Vertrauen kann man nicht kaufen

In einer von Christoph Martin Wieland im 18. Jahrhundert popularisierten Redewendung heisst es >Man sieht den Wald vor lauter Baeumen nicht<. Koennte es sich angesichts der Weltwirtschaftskrise um ein aehnlich gelagertes Problem handeln? Mehr als ein Jahr nach dem Ausbruch der Krise ist sie inzwischen so verbreitet, dass man aufgehoert hat, sie bewusst wahrzunehmen. Omnipraesenz waere in diesem Fall eine bestimmte Form der Absenz. Etwas, das omnipraesent, beziehungsweise so sehr praesent ist, dass es schon wieder absent erscheint, draengt keine Fragen auf, zumindest nicht direkt. Der Alltag geht weiter. So als waere nichts geschehen. Und doch: Konnte man in diesem Jahr nicht spueren, wie sich Alltaeglichkeiten auf neue Weise zuzuspitzten begannen?

Alltaeglichkeiten wie Unterstellungen, Misstrauen, Angst bekamen im Zuge der Krise ein neues Gewicht. Ich bilde mir jedenfalls ein, dass solche psycho-sozialen Modi in den vergangegen 12 Monaten schaerfere Konturen angenommen haben und dass man diese Konturen deutlicher wahrnehmen kann, seitdem die Krise in ihrer Primaergestalt wie ein Wald wirkt, den man vor lauter Baeumen nicht mehr sieht. Mit Primaergestalt meine ich natuerlich alle Geldfragen, also das Funktionieren und Nicht-Funktionieren der Wirtschaft sowie die Verantwortung und das Versagen der Manager. Seitdem all dies in der Wahrnehmung der Oeffentlichkeit in den Hintergrund getreten ist, scheint die Krise für viele aus der Welt.

Der Regisseur Frank Castrof sagt jedoch treffend, die Krise sei erst noch dabei, sich aufzubauen. Sie wird noch praesenter, sprich: absenter werden in den kommenden Jahren. Eine Alltaeglichkeit wie Misstrauen koennte bald das Signums des Ausnahmezustands sein. Deshalb ist Alexander Kluges >Fruechte des Vertrauens< mein persoenliches Highlight des Jahres. Hier werden alle verdraengten, unterbelichteten und ungestellten Fragen diskutiert mit Gaesten so unterschiedlich wie Joseph Vogl und Helge Schneider. Und allein die Laenge [10 Stunden] sorgt dafuer, dass Kluges Film, wenn in einem Stueck gesehen, den Alltag unterbricht, oder, wenn gestueckelt gesehen, den Alltag begleitet wie ein Freund, der einem vor Augen fuehrt, was nicht aus dem Gesichtsfeld ruecken sollte: Vertrauen. Meine Top of the Pops 2009

Album

Moritz von Oswald Trio: Vertical Ascent
Anthony and the Johnsons: The Crying Light
The Field: Yesterday & Today
Wingdale Community Singers: Wingdale Community Singers
Ryuichi Sakamoto: Out of Noise
Gossip: Music for Men

Ausstellung

Ceal Floyer: Kunst Werke, Berlin
Jack Goldstein: Museum fuer Moderne Kunst, Frankfurt
Hito Steyerl: nbk, Berlin
Joyce Pensato: Galerie Capitain Petzel, Berlin
Tatiana Trouvé: Migros Museum, Zuerich
Jeff Koons: Neue Nationalgalerie, Berlin

Buehne

Jean-Luc Nancy, Humboldt Universitaet Berlin
Ryuichi Sakamoto, Hebbel Theater
Dietmar Dath, Sophiensaele
Arjun Appadurai, Haus der Kulturen der Welt
Peter Sloterdijk, Berliner Ensemble
Jacques Ranciere, ici berlin

DVD

Fruechte des Vertrauens: Alexander Kluge, 2009
Paranoid Park: Gus Van Sant, 2007
Nachrichten aus der ideologischen Antike : Alexander Kluge, 2008
Belladonna: Eiichi Yamamoto, 1973
Bertrand Bonello: Le pornographe, 2001
Kumo no mukô, yakusoku no basho: Makoto Shinkai, 2005

Kinofilm

Das weisse Band: Michael Haneke
Jerichow: Christian Petzold
The Boss of it All: Lars von Trier
The Hurt Locker: Kathryn Bigelow
Lulu & Jimi: Osakar Roehler
[Les Valseuses: Bertrand Blier, 1974]

Theorie

Buckminster Fuller: Education Automation
Jean-Luc Nancy: Wahrheit der Demokratie
Arjun Appadurai: Geographie des Zorns
Slavoi Zizek: Auf verlorenem Posten
Jean-Luc Nancy: The Fall of Sleep
Marcus Steinweg: Politik des Subjekts

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