Zeit für Utopien: Wie wollen wir das Zusammenleben in der Post-Snowden-Welt gestalten?

NSA-Gate hat gezeigt: Wenn die Black Box geöffnet wird, entstehen nicht automatisch demokratische Verhältnisse. Auch nicht gerechtere Formen des Zusammenlebens. Dafür müssen wir kämpfen. David Lyon, international führender Kopf der Surveillance Studies, unternimmt an dieser Stelle eine Bestandsaufnahme der Post-Snowden-Welt. Ein Plädoyer für neue Utopien.

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Seit den NSA-Enthüllungen ist nichts mehr wie es vorher war. Insbesondere im Bereich der Surveillance Studies, die ich seit einigen Dekaden betreibe. Die größte Veränderung besteht darin, dass wir jetzt eindeutige Beweise für globale Massenüberwachung haben. Wir wussten zwar schon vorher davon, aber der Nachweis ist natürlich umso ausschlaggebender für Leute die Wissenschaft betreiben. Außerdem legen die Enthüllungen einige Verfahren offen, die bisher nur teilweise bekannt waren.

Was wir wissen ist, dass die Regierungen ihre eigenen Bürger ausspionieren (wobei das in Teilen eine Funktion des beliebigen Charakters der Massenüberwachung ist); dass Konzerne mit Behörden umfangreich kooperieren, wissentlich und bereitwillig (und manchmal auch nicht); und dass normale Internet- und Handy-Nutzer durch die Verwendung ihrer Geräte ein integraler Bestandteil des Überwachungsspiels sind. Das Verhalten der Nutzer wirkt sich auf den Erfolg oder Misserfolg der Überwachung aus.

Nicht Big Brother, sondern Big Data

Abgesehen davon, besteht die wichtigste Veränderung für die Surveillance Studies darin, dass wir die Machtverhältnisse tiefergehender erforschen können. Das ist eine Art Baukastensystem: Die Tatsache etwa, dass globale Massenüberwachung die physische Infrastruktur der globalen Kommunikation nutzt (Glasfaserkabel, etc.), erlaubt es uns, die Machtverhältnisse überall auf der Welt, unter diesem Gesichtspunkt zu ordnen. Außerdem können wir prüfen, was Regierungsagenturen tatsächlich tun.

Wir können jetzt auch besser analysieren, wenn Regierungen weitreichende aber oft zweideutige Beziehungen miteinander eingehen. Beispielsweise ist klar, dass die USA Israels Überwachung unterstützt – und damit die Unterordnung der Palästinenser. Doch obwohl dies der Fall ist, wird Israel selbst von der NSA als eine Bedrohung für die regionale Stabilität im Nahen Osten betrachtet.

Wenn durch NSA-Gate klar geworden ist, dass die Überwachung heute durch ein komplexes Netzwerk der Regierungen und kooperierenden Akteuren durchgeführt wird, dann besteht das Gebot der Stunde darin: Es gilt, diese Formationen zu erkunden und nachzuzeichnen, wie sie gebaut sind und betrieben werden. Außerdem wie ihre Aktivitäten geregelt, gestoppt oder eliminiert werden können. Das ist nicht die Welt von Big Brother, sondern von Big Data. Netze, die über unseren Alltag ausgeworfen sind, werden prall gefüllt auf den Markt geworfen und von aus der digitalen Deckung heraus agierenden Daten-Brokern verkauft.

Die Auswirkungen der Big Data-Überwachungsindustrie sind subtiler und schwerwiegender als bei Big Brother. Dank Edward Snowden sehen wir sehr viel deutlicher, wie der Trend der Überwachung hin zur Datenanalyse und weg von Inhalten geht. Worüber wir am Telefon sprechen und was wir uns in Emails schreiben (also Kommunikationsinhalte), das ist immer noch anfällig für Überwachung. Die Verschiebung hin zu “Big Data”-Praktiken verschiebt auch den Schwerpunkt unserer Fragestellungen hinsichtlich globaler Massenüberwachung.

Im Geflecht der Netzwerke

Ob Demokratie, Geopolitik, Wirtschaftsspionage oder Netzsicherheit: Die Erschütterungen der NSA-Enthülungen sind in jedem dieser Bereiche gleichermaßen spürbar, genauso wie in jedem dieser Bereiche Antworten benötigt werden. Trotzdem ist der größte Antrieb der Überwachung „Sicherheit“ und das hat starken Einfluss auf alle Bereiche. Die politische Gewichtung von Sicherheit (was meistens vage „nationale“ Sicherheit bedeutet) wirkt sich auf nahezu jeden der eben erwähnten Bereiche aus und führt insbesondere dazu, dass demokratische Praktiken untergraben werden und damit möglicherweise auch die Politik selbst.

Was die tatsächliche Praxis der Überwachung angeht, so bewegt sich nach NSA-Gate unser Schwerpunkt in der Forschung immer entscheidender auf die Analyse von Big Data-Ansätzen zu. Muster, Beziehungen und was Facebook “Social Graph” nennt – all das wirft Fragen auf über die Bedeutung von Privatsphäre auf, die noch nicht auf der Höhe der Zeit gedacht wird. Wenn wir jedoch anfangen die Privatsphäre in Abhängigkeit zu solchen Verbindungen zu verstehen, kann das auch einen wichtigen Beitrag zur Mobilisierung von Widerstand gegen unangemessene oder illegale Überwachung leisten. Außerdem auch zur Eindämmung jener Aspekte der Überwachung, die die Menschenrechte und Würde verletzen.

Um ein Beispiel zu geben: In Kanada, wo ich arbeite und lebe, sind die Reaktionen auf NSA-Gate gemeinhin verhaltener als in einigen anderen Ländern. Das hat komplexe politische Gründe. Kanada hat zwar einige wichtige Neuerungen im Bereich von Privatsphäre und Datenschutz erreicht. Zum Beispiel gibt es hier Kommissionsmitglieder für Bundes- und Landesdatenschutz (“federal and provincial Privacy Commissioners”). Dennoch all das scheint auch dazu geführt zu haben, dass sich eine gewisse Selbstzufriedenheit einstellt. Dieses Gleichgewicht von Fortschritt und Selbstzufriedenheit könnte nun ins Wanken geraten.

Kontroversen in Kanada

Das Gesetz C51, welches die Befugnisse der Polizei und der Nachrichtendienste ohne ausreichende Aufsicht erhöht, wird öffentlich kontrovers diskutiert. Die Interessenvertretung Openmedia.ca konnte im Zuge der Debatte viele BürgerInnen auf die Problematik aufmerksam machen. In der Wissenschaft, wo sich normalerweiseher alles etwas langsamer bewegt, wurden eine Reihe von Projekten initiiert, die etwas bewegen könnten. Das Snowden Surveillance Archiv in Torronto ist vielleicht das Bekannteste. Einzelne Forscher wie Andrew Clement, Michael Geist, Kent Roach, Gabriella Coleman und Ron Deibert haben hier erhebliche Beiträge geleistet.

Das “Snowden Surveillance Archiv”, das das von mir geleitete Surveillance Studies Centre übrigens aktiv unterstützt, bietet Forschern und in der Tat jedem Mitglied der Öffentlichkeit die Möglichkeit, auf die durch Snowden geleakten und dann durch Journalisten veröffentlichten Dokumente, frei zuzugreifen. Weil das Archiv ein Verzeichnis hat, kann diese wertvolle Ressource leicht für viele verschiedene Recherchen zum Thema Überwachung und Privatsphäre verwendet werden. Diese können wiederum neue Muster der Überwachung in Bezug auf bestimmte Bevölkerungsgruppen, auf bestimmte Länder oder Einzelpersonen enthüllen.

Es ist alles eine Frage der grenzübergreifenden Zusammenarbeit. Einerseits zwischen verschiedenen Sektoren: Also beispielsweise zwischen NGOs, Universitäten und Politik. Andererseits zwischen verschiedenen Regionen: Die Tatsache, dass Wissenschaftler in Europa ähnlich auf die NSA-Enthüllungen reagiert haben wie wir in Nordamerika, gibt uns eine neue Chance über den Atlantik hinweg zusammenzuarbeiten und von den neuen Erkenntnissen zu profitieren. Mir sind bereits einige neue Projekte aufgefallen, die auf einer solchen gegenseitigen Erkenntnis basieren und die internationale Zusammenarbeit stimulieren. Zum Beispiel eine multi-disziplinäre Initiative der University of Essex, die fragt: Stellt Big Data eine Bedrohung für Menschenrechte dar?

Soziale Klassifizierung

Letzten Endes ist die Forschung, die wir im Bereich der Surveillance Studies durchführen, zwangsläufig gemeinschaftlich. Wir sind voneinander abhängig. Nicht zuletzt, weil die Themen so komplex und vielschichtig sind. Im Surveillance Studies Centre arbeiten wir an Fragen zur Big Data-Überwachung, schauen wie algorithmische Ansätze neue Formen der “sozialen Sortierung” ermöglichen, durch die die Bevölkerung in verschiedene Kategorien unterteilt wird, gemäß derer sie unterschiedliche Behandlung und unterschiedliche Grade an Aufmerksamkeit genießt.

Immer wieder heißt es, wir hätten nichts zu befürchten, wenn wir nichts zu verbergen haben. So sehr wir uns wünschen, in einer solchen Welt zu leben, müssen wir doch einsehen, dass dieses Versprechen leer ist. Denn die Tatsache der sozialen Kategorisierung bedeutet, dass wir nicht dadurch identifiziert werden, wer wir sind und was wir haben, sondern was wir in Zukunft tun könnten. Die Vermutung und damit der Schutz der Unschuld wird verweigert. Daraus können unnötige Schmerzen und sogar schweres Leiden resultieren.

Ich denke, dass die Privatsphäre immer noch eine wichtige Rolle in der Post-Snowden-Ära spielt. Privatsphäre kann gegen unnötige Überwachung in Stellung gebracht werden. Wirkungsvoll kann das nur dann sein, wenn das Konzept überdacht wird. Es kann nicht länger etwas Abstraktes, Körperloses und irgendwie gesetzlich Verankertes sein. Privatsphäre muss sich ganz konkret auf Körper, Beziehungen und Menschenrechte beziehen. Denn das ist heute relevanter denn je.

Zeit für Utopien

Viel zu lange bewegte sich die Kritik der Überwachung in einem negativen, geradezu apokalyptischen Rahmen: der Touch von Orwells “1984”, die dystopische Vision eines Worstcase-Szenarios, die Prognose einer drohenden Katastrophe für Demokratie und Menschheit. Im schlimmsten Fall beflügelte dieser apokalyptische Rahmen Paranoia oder ein Gefühl, dass die Dinge weit außerhalb menschlicher Kontrolle liegen. Das wiederum rief Lähmung und Selbstzufriedenheit hervor.

Natürlich sind Warnungen vor drohenden Gefahren wichtig. Doch was wir heute mehr denn je brauchen, das ist ein “ethischer turn”. Es gilt zu beschreiben, welche Art von Gesellschaft wir zu bauen erhoffen. Auch Snowden selbst stellt diese Fragen. Welche positiven Ziele wollen wir verfolgen? Wie kann die Kraft von Konzepten wie Menschenwürde, Menschenrechte, Fürsorge, Verfahrensgerechtigkeit usw. den Einsatz von Überwachung in der Gesellschaft reformieren?

Am Anfang jeder gesamtgesellschaftlichen Transformation steht für mich die Frage: Warum ertragen wir die Massenüberwachung eigentlich? Ein paar Dinge liegen auf der Hand. Erstens: Überwachung ist etwas Alltägliches geworden, gewissermaßen normal. Zweitens spielt der Angst-Faktor nach 9/11 eine wichtige Rolle. Drittens fällt der Spaßfaktor der sozialen Medien ins Gewicht. Zusammengenommen produziert das Einverständnis und den Konsens, Überwachung nicht zu kritisieren. Kurz: Eine Kultur der Konformität.

Was tun?

Die große Herausforderung unserer Zeit besteht nun darin, die herkömmlichen Denkmuster über Überwachung zu ändern. Es ist an der Zeit, dass nicht nur Eliten verstehen, dass Überwachung eine der wichtigsten Methoden ist, moderne Gesellschaften zu organisieren, dass Überwachung ausnahmslos alle betrifft und dass es künftig Veränderungen sowohl in der täglichen Praxis als auch in der Informationspolitik geben müsste. Wenn sich ein gesellschaftliches Bewusstsein zu diesen Anliegen breitenwirksam bildet, dann könnten sich die Dinge ändern. Gleichzeitig müssen wir verstehen lernen, dass keine Überwachung unvermeidlich oder irreversibel ist, was auch schwierig ist, wenn wir von solchen scheinbar unaufhaltsamen Trends wie globaler Massenüberwachung sprechen.

Was können wir tun? Snowden hat gezeigt, dass man einen Unterschied machen kann, indem er mutig und auf eigene Faust handelte. Auch mutige Journalisten machen einen Unterschied. Sowie zahlreiche normale Bürger, nachdem sie begonnen haben, zu verstehen, wie Überwachung funktioniert. Zu wissen, dass es starke Verbindungen zwischen Überwachung und unseren Lebenschancen sowie Entscheidungen gibt – vor allem für diejenigen, die bereits an den Rand gedrängt oder benachteiligt werden – könnte eine neue Politik der Überwachung stimulieren.

Deshalb muss den Problemen auf verschiedenen Ebenen begegnet werden – nicht zuletzt in Verbindung mit anderen Kämpfen um Information wie zum Beispiel für Open Source. Kleine Veränderungen können erheblich sein: Online-Petitionen, gemeinschaftliche Multi-Stakeholder-Richtlinienänderungen oder juristische Neuformulierungen können etwas in Bewegung setzen.

Wenn wir uns zudem im Kopf frei machen von Angst und anfangen, unseren digitalen Alltag neu zu sortieren, können wir die Kultur der Konformität überwinden, die derzeit so wirkmächtig ist, dass es für viele den Anschein hat, als habe sich seit den NSA-Enthüllungen rein gar nichts verändert.

Anm.d.Red.: David Lyons neues Buch heißt “Surveillance after Snowden” und erscheint bei Polity Press. Der Beitrag basiert auf Fragen, die die Redaktion der Berliner Gazette stellte. Mehr zum Thema in unserem Dossier Post-Snowden und im Rahmen von Workshops bei der UN|COMMONS-Konferenz, die Berliner Gazette vom 22.-24.10. mit der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz veranstaltet. Das Foto stammt von Leo Hidalgo und stehen unter einer Creative Commons Lizenz (cc by 2.0).

7 Kommentare zu “Zeit für Utopien: Wie wollen wir das Zusammenleben in der Post-Snowden-Welt gestalten?

  1. Er schreibt:

    Privatsphäre kann gegen unnötige Überwachung in Stellung gebracht werden. Wirkungsvoll kann das nur dann sein, wenn das Konzept überdacht wird. Es kann nicht länger etwas Abstraktes, Körperloses und irgendwie gesetzlich Verankertes sein. Privatsphäre muss sich ganz konkret auf Körper, Beziehungen und Menschenrechte beziehen.

    Genau hierzu haben sich schon seit längerem Menschen ihre Gedanken gemacht: http://kritikresistenz.blogsport.de/2013/10/12/post-privacy-ist-sowas-von-eighties/

  2. Wer sich mit Überwachung beschäftigt, hat normalerweise eine dunkle Sicht auf die Dinge, würde ich zumindest annehmen. Daher begrüße ich sehr, dass David Lyon hier eine so große Anstrengung unternimmt, um eine utopische Perspektive aufzubauen. Dass wir den Blick in und auf die Zukunft richten sollten, das ist für mich die entscheidende Forderung in diesem Artikel.

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