenk“ in dem Sinne auch häufig mit Attributen wie „ausgefallene, ideale, originelle, ultimative“ verbunden und wird auch oft mit „ungeliebte, unpassende, verfrühte, verspätete, vorzeitige, nachträgliche“ verknüpft. Letzteres sagt wiederum viel zu den „Erwartungserwartungen“, die vielleicht doch schwerer zu erfüllen sind, als so mancher annimmt. So gaben bei einer weiteren Erhebung auf Statista.de 28 Prozent der 1001 Befragten an, zu fragen, ob sie ein Geschenk umtauschen dürften, wenn es ihnen nicht gefallen würde.

Die Lösung dafür scheint auf den ersten Blick so einfach zu sein, würde sie nicht immer so einfallslos wirken: Gutscheine aller Art feiern Hochkonjunktur, denn immer mehr Menschen überlassen die Auswahl einfach bequemerweise dem Beschenkten, wobei besonders Männer diese Methode bevorzugen. Jeder Fünfte umgeht nach Angaben des Hauptverbands des Deutschen Einzelhandels in Deutschland geschickt dem Risiko eines Fehlkaufes durch den Kupon- oder Groupon-Joker.

Außerdem wird immer mehr online geshoppt – vielleicht auch um dem Weihnachts-Trubel in den Fußgängerzonen zu entgehen. In einem Zeitraum von 2004 bis 2012 sanken die Offline-Einkäufe immerhin um sechs Prozent, der Online-Handel konnte die Umsätze dagegen um das Doppelte steigern (Quelle: Statista.de).

“Süßer die Kassen nie klingeln”

Wahrscheinlich ist es die hektische und bunte Konsumwelt selbst. Sie bietet so viele Anreize und Angebote, dass der wichtige Prozess, das „Richtige“ für eine wertvolle Person zu finden, unweigerlich erschwert wird. Die verzweifelten Geschenke-Sucher sehen dann im grellen Kaufhausdschungel der Möglichkeiten oft nur noch rot-weiß-grün und hören das leise „süßer die Kassen nie klingeln“ nicht. Wird Weihnachten demgemäß seiner christlichen Werte entledigt und ist der Geschenke-Run schuld daran?

Dazu sagt Theologe und Bestseller-Autor Manfred Lütz im Domradio-Interview: „Eigentlich hat das Heidentum das Fest inzwischen wieder zurückerobert. Man wollte das christliche Fest, damit die Heiden nicht mehr heidnisch feiern. Und jetzt tun sie aber genau das wieder.“ Am 25. Dezember wurde ursprünglich ein heidnisches Lichterfest, eine Sonnwendfeier zelebriert, die erst etwa 300 Jahre nach Jesu Geburt von der Römischen Kirche übernommen, umgemodelt und im Sinne der Religion neu gestaltet wurde. Lütz konstatiert für heute: „Inzwischen wurden die christlichen Inhalte vom Konsumhype ziemlich platt gemacht.“

Echte Geschenke erhalten die Freundschaft

Das Materielle scheint auf dem Vormarsch zu sein, doch ob der Wertewandel, den der Theologe beschreibt, wirklich so ausgeprägt ist, kann nur der Blick unter die eigene Tanne zeigen. Dort kann auch nur ein Umschlag liegen, es muss auch kein Gutschein sein, sondern kann auch im Sinne von Lyriker Joachim Ringelnatz funktionieren: „Schenke mit Geist ohne List. // Sei eingedenk, // Daß dein Geschenk // Du selber bist.“

Wie das Ringelnatzen anstatt Dinge-schenken geht? Die Plattform www.zeit-statt-zeug.de hat sich zum Beispiel darauf spezialisiert, das wohl Einzigartigste und Wertvollste zu verschenken, was der Mensch einem Anderen wohl bieten kann: gemeinsame Zeit. Dort gibt es Gutscheine wie „Vorlesen statt Buch“, „Kochabend statt Kochbuch“, „Nackenmassage statt Schal“ und „Fußballspielen statt Konsole“. Ich habe ja „Waldluft statt Parfum“ für meine Mutter bestellt.

Anm.d.Red.: Was Frauen sich zu Weihnachten wünschen und was sie wirklich geschenkt bekommen – dazu eine Statistik. Die Fotos stammen aus den State Library and Archives of Florida.

13 Kommentare zu “Ware Weihnacht: Der Brauch kennt keine Alternativen zum Konsumrausch, doch es gibt sie

  1. mir hat noch niemand eine bienenhochzeit mit dr systemteorie erklärt, dennoch verpüre ich keine sehnsucht nach diesem fest.

  2. Yup, treffender kann mans nicht sagen – tolle gedanken/stil auch insg: “Lebkuchen-, Stollen- und geschickt gestapelte Dominosteinberge versperren da als erste Barrikade der Besinnlichkeit dem Einkauf für letzte Sommernachtsträume den Weg.” SO ISSES! DEfinitiv.

  3. @Q – Guter Hinweis, die Umfrage kannte ich noch nicht! Sehr passend auf jeden Fall.

  4. @anne mohnen @crisby @juli
    Danke schön!!! Mit drei Ausrufezeichen. Für jeden eins.

  5. Der Beitrag hat nichts verloren an Aktualität, obwohl er jetzt schon über 2 Jahre alt ist. Ich konnte trotzdem noch lachen. Gut geschrieben. Danke

  6. Es lebe das heidnischste aller Feste! Wirklich komisch.
    In meinem Blog versuche die große Chance zu zeigen, Geschenke nachhaltig und gesund auszusuchen und damit dem Beschenkten eine Alternative zu zeigen, die er vielleicht anschließend immer öfter in sein Leben involviert.
    Wir hoffen das Beste.
    Frohe Weihnachten 2023

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