Ein einsamer dunkelgrauer Baum ragt vor einer hellgrauen Wand empor. Zitternd recken sich seine grauen Aeste und Zweige in den weissblassen Himmel. Weiter hinten sind ein paar hellgraue Backsteinhaeuser zu sehen. Vor den schmalen Fenstern sind entweder Klimaanlagen oder Gitter angebracht. Eine schwarze Feuerleiter schlaengelt sich an einem der Haeu- ser hoch. Klimaanlage. Feuerleiter. Das erinnert an die USA. Um genauer zu sein an New York. Dieser trostlose Ort, mit dem knoechrigen Baum und der kahlen Wand, ist das Zuhause von Dr. Barnes in der 120 West 85th Street, oder doch nicht?
Es ist die reale Adresse eines fiktiven Ortes. Karina Nimmerfalls Fotoband >Cinematic Maps< versammelt Adressen und Schwarz-Weiss-Photos von Orten, die es gleichzeitig gibt und nicht gibt. Die New Yorker Adressen stammen aus der US-amerikanischen TV-Serie Law & Order, in der jeder Kriminalfall mit einer praezisen aber fiktiven Adressangabe eingeleitet wird. Allerdings fuehren diese Angaben nicht an die in der Serie abgebildeten Orte. Dort, wo in Law & Order ein Arzt wohnt, steht ein Sozialbau; das Starland Hotel aus der Serie hat die Adresse eines hispanischen >Pork Shops<; Terry und Linda Davis >wohnen< mitten auf einer Strassenkreuzung. Anstatt einfach nur die Kulissen der Fernsehserie aufzusuchen, geht Nimmerfalls Projekt einen Schritt weiter und wagt einen neuen Blick hinter die Kulissen der TV-Wirklichkeit. Was heisst das? Das Buch legt die kinematographische Karte einer Stadt offen, die es nicht gibt. Eine Art >kollektiver Fehlerinnerung< koennte man mit Norman M. Klein sagen, der damit das Erinnern an Orte meint, die man nur aus dem Fernsehen kennt. Doch Nimmerfalls Stadt existiert noch nicht einmal im Gedaecht- nis des TV-Zuschauers. Wer diese Hirnwindungen als Reise- route begreift, kann mit den >Cinematic Maps< durch ein New York navigieren, wie man es noch nie erinnert hat.