Von Reddit lernen: Wie politische Debatten in sozialen Medien wieder aufleben könnten

Nicht erst seit der Trump-Wahl liegt die Frage in der Luft: Ist die digitale Öffentlichkeit kaputt? Was für eine politische Meinungsbildung ist in postfaktischen Zeiten überhaupt noch möglich? In ihrer dreiteiligen Serie zu Clickbait Politics untersuchen der Medienkünstler Georg Eckmayr und die Juristin Daniela Jaros die neuen Formen der digitalen Öffentlichkeit. Abschließend stellen sie konkrete Ideen vor, wie die politische Debatte wieder aufleben und welche Rolle die Plattform Reddit dabei einnehmen könnte.

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Die thematische Selektion, welche politischen Inhalte zur Debatte taugen und welchen nur am Rand Aufmerksamkeit zukommt, wurde in der Ära der Massenmedien durch aufmerksamkeitspolitische Dynamiken zwischen den Akteuren aus Politik (von politischem Personal und Institutionen jeder Couleur) und Medien (den konservativen wie den progressiven Anbietern) bestimmt. Conflict sells, bad news sells, personalities sell, wie Niklas Luhmann in seiner exzellenten, Publikation Die Realität der Massenmedien erläutert.

Diese Dynamik, die das Selektionsprinzip der politischen Berichterstattung bestimmt, wird in aktuellen Debatten gerne als “Manipulation der Menschen durch die Medien” bezeichnet. Dabei wird übersehen, dass die Medien selbst gar nicht die vollständige Kontrolle darüber haben, welche Themen medial behandelt werden, da sie markt- und aufmerksamkeitsökonomischen Prinzipien unterliegen, sich gegenseitig beeinflussen und keiner zentralen Organisation unterliegen. Die Dynamik hinter der thematischen Selektion medialer Berichterstattung war bereits vor der Entstehung digitaler Medien (sozialen Medien, Blogs, usw.) von Unvorhersehbarkeit geprägt, die Akteure des Medialen waren jedoch bekannt.

Die Verkürzung politischer Debatten

Auf Pressekonferenzen sprechen namentlich bekannte Politiker und in der Regel namentlich bekannte Journalisten berichten darüber in Publikationen, deren Eigentümer sowie redaktionelles Personal öffentlich zugänglich sind. Genau hier liegt der strukturelle Unterschied zur aktuellen digitalen Medienlandschaft. Wie bereits im ersten Artikel dieser Serie beschreiben, forcieren diese Strukturen die Verschiebung des politischen ins individuelle Erleben und damit einhergehend die Verkürzung politischer Debatten auf einen Konflikt zwischen unvereinbaren Weltbildern.

Es geht hier also nicht nur darum eine globale Medienlandschaft wie die heutige durch nationales Medienrecht zu regeln, sondern darum für die aktuellen technischen medialen Möglichkeiten, die entsprechenden Umgangsformen, die entsprechenden diskursiven Regeln im internationalen oder zumindest europäischen Konsens zu entwickeln. Das System Medien selbst, wie das Sprechen der Institutionen zu den Bürgerinnen und Bürgern muss grundlegend reformiert werden.

Vorschläge für den kompletten Umbau der Medien

Das Misstrauen gegen mediale Berichterstattung liegt zum einen in der Unkenntnis um die Selektionsprinzipien der Redaktionen, über prinzipielle Funktionen und Aufgaben des heterogenen Feldes, das auf den Namen “die Medien” hört. Niklas Luhmann liefert dazu wertvolle Einblicke, die als Grundlage jedes modernen Medienunterrichts aufbereitet und mit einer Konzeption der neuen, sozialen Medien erweitert werden sollten. Abgesehen von Medienbildung müssen aber auch die medialen Formen aktualisiert und überdacht werden. Selektionsmechanismen, die als Filter in Redaktionsbüros oder in Algorithmen verpackt wirken, müssen nach transparenten Kriterien entworfen und letztendlich in ihrer Funktion sichtbar gemacht werden.

Einen Beitrag dazu liefert aktuell der Guardian. Wie funktionieren die Algorithmen, die meinen täglichen Informationsfluss kuratieren und welche Debatten werden hinter verschlossenen Türen in Redaktionen geführt? In einer Zeit in der Videos einer Köpfung von jedem Jugendlichen mit wenigen Klicks im Internet abgerufen werden können, wirkt jede Art von Bevormundung (auch in schützender Weise) der Konsumierenden anachronistisch.

Auch die Selektionsprinzipien selbst und die Arten der medialen Inszenierung müssen an die aktuellen Gegebenheiten angepasst werden. Hier gilt es eine Vielfalt journalistischer Formen zu entwickeln, die klassische Prinzipien der Mainstreamberichterstattung aufbrechen. Aktualität, Konflikte und auf Personen zugeschnittene Berichterstattung kommen als Narrative in massenmedialen Settings dem Publikum entgegen, sprechen es an. Dabei werden jedoch nicht nur Sachverhalte verkürzt, sondern auch Interpretationen, Vorhersagen, Projektionen oder Vermutungen mit der reinen Faktendarstellung verwoben.

Dies geschieht besonders in Fällen, welche sich einem rationalen oder emotionalem Begreifen entziehen z.B. bei den ersten Berichten nach einem Amoklauf oder bei der Darstellung aktueller Entwicklungen, deren Auswirkung noch nicht abschätzbar sind (Flüchtlingspolitik, Klimaerwärmung, …). Darstellungen von Fakten und die Interpretation dieser müssen voneinander losgelöst und in verschiedenen Rubriken untergebracht werden.

Das Genre des Datenjournalismus existiert eigentlich bereits, wenn auch noch nicht in emanzipierter Form, dieses könnte noch um das Genre des “ungeschnittenen Videoclips” erweitert werden. Journalismus heute bedeutet nicht Narrative zu schaffen, sondern im besten Falle gut recherchiert und geprüftes Material zur Debatte zu stellen. Das gleiche gilt hier für Institutionen, die Informationen zu Verfügung stellen.

Ergänzend benötigt es aber auch Orte der Debatte. Dazu sind die sozialen Medien nicht (oder nur sehr bedingt) geeignet. Soziale Medien bieten aktuell eine Diskursform, welche eher der Abgrenzung zu anderen, der Selbstbestätigung und Bestätigung der eigenen Identität dienen. Dabei gehen aber grundlegende Wesenszüge einer politischen Debatte, wie etwa Verbindlichkeit verloren. Um im digitalen Raum Instrumente des Demokratischen zu implementieren gilt es die Formen des digitalen Diskurses mit den Regeln der politischen Debatte sinnvoll zu verknüpfen.

Was ist politische Debatte und wozu brauchen wir sie?

Politische Debatte dient in einer demokratischen Gesellschaft idealerweise der Verhandlung von Positionen zur Herstellung von Konsens über die gemeinsamen Lebensbedingungen innerhalb einer bestimmten Einheit. Politische Debatte geht über Wahlkampf hinaus, da sie nicht nur bestimmte Personen durch Wahlen dazu legitimiert, (zuvor im Wahlkampf angekündigte) Positionen in den zur Regierung befugten Institutionen zu vertreten. Sie ist wesentlicher Bestandteil jedes politischen Prozesses. Aus diesem Grund ist politische Debatte in einem liberalen und demokratischen Staat in erster Linie prozedural determiniert.

Grenzen der politischen Debatte sind einerseits strafrechtlich abgesteckt (so finden sich im österreichischen Strafgesetzbuch das Verbot der Verleumdung, der üblen Nachrede, der Beleidigung sowie im Verbotsgesetz das Verbot der Wiederbetätigung im Zusammenhang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit Österreichs). Weiter gilt auch der Grundrechtsschutz für alle Bürgerinnen und Bürger innerhalb jeder politischen Debatte. Schließlich kommen noch weitere Bestimmungen aus dem Zivil- und Verwaltungsrecht hinzu (hier etwa: Urheberrecht).

Demokratische Debatte ist streng genommen immer an eine Einheit, an einen spezifischen Ort, geknüpft. Gemeindepolitik wird auf Gemeindeebene, Bundespolitik auf Bundesebene und Europapolitik auf europäischer Ebene idealerweise vom jeweiligen souveränen Demos (europäische Staatsbürgerinnen und Staatsbürger) diskutiert. Schwierig wird es dann, wenn der für die bestimmte Einheit zuständige Demos über Dinge außerhalb seines Souveränitätsbereichs diskutiert und noch schwieriger dann, wenn sich Dinge außerhalb seines Souveränitätsbereichs auf die eigene Einheit auswirken – ein Phänomen, das in einer globalisierten Welt gang und gäbe ist. Klimawandel, Jobverluste an Billiglohnländer oder Kriege mit daran geknüpften Flüchtlingsbewegungen sind als Beispiele zu nennen.

Die Überlappung verschiedener Ursachen und Wirkungen sowie die „Technisierung“ politischer Debatten macht nach demokratischen Regeln funktionierende Selbstbestimmung eines Demos innerhalb einer bestimmten Einheit schwierig. Diese Schwierigkeit hat Politikverdrossenheit zur Konsequenz. Aufgrund einer gefühlten Machtlosigkeit interessiert sich das Demos nicht für die Ausübung seiner Souveränität oder zieht sich in kleinere Einheiten zurück, wie wir es aktuell an wachsenden Nationalismen in der EU und dem Schwinden eines gemeinsamen europäischen politischen Willens festmachen können.

Social Media und politische Debatte

Politische Debatte in sozialen Medien scheint ein verführerischer Ausweg aus dieser Politikverdrossenheit und Machtlosigkeit zu sein. Jede und jeder mit Internetanschluss kann zu allen Themen, die medial diskutiert werden, seine Meinung abgeben, und zwar global. Gleichzeitig vermitteln soziale Medien das Gefühl, sowohl auf sehr einfachem Weg sich jenseits lokaler und nationaler Informationsquellen Information und Wissen zu bestimmten Themen anzueignen, aufgrund derer es leichter fällt, eigene Interessenvertreter herauszufordern. Soziale Medien ermöglichen auf eine einfache Art und Weise auch global einen Zusammenschluss Gleichgesinnter.

An all dem ist nicht unbedingt etwas Schlechtes, was jedoch fehlt sind jene grenzübergreifenden prozeduralen Regeln, die, um demokratische Debatte zu führen, auch innerhalb der sozialen Medien gelten müssten. Ein Anfang für solche Regeln wäre ein Antragsrecht auf zeitnahe Löschung (zum Beispiel maximal innerhalb von 12 Stunden) bestimmter Inhalte sowie die Löschungspflicht bestimmter rechtswidriger Inhalte durch die Medienanbieter selbst. Wer unter welchen Regeln solche Löschungsstellen verwaltet müsste klar determiniert sein und eine Balance zwischen der Ermöglichung von Meinungsfreiheit – insbesondere für Nutzende aus undemokratischen Staaten – aber dem gleichzeitigen Respekt bestimmter gemeinsamer strafrechtlicher Rahmen und Grundrechte. Ansätze hierfür gibt es bereits, diese sollten weiterentwickelt werden.

Eine weitere Möglichkeit, prozedurale Regeln in mediale Debatten einzuführen, um deren demokratische Legitimität zu stärken, ist die Regelung der Teilnahme. Um bei einer Wahl zu wählen bedarf es schließlich auch einer Passivlegitimation. Mit einem klugen System der Teilnahmeregelung könnte man bestimmte mediale Debatten aus den Händen aufmerksamkeitsraubender Trolle, Hetzer und Verschwörungstheoretiker befreien. Wieder wären Medienanbieter gefragt, beispielsweise ein System der Identitätsüberprüfung einzuführen, um Postings zu politischen Themen unter falschem Namen zu verunmöglichen oder einzelne Nutzende nach mehrfachem Verstoß gegen einen von der Usercommunity legitimierten Verhaltenskodex zu sperren.

Hier ist keine allgemeine Verpflichtung zur Verwendung von Klarnamen im Netz gefordert. Dieser Vorschlag bezieht sich lediglich darauf, dass für Prozesse, für welche Verbindlichkeit notwendig ist, diese auch gewährleistet wird. Auch könnte man mit einem transparenten und über „Likes“ hinausgehenden System des Peer-Review die Reihung von Postings und Kommentaren beeinflussen. So ermöglichen beispielsweise die aktuellen „Reaktionsmöglichkeiten“ auf Facebook, Trauer oder Wut auszudrücken. Ein Kommentar, auf den möglichst viele – wenn auch wütend – reagieren, wird immer prominent auffallen und deshalb Aufmerksamkeit rauben. Ein kluges System würde Kommentaren, auf die es viele kritische Reaktionen gibt, eher unsichtbar machen. Das System der sozialen Medienplattform Reddit verteilt zum Beispiel Karma-Punkte und macht die Comment-History der Nutzenden für alle sichtbar, wodurch Trolle leicht enttarnt werden können.

Hier gilt es einerseits natürlich, die entsprechenden Systeme zu entwickeln, um Aufmerksamkeit von hetzerischen, verschwörungstheoretischen und auf reine Selbstdarstellung gerichtete Debatten weg auf echte politische Debatten hin zu lenken. Anderseits bedarf es aber auch der demokratischen Mehrheit, die sich an einem solchen System beteiligt – sei es bei der Schaffung eines Vehaltenskodices, sei es bei der verantwortungsvollen Teilnahme an Peer-Reviews, sei es bei der Anzeige strafrechtlich relevanter Handlungen. Nur so wird jene Mehrheit, die für Grundrechtsschutz auf allen Ebenen steht, ihre Stimme im Netz zurückgewinnen.

Anm. d. Red.: Das Foto stammt von Mario Sixtus und steht unter einer Creative-Commons-Lizenz. Dieser Beitrag ist der dritte Teil einer Artikelserie zu Clickbait Politics. Lesen Sie den ersten Teil hier und den zweiten hier.

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