Verantwortung in der Krise: Der Preis, den wir für unsere Handlungsfähigkeit zahlen

Es geht bergab: Ständig und überall Krisen. Wer kann dagegen etwas unternehmen? Die Philosophin und Berliner Gazette-Autorin Janina Sombetzki schärft in ihrem Essay die Idee von Verantwortung – als Preis, den wir für unsere Autonomie und Handlungsfähigkeit zahlen.

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Heutzutage ist immer wieder von Krisen die Rede. Im selben Atemzug auch immer von den alten Verantwortlichkeiten, die quasi aus den Fugen geraten sowie von neuen, die im Zuge von Krisen erst formuliert zu werden verlangen. Doch wie lassen sich Verantwortlichkeiten in Krisen definieren?

Ich möchte hier weniger alle Schwierigkeiten im Erleben von Krisen ausräumen, sondern vielmehr ein erstes begriffliches Instrumentarium für die praktischen Herausforderungen, vor die uns Krisen stellen, vorschlagen. Denn um ‚praktisch‘ etwas erreichen zu können, ist manchmal ein kurzes Innehalten nötig, um sich wieder auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Denn wenn wir den Verantwortungsbegriff nicht bloß als hohle Phrase beliebig in Dienst nehmen, müssen wir feststellen, was wir uns von seinem Gebrauch erwarten. Ansonsten sind Forderungen ‚im Namen der Verantwortung‘ häufig zu unspezifisch, als dass sie irgendjemand erfüllen könnte, viel zu umfassend, sodass sie mein Gegenüber überfordern, oder so intransparent, dass sie von sich aus dazu einladen, sich ‚aus der Verantwortung‘ zu stehlen.

Was ist Verantwortung?

Eine etymologische Untersuchung würde zeigen, dass unser Verständnis von Verantwortung auf drei Säulen fußt: Verantwortung bedeutet erstens, dass jemand Rede und Antwort steht und zweitens, dass dies kein rein deskriptives, sondern immer ein zumindest auch normatives Geschehen darstellt. Gerne erklärt man zwar bspw. den Regen verantwortlich für das Nass-Sein der Straße. Doch in solchen Fällen ist von Verantwortung nur in übertragenem Sinne als bloße Verursachung die Rede; der Regen kann für das Nass-Sein der Straße schließlich nicht Rede und Antwort stehen.

Mit Verantwortung im Sinne eines Rede-und-Antwort-Stehens meinen wir mehr, was uns Äußerungen wie bspw. die, dass Angela Merkel für den Niedergang Deutschlands verantwortlich ist, vor Augen führen. Zwar denken wir hier vielleicht auch daran, dass sie den Niedergang Deutschlands in einem rein kausalen Sinne verursacht hat. Darüber hinaus jedoch ließen sich mit einer solchen Bemerkung auch Erwartungen und Forderung verknüpfen. Drittens rekurriert die Rede von Verantwortung auch immer auf bestimmte Kompetenzen, die wir der Angesprochenen implizit zuschreiben. Wir unterstellen, dass die fragliche Person integer, bedacht und reflektiert das Anliegen der Verantwortung in Angriff nimmt.

Aus dieser Minimaldefinition ergeben sich mehrere Relationselemente, die anzeigen, in welcher Weise von Verantwortung in konkreten Kontexten die Rede sein kann, damit ihre Einforderung nicht als hohle Phrase ‚verpufft‘. Zuerst bedarf es eines Subjekts bzw. einer Trägerin, denn wenn nicht klar ist, wer durch das Rede-und-Antwort-Stehen angesprochen ist, wird auch niemand verantwortlich handeln können. Darüber hinaus ist ein Objekt oder Gegenstand zu definieren. Denn was nutzt sonst die Forderung nach Verantwortungsübernahme, wenn man gar nicht weiß, wofür man Verantwortung tragen soll? Drittens gilt es, die Instanz, vor der man sich verantwortlich zeigt, auszumachen. Viertens tragen wir auch generell gegenüber einer Adressatin Verantwortung, diejenige, die den Grund dafür abgibt, warum man in der fraglichen Situation überhaupt von Verantwortung spricht.

Schließlich müssen normative Kriterien den Maßstab und die Richtlinien dafür abgeben, in welcher Weise Verantwortung zuzuschreiben ist. Um dies an einem Beispiel zusammenzufassen: Eine Diebin steht für einen Buchdiebstahl vor Gericht. Sie ist das Subjekt der Verantwortung. Sie steht vor einem Gericht (Instanz der Verantwortung) für den Diebstahl (Gegenstand/Objekt) Rede und Antwort. Die Adressatin ist die Bestohlene und die normativen Kriterien stellen das Strafgesetzbuch (also strafrechtliche Normen) dar.

Was ist eine Krise?

Eine Krise ist ein je spezifisches Konglomerat aus einem nicht-linearen Prozess, einem Wendepunkt und einem Risiko. Je nachdem, wie diese drei Elemente miteinander verknüpft sind, lassen sich Verantwortlichkeiten innerhalb einer Krise definieren. Ob eine Krise bspw. negativ oder positiv, individuell oder kollektiv, zeitlich punktuell oder prozessual verstanden wird, hat maßgeblich etwas mit dem Spannungsverhältnis von nicht-linearer Prozessform, Wendepunkt und Risiko zu tun: Wendepunkte tauchen innerhalb einer Krise bspw. als kritische Phase, Schwellenwert, Kipppunkt, Entscheidungsmoment oder ‚Point of no Return‘ auf.

Sie leiten eine Krise ein, beendet sie, oder kennzeichnet einen markanten Einschnitt und damit quasi den Kern der Krise selbst. In der Medizin wurde die Krise historisch als eng gesetzter Zeitpunkt mit dem Wendepunkt selbst (als Entscheidung über Heil und Unheil) identifiziert. In der Gesellschaftstheorie, Wirtschaft und Politik wurde er später auch als allmählicher Wandel begriffen, der jeder Krise innewohnt. Ein Wendepunkt kann (als Entscheidung) bewusst herbeigeführt, manchmal (als drohender Kipppunkt) nur erahnt, in anderen Kontexten geradezu gefürchtet oder sogar erhofft werden.

Die Art des Wendepunktes hängt von der nicht-linearen Prozessform ab, um die es sich bei einer spezifischen Krise handelt. Bislang wurde zwischen verschiedenen nicht-linearen Prozessformen wie z. B. synergetischen, emergenten, exponentiellen, kumulativen, dynamischen und chaotischen Prozessen nicht eindeutig differenziert. In der internationalen Politik um 1900 ist z. B. von Krisen als dynamischen Prozessen die Rede, die mit einer bewussten Entscheidung für oder gegen einen Krieg enden. Die sogenannte Klimakrise hingegen enthält als kumulativer Prozess zahlreiche Kippmomente, die keine bewussten Entscheidungen verzeichnen, sondern nicht vollständig kalkulierbar und nur zu erahnen sind. Intuitiv wird man zugestehen, dass politische Krisen eine andere Prozessart darstellen als z. B. der Klimawandel.

Ein nicht-linearer Prozess ist über das Scharnier des Wendepunkts, der Spannung erzeugt und das weitere Geschehen qualitativ und quantitativ beeinflusst, mit dem Risiko verknüpft. Dabei ist „Risiko“ zunächst ein formaler und persönlich festzulegender Begriff, der nur aussagt, dass etwas auf dem Spiel steht, aber noch nicht, was dies sei. Ein Risiko kann aus unterschiedlichen Bedingungen entstehen, die an den Wendepunkt geknüpft sind, bspw. aufgrund einer Eigendynamik (Unkontrollierbarkeit, Irreversibilität) des Prozesses, aufgrund von Unsicherheit oder Unwissenheit (auch Nicht-wissen-Können) über das Eintreten eines Wendepunktes.

Doch auch das Gegenteil kann ein Risiko bewirken, wenn der Wendepunkt, als Entscheidung herbeigeführt, einen ‚Zugzwang‘ für die Betroffenen generiert, wenn der Prozess gewissermaßen zu starr wird und die Beteiligten einen Verlust an Autonomie und Eigenständigkeit befürchten. Im folgenden zeige ich schematisch drei Beispiele auf, die das Zusammenspiel von nicht-linearer Prozessform, Wendepunkt und Risiko anschaulich machen:

Beispiel 1: Finanzkrise

Prozessform: Kumulativer Prozess (bzw. mehrere kumulative Prozesse). Wendepunkt: Kipppunkt(e) (evtl. als negativ konnotierter ‚Point of no Return‘). Risiko: Unwissen, Eigendynamik, schwere Vorhersehbarkeit.

Beispiel 2: Internationale Politik um 1900: bspw. Faschodakrise (1898), Julikrise (1914)

Prozessform: Dynamischer Prozess (Verhandlungen über eine mögliche Kriegserklärung). Wendepunkt: Entscheidungsmoment(e). Risiko: Kalkulierbarkeit, ‚Zugzwang‘, Verlust von Autonomie und Eigenständigkeit.

Beispiel 3: Individuelle Entwicklung der Person (Entwicklungskrise)

Prozessform: Synergetischer Prozess. Wendepunkt: Kritische Phase. Risiko: Unentziehbarkeit, Eigendynamik, Unkontrollierbarkeit.

Autonomie und Handlungsfähigkeit

Wie nun weiter mit der Verantwortungszuschreibung innerhalb von Krisen? Nach meiner Vermutung geht es weniger darum, dass wir „die Demokratie neu erfinden“, sondern uns vielmehr unserer genuinen Fähigkeiten als politische Akteurinnen wieder bewusst werden. Denn offensichtlich halten wir Angela Merkel und alle anderen potenziellen Verantwortungsträgerinnen intuitiv für autonome Personen, die kommunizieren können und sich durch Handlungsfähigkeit und Urteilskraft auszeichnen. Dies sind die drei wesentlichen Bedingungen für die Möglichkeit zur Verantwortungsübernahme.

In Fällen aktueller politischer Krisen wie bspw. „Lampedusa“ sollten wir dem Problem vielleicht zunächst ein eindeutiges Gesicht geben: Von welcher Art sind die Wendepunkte, die einen Umschwung im Geschehen markieren? Sind dies bewusst herbeigeführte Entscheidungsmomente oder haben wir eher drohende ‚Points of no Return‘ vor Augen, denen wir ausgeliefert sind? Welche Risiken gehen wir ein? Erst dann lohnt sich ein Nachdenken über mögliche Verantwortlichkeiten.

Als politische Handlungssubjekte tragen wir alle, sofern man uns die oben genannten Bedingungen (Kommunikations- und Handlungsfähigkeit, sowie Urteilskraft) nicht gänzlich absprechen mag, mehr oder weniger Verantwortung – die Frage ist ‚nur‘: Wofür? Geht es bspw. im Falle Lampedusas um die kollektive politische Verantwortung aller Bürgerinnen, auf die politischen Führungskräfte Deutschlands einzuwirken? Generiert die „Lampedusa-Krise“ vielleicht (darüber hinaus) eine individuelle moralische Verantwortung, sich in das politische Geschehen einzumischen? Tragen wir als Mitglieder dieses politischen Systems die Verantwortung für Entscheidungen, die andere in unserem Namen fällen, mit? Welches sind die normativen Kriterien, nach denen wir unser Urteil zu formulieren und unsere Argumente zu schärfen haben?

Wir sehen – hier gibt es nichts neu zu erfinden, sondern es handelt sich um Fragen, die so alt sind, wie die Verantwortung selbst. Ich für meinen Teil gerate immer stärker darüber ins Zweifeln, ob im Falle echter Krisen die Rede von Verantwortung noch angebracht ist. Sie wurde zwar für intransparente Kontexte regelrecht ‚erfunden‘. Doch vielleicht sind die nicht-linearen Prozesse, die die Menschen seit dem 20. Jahrhundert vermehrt anstoßen, von einem gänzlich ‚anderen Kaliber‘. Vielleicht ist es hier gar nicht mehr möglich, im klassischen Sinn Verantwortungssubjekte auszumachen, was die undifferenzierte Rede von Systemverantwortlichkeiten erklären könnte.

Gleichwie – es hilft nichts, unsere politischen Führungskräfte „orientierungslos“ zu nennen und den Einfluss engagierter Bürgerinnen zu „schwach“. Die Verantwortung ist der Preis, den wir für unsere Autonomie und Handlungsfähigkeit zahlen, selbst dann, wenn wir in unserem Tun eingeschränkt und in unserem Urteilen beschränkt sind.

Anm.d.Red.: Der Beitrag erscheint im Rahmen des Berliner Gazette Jahresschwerpunkts SLOW POLITICS. Er basiert auf Janina Sombetzkis Studie Verantwortung als Begriff, Fähigkeit, Aufgabe und ergänzt diese um aktuelle Überlegungen zur Krisenthematik. Alle Fotos in diesem Text sind im Rahmen von SLOW POLITICS, der 14. Jahreskonferenz der Berliner Gazette, entstanden. Weitere Fotos und alle Resultate finden sich auf der Doku-Webseite: berlinergazette.de/slow-politics-results.

10 Kommentare zu “Verantwortung in der Krise: Der Preis, den wir für unsere Handlungsfähigkeit zahlen

  1. Generisches Femininum, Männer werden sprachlich unsichtbar gemacht = schlechtes Denken.

    Unsubscribed.

  2. Ich weiß leider nicht, was ich auf den Vorwurf des “schlechten Denkens” Gehaltvolles antworten soll. In jedem Fall tut es mir leid, dass Sie sich durch das generische Femininum offensichtlich davon haben abhalten lassen, einen Kommentar in Bezug auf eine These oder ein Argument meines Textes zu verfassen.

  3. Hallo, interessanter Beitrag! Ich bin politische Aktivistin und mit politischer Theorie nicht so vertraut. Was kann ich als EInzelperson konkret unternehmen?

  4. Verantwortung, das ist ein gutes, ein wichtiges Stichwort. Und ich danke für die Schärfung des Begriffs hier. Doch…, ja es gibt ein ein “doch”. Denn wir haben es heutzutage mit einer gefährlichen Ideologie zu tun, bei der es darum geht, alle Verantwortung auf Einzelpersonen abzuwälzen. Also: Institutionen können ihrer Aufgabe nicht mehr gerecht werden (eben und um so mehr in Krisenzeiten) und die Schlussfolgerung lautet: Der Einzelne muss sich auf seine Rolle als verantwortungsvoller Bürger besinnen. Aus diesem Dunstkreis kommt der Appell “Du bist Deutschland!” und ich frage mich, ob die Autorin damit überhaupt ein Problem hat und wenn ja, wie sie ihre Theorie von dieser gefährlichen Ideologie abgrenzen möchte?

  5. Wieso bedarf es denn der Verantwortlichkeit der Krise? Oder, warum erinnert man sich an Verantwortlichkeit in der Krise?

    Verantwortlichkeit in der Krise unterstellt Schuld. Wer die Krise verantwortet hat, ist schuld an einer Krise, muss aber nicht notwendig die Verantwortung praktisch tragen.

    Ein Beispiel ist Juncker. Er ist einer der verbliebenen Personen aktiv im politischen Betrieb, die verantwortlich waren für die Krise der Gemeinschaftswährung, weil ordnungspolitische Fehler in der EU-Währungspolitik begangen wurden. Juncker war vom Anfang an dabei und Chef der Euro-Gruppe. Juncker wurde nun zum Präsidenten der EU-Kommission gewählt. Krisen in der Höhe dieser Währungskrise können gar nicht mehr persönlich verantwortet werden.

    Die Lampedusa-Krise resultiert auch aus Entscheidungen des Gerichtshofes in Straßburg, die ausgesprochen flüchtlingsfreundlich waren. Verantwortlichkeit von Richtern für fatale Nebenwirkungen gibt es in der Regel nie, Richter sollen in der Fiktion nicht die Folgen ihrer Entscheidung beachten. Politische und sozioökonomische Wirkung ist keine juristische Kategorie.

    Der Rekurs auf Werte in einer (wahrgenommenen) Krise ist ja doch eine recht konservative Wendung. Ist denn Verantwortlichkeit nicht auch ohne Krise denkbar? Ist die Verantwortlichkeit vor der Folie der Krise eine Ersatzhandlung, eigentlich eine Verunsicherung des Geistes und der Werte?

  6. @Rainald Krome (Kommentar 4): Vielen Dank für den Hinweis und ja – dem Ideologieverdacht stimme ich sofort zu und sehe das äußerst problematisch! In meiner Dissertation war das ein Grund dafür, sich genauer mit dem Verantwortungskonzept auseinanderzusetzen und zu überlegen, ob es sozusagen in der ganz grundlegenden Idee der Verantwortung (etymologisch/genealogisch hergeleitet) eine Art Schranke gibt, an der – unter der Voraussetzung, wir sind gewillt, den Begriff sozusagen “korrekt” zu verwenden – falsche Zuschreibungen scheitern müssen. Ich denke, in Äußerungen wie “Du (als Einzelner) trägst Verantwortung für Deutschland.” liegen mehrere Dinge im Argen, auf die einzugehen, doch sehr diesen Rahmen hier sprgenen würden. Doch ganz kurz gefasst, kann man sagen, dass in diesem Fall das fragliche Verantwortunsobjekt (Deutschland) schlicht zu komplex ist, als das ein Einzelner dafür tatsächlich verantwortlich sein könnte. Solche und ähnliche Äußerungen können höchstens metaphorisch verwendet werden. Ich weiß, dass Sie das nicht befriedigend finden werden und kann an dieser Stelle leider nur auf das Buch verweisen, in dem ich den anstrengenden Versuch unternehme, herauszufinden, wann und wie wir feststellen können, dass ein Verantwortungsgegenstand “zu groß” oder “zu komplex” für eine Individualverantwortlichkeit ist. Im Schlussteil der Dissertation gebe ich ein paar Vorschläge, wie man dennoch mit solchen und ähnlichen Phrasen umgehen kann, warne aber generell vor dem Gebrauch des Verantwortungsbegriffs in dieser Weise.

  7. @A. Rebentisch (Kommentar 5): Ich versuche, ein paar Bemerkungen aus Ihrem Kommentar herauszugreifen, zu denen ich vielleicht etwas sagen kann, ohne dass es Sie wahrscheinlich befriedigen wird.

    “Wieso bedarf es denn der Verantwortlichkeit der Krise? Oder, warum erinnert man sich an Verantwortlichkeit in der Krise?” Ich denke, ganz einfach deshalb, da alles, das in den Handlungsbereich des Menschen fällt, von Verantwortlichkeiten in kleinerem oder größeren Maß zu reden ist. Auf die Möglichkeit, handeln zu können, folgt die Verantwortung praktisch postwendend, was nicht bedeutet, dass alle Menschen alles gleichermaßen verantworten können (ganz und gar nicht). In Krisen fragt man deshalb ganz gerne nach Verantwortung – so denke ich zumindest -, da für viele intuitiv nicht mehr ersichtlich ist, dass und wie man hier überhaupt noch handeln kann. Krisen erscheinen vielen Menschen als etwas, das urplötzlich über sie hereinbricht, und das stimmt meistens auch, doch bedeuet das auf der anderen Seite nicht, dass uns damit jegliche Handlungsfähigkeit und die Möglichkeit, Einfluss nehmen zu können, vollständig abhanden geht. Handlungsfähigkeit und Verantwortung sind graduelle Konzepte, die nicht einfach so “holter die polter” gestrichen werden können, nur weil es die Umstände manchmal erfordern, etwas genauer hinzusehen und herauszubekommen, was es denn ist, was ‘man’ tun kann.

    “Verantwortlichkeit in der Krise unterstellt Schuld. Wer die Krise verantwortet hat, ist schuld an einer Krise, muss aber nicht notwendig die Verantwortung praktisch tragen.” Das sind jetzt mehrere Punkte: 1. Ich bin mir nicht sicher, was Sie mit “unterstellen” meinen, aber de facto sind Verantwortung und Schuld ganz unterschiedliche Konzepte (wie bereits Hannah Arendt in herausragender Weise gezeigt hat). Man kann für etwas verantwortlich sein (retrospektiv oder prospektiv) und dennoch nicht die Schuld dafür tragen. Das halte ich für sehr wichtig. 2. Sie weisen ja auch vollkommen zu Recht darauf hin, dass man den Verantwortungsbegriff in sehr unterschiedlicher Weise gebraucht: Man kann Verantwortung haben, Verantwortung tragen, Verantwortung wahrnehmen, zur Verantwortung gezogen werden, sich verantwortlich verhalten usw. In meinem Beitrag ging es mir maßgeblich darum, was es heißt, wenn jemand Verantwortung hat bzw. verantwortlich ist. Ob sie darüber hinaus die Verantwortung wahrnimmt oder zur Verantwortung praktisch gezogen wird, ist definitiv eine wichtige Frage, die ich aber wenn, dann nur gestreift habe. Ich habe das Gefühl, dass es Ihnen v. a. darum geht zu sagen, dass es ja gut und schön ist, von Verantwortung zu sprechen, dass es aber ziemlich wurscht ist, wenn niemand de facto darauf hört oder niemand wirklich zur Rechenschaft gezogen wird. Das ist sicherlich ein Problem, an dem ich aber leider nichts ändern kann. Ich würde dennoch immer daran festhalten, dass Menschen (auch Richter für fatale Nebenfolgen etc.) sehr wohl verantwortlich sind.

    “Der Rekurs auf Werte in einer (wahrgenommenen) Krise ist ja doch eine recht konservative Wendung. Ist denn Verantwortlichkeit nicht auch ohne Krise denkbar?” Mir ging es weniger um Werte als vielmehr ganz allgemein um Normen (normative Kriterien), die ganz unterschiedliche Gestalt annehmen können. Ob es sich dabei um das Strafgesetzbuch handelt (das natürlich auch Werte enthält) oder um die 10 Gebote, sei dahingestellt. Alle Menschen richten ihr Handeln de facto implizit oder explizit an Werten aus, ob in Form von Prinzipien, Gesetzen, Geboten, Imperativen, persönlichen Richtwerten oder was auch immer. Menschen sind normative Wesen. Ich halte das nicht für konservativ und auch nicht für problematisch. Und ja natürlich gibt es Verantwortung auch ohne Krisen! Die Rede von Krisen ist ja ‘nur’ der ‘Aufhänger’ für diesen Beitrag, wenn Sie gestatten, dass ich das so plump sage.

  8. @Gergana (Kommentar 3): Wenn Sie politische Aktivistin sind, brauchen Sie diesen Beitrag wahrscheinlich gar nicht mehr und wissen doch selbst ganz gut, was Sie alles tun können, oder? Mir ging es weniger darum, praktische Beispiele für ein Handeln in Krisen zu geben, sondern insbesondere für diejenigen, die bezweifeln, dass Menschen innerhalb von Krisen überhaupt Verantwortung haben, aufzuzeigen, dass sie sehr wohl verantwortlich sind. Diejenigen – und Sie scheinen mir dazu zu gehören -, die bereits wissen, dass Krisen sozusagen nicht von Verantwortung befreien, können diesen Beitrag vllt. als (wie Sie ja auch sagten) “interessantes” theoretisches Begründungsfundament sehen. Mehr wollte und kann ich mit meiner Arbeit wohl auch gar nicht leisten. Ich frage mich ganz stupide, was Verantwortung überhaupt ist, wohingegen Sie darüber sozusagen bereits hinaus sind und (vor einem implizit bereits bestehnden Verantwortungsverständnis) handeln.

  9. Demokratie neu erfinden, bedeutet auch das Soziale neu zu erfinden und wie sich im Miteinander, Mächte regulieren und Verantwortungen austarieren lassen. Für mich hängt das alles eng zusammen. Insofern verstehe ich nicht ganz die Abgrenzung, die die Autorin trifft.

    Trifft Verantwortung eigentlich nur für Individuen und individuelle Körperschaften zu? Oder gibt es auch ein Konzept von Verantwortung, das bei Netzwerken und sowas wie Gesellschaft greift?

  10. @Janina (Kommentar): Danke für die Antwort! Ich arbeite in eienm Bereich, in dem es zum einen um die konkrete Arbeit mit Menschen geht, zum anderen aber viel diskutiert wird, über Ideologie etc. Da fand ich Ihren Beitrag erfrischend, denn hier spielt Ideologie nicht die erste Geige. Danke!

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