“Taking to the Streets”: Was kann Aneignung von Stadtraum bedeuten?

Mit Platon im Gepäck zeichnet Vilém Flusser in seinem Buch “Vom Subjekt zum Projekt” sehr anschaulich die Entwicklung der europäischen Stadt nach. Er sieht die Metropole in einem Wandlungsgeflecht, das gebildet wird von “Häuserraum (oike)”, “Marktraum (agora)” und “Kontemplationsraum (temes)”. Platon selbst war sich sicher, dass die Weisheit oder Theorie generell dominieren sollte. Ein Ideal freilich, das sich durch die Zeiten nicht gehalten hat, blicken wir doch heutzutage deutlich der Herrschaft des Marktraums ins gebaute Gesicht. Möglicherweise lassen sich aber die gegenwärtigen Proteste zu Media Spree, Stuttgart 21 und Flugrouten von BBI als Verschiebungen innerhalb des platonischen Dreiklangs deuten – nur dieses Mal in Richtung des Häuserraums.

Eine fernöstliche Momentaufnahme dieser Verschiebung leistet das Forschungsprojekt “Taking to the Streets”, das vom Lehrstuhl Günther Vogt an der ETH Zürich durchführt wird. Methoden der Aneignung öffentlicher Räume in Berlin, Shanghai, Tokio und Zürich stehen dabei im Interesse der Bauforscher. Mit Tokyo. Die Strasse als gelebter Raum wurde nun der erste Teil der Studienergebnisse veröffentlicht.

Von der Verweil- zur Pendlerkultur

In Teilen kommt das Buch als Art fundamentaler Stadtführer aus Architektensicht daher und lebt vom Staunen des Abendländers im Angesicht des Fremden. Besonders fallen die anderen Hierarchien der Straßen und Räume auf. Weit entfernt von unserer visuellen Zurichtung durch die Zentralperspektive fehlt in der japanischen Stadt auch die Abgrenzung von Außen und Innen, von Stadt und Land.

Alles scheint dicht geflochten und durch reine Bewegung bestimmt. Die Menschen auf den Straßen fließen förmlich in der polyzentrischen Struktur Tokios und werden von Zeit zu Zeit mittels aufgewerteter Durchgangsorte an Straßenkreuzungen und Bahnhofsquartieren bestenfalls ein wenig verlangsamt.

Bewegung und permanenter Wandel durchziehen also als Leitmotive das urbane Geflecht und scheinen sich auch zu spiegeln im unprätentiösen Umgang mit historischer Bausubstanz – an dieser wird in der Regel nämlich nicht festgehalten. Plätze, lauschige Ecken, typische Stadtmöblierungen wie Parkbänke, Mülleimer, Wasserspiele kennt man in Tokio bestenfalls aus westlichen Filmen und ersetzt eine nicht vorhandene, öffentliche Verweil- durch eine Pendlerkultur.

Vor dem Hintergrund, dass Stadtraum zum reinen Bewegungsraum wird, erscheint das geografische Zentrum Tokios umso faszinierender. Der kaiserliche Palastgarten ist nämlich eine verbotene Zone und gibt sich als Leer-Raum. Gleich einem schwarzen Loch wird die hektische, städtische Energie absorbiert und bildet die Korona um eine Stille und um ein antipodisches Zentrum der Zeitlosigkeit.

Anwohnerschaft vs. Vergnügungsklientel

Aber was genau sind die Aneignungslehren aus einer fernöstlichen Stadtkultur? Was lässt sich übertragen? Das Forscherteam der ETH Zürich sieht hier ein Modell für die postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft, in deren Vollzug Stadtquartiere mittels verschiedener Funktionen wie Arbeit, Vergnügen, Kommerz, Wohnen (wieder) vermischt werden. Diese hohe Verdichtung trägt gemeinhin das Etikett “urbanes Wohnen”.

Wenn man in diesem Kontext die aktuellen Konflikte zwischen Anwohnerschaft und Vergnügungsklientel im Prenzlauer Berg oder auf der Kreuzberger Admiralsbrücke betrachtet und sich in die Probleme der Gentrifizierung begibt, taucht freilich die Frage auf, ob die postindustriellen Modell-Botschaften doch nur wieder der Erneuerung des Marktraumes dienen.

Hierzu noch einmal Flusser mit einer wenig schmeichelhaften Bewertung eines solchen Zustands: “Der Sieg der Konsumenten über die Politiker und Theoretiker, sei es in liberaler oder sozialistischer Form, muss daher als Herstellung einer idiotischen Zivilisation gesehen werden.”

Von Lustwandeln zu Guerilla-Lounging

Bleiben die Fragen nach der möglichen Dominanz des Häuserraums. Was könnte ein “Wohnen außer Haus” bedeuten? Kann sich dieser Prozess auch leicht und lachend die Bahn brechen wie zum Beispiel beim Guerilla Lounging oder muss sie bedeutungsschwer und kontrastiv oder gar militant daherkommen?

Wie fügt sich eine “Okkupation des alltäglichen Lebens” in die tradierte Verweilkultur (öffentliche Parks, Flaniermeilen etc.) der europäischen Stadt? Steht das Prinzip des Lustwandelns an solchen Orten nicht mit Selbstinszenierung in Verwandtschaft? Wirkt das normale Leben dort nicht geradezu obszön? Es könnte so einfach sein, aber reicht uns das Einfache, das Martin Heidegger in Sein und Zeit so treffend beschreibt: “Welt ist ein Charakter des Daseins selbst” ?

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