Wird Mutter Erde wiedergeboren?

Wir schreiben das Jahr 1966: die Nationale Luft- und Raumfahrtbehörde NASA und die Science-Fiction-Fernsehserie Star Trek nehmen fast zeitgleich ihre Mission auf. Wenn Star Trek sehr bald für Millionen von Menschen zu einer Ersatzreligion avanciert, dann gilt das für die NASA und ihre Erzeugnisse erst recht. Zu den populärsten Erzeugnissen zählen Aufnahmen aus dem Weltall, die die Erde zeigen, dazu unter anderem Earthrise (1968) und das am häufigsten reproduzierte Bild der Geschichte: Blue Marble, 1972 entstanden.

Das Blue Marble-Ikon ist immer wieder mit dem christlichen Kreuz verglichen worden. Und man hat nicht ganz unrecht damit: Wie das Kreuz gehört es zu den am weitesten verbreiteten und auratischsten Symbole der Geschichte.

Die neue Kirche und das neue Kreuz

Wenn Blue Marble das neue Kreuz ist, dann ist NASA die neue Kirche: Der offizielle Urheber dieses Motivs und zentrale Autor seiner Sinndeutungen hat das Motiv in hoher Auflösung und Reproduktionsqualität für die freie Nutzung zur Verfügung gestellt. Ohne Gebühren. Alle haben das Recht dazu, das Bild in ihrer Wohnung über die Tür zu hängen. Die Jünger, die diese frohe Botschaft in die Welt hinaus tragen, können als Blue Marble-Puristen bezeichnet werden.

Sie haben erlebt, wie im Jahr 1972 der Planet plötzlich greifbar war. Und das nicht irgendwie, sondern in der handlichen Größe einer Murmel. Niemals jedoch wären sie auf die Idee gekommen, daraus eine Neubestimmung von Macht abzuleiten. Im Gegenteil.

Dies lässt sich einfach illustrieren: Als Neil Armstrong auf dem Mond stand und die Erde sah, bemerkte er, man könne den Heimatplaneten mit einem Daumen verdecken. Er wurde gefragt, ob ihm dies ein Gefühl von Größe einflößte. Er antwortete darauf: “No, it made me feel really, really small.”

Der Historiker Robert Poole, der diesen Satz in seinem Buch Earthrise: How Man First Saw the Earth zitiert, zählt zu jenen Blue Marble-Puristen. Für ihn ist das Ikon aus einem zukunftsweisenden Moment des 20. Jahrhunderts hervorgegangen und hat in dieser Eigenschaft eine eindeutige Botschaft: Es steht für Einheit und Ganzheit der Erde und ihrer BewohnerInnen. Es steht für die Weltgemeinschaft als großes Ganzes, die im Ökosystem Erde einen fruchtbaren, aber auch einen mit aller Macht zu verteidigenden Boden findet.

Purismus und Paranoia

So wurden die Schutzreflexe, die das Blue Marble-Motiv auszulösen vermag, zum tragenden Moment von Initiativen, die bis heute gegen besinnungslosen Verbrauch und Konsum protestieren, so zum Beispiel am Earth Day, der alljährlich in inzwischen über 175 Ländern stattfindet. An diesem weltlichen Feiertag hissen unzählige Menschen die Erdflagge. Auf der inoffiziellen Flagge ist das Schwarz des Weltalls gegen einen blauen Hintergrund ausgetauscht worden – das Blue Marble-Motiv, hier reduziert auf die namensgebende Murmel, prangt in der Mitte.

Traurig und geradezu entrüstet gibt Poole zu Protokoll, dass bereits in den 1980er Jahren aus der Blue Marble-Ikone ein Ikon geworden ist, welches “small, comprehensible, manageable” sei, “an impoverished image that symbolises and perpetuates an impoverished world view.” Um seine Ablehnung auf den Punkt zu bringen, schickt er noch hinterher: “With her naked image displayed across magazine pages and advertising hoardings, Mother Earth seemed to have escaped nuclear destruction only to suffer a fate worth than death.”

Tod und Wiedergeburt

Dieser Tod, sofern man diesen Vorgang so nennen will, ist jedoch mit einer Wiedergeburt verbunden. Die Wiedergeburt vollzieht sich im Modus der Reproduktion, Vervielfältigung und Serie. Hier steht die Aneignung des Ikons an der Tagesordnung: So einfach wie die kreisrunde Kugelfläche aus der Originalfotografie extrahierbar ist, so einfach lässt sie sich übertragen. Auf Platten-, Magazin- und Buchcover, auf Fahnen und Briefköpfe, Briefmarken und Postkarten, Anzeigen und Produkt-Etiketten, auf Google-Earth-Armaturen, T-Shirts und Knopfoberflächen. In der öffentlichen Hand hat das Foto ein Eigenleben entwickelt.

Leider interessiert sich Poole nicht dafür. All dies dient ihm höchstens als Anlass zur Trauer. Was sein Buch dennoch lesenswert macht, ist der Reichtum an Informationen zu den Umständen, unter die Fotos entstanden. Wer einen halbwegs souveränen Kopf hat, wird sich von der religiösen Grundstimmung des Buches nicht beirren lassen und darin eine kleine Schatzkammer erblicken, die das Wissen um eine wichtige Phase der Globalisierung bereichert. Gleichwohl wird man nicht umhin kommen, sich an Constance Penleys Buch NASA/Trek: Popular Science and Sex in America (1997) zurück zu erinnern.

Das Potenzial des Blue Marble-Stoffs im Hinblick auf die Subversion offizieller Erzählungen ist bei Poole über weite Strecken spürbar. Was bei ihm jedoch latent ist, kommt bei Penley explizit zum Tragen: Star Trek und das, was die Fans im Aneignungsmodus daraus gemacht haben, lassen eine Gegenöffentlichkeit entstehen, die von der vorherrschenden Öffentlichkeit kaum abzugrenzen ist und sie auf diese Weise unterwandert.

2 Kommentare zu “Wird Mutter Erde wiedergeboren?

  1. Wurde nicht jüngst der erste benannte Flug zum Mars für 2030 angekündigt? Die blaue Murmel bekommt eine rote Schwester. Wie früher bei Pokémon.

  2. @ Salvy: Das verstehe ich nicht. Warum eine rote Schwester? Bzw. warum bekommt? Wenn man die Planeten als Geschwistergestirne versteht, dann hatte die blaue Murmel doch schon immer eine rote Schwester!?

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