Staatstrojaner: Politisiert der Skandal die Gesellschaft? Oder zementiert er unsere Ignoranz?

Der Staatstrojaner ist ein politischer Skandal wie ihn die Geschichte der BRD selten zuvor gesehen hat. Die Enthüllung einer offenbar verfassungswidrigen Software zur Überwachung unseres Denkens wirft viele Fragen auf. Nicht zuletzt diese: Wird das Engagement jener Hacker, die den Staatstrojaner enthüllt haben – wird dieses verfassungspatriotische Engagement auch andere Bürger politisieren? Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki ist nicht allzu optimistisch.

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Wir sind mitten in einem politischen Skandal. Die Erregung ist schier unermesslich. Größer noch vielleicht das Gefühl von Ohnmacht. Wir müssen jetzt kurz innehalten. Denn die Aufmerksamkeit, die Deutschland dem Staatstrojaner schenkt, dürfte schon sehr bald abnehmen. Dann beschäftigen sich nur noch hartnäckige Journalisten, Juristen und Aktivisten mit diesem Thema. Vielleicht auch ein paar Politiker. Und der Rest der Bevölkerung, der davon genauso betroffen ist? Werden die anderen 95% des Landes zum Tagesgeschäft übergehen? Frei nach dem Motto: “Ich habe es doch schon immer geahnt. Wozu also die ganze Aufregung? Außerdem: Ich habe doch nichts zu verbergen”.

Es gibt im Augenblick zahlreiche ungeklärte Fragen. Liegt ein Verfassungsbruch vor? Und wenn ja: welchen Ausmaßes? Welche Bundesländer haben ihn begangen? Was waren die Motive? Wer hat davon profitiert? Welche Gefahren erwachsen daraus für die Zukunft? Welche technischen Fehler und Verbrechen wurden begangen? Wie wird damit strafrechtlich umgegangen? Welche Folgen hat das für die digitale Politik des Staates? Wir sollten nicht so tun, als sei das meiste davon ohnehin schon geklärt.

Wenn wir Schuld und Rechtslage zwecks Selbstvergewisserung als erwiesen annehmen, beschleunigen wir den moralisch-juristischen Prozess um den Preis einer ausführlichen und differenzierten gesellschaftlichen Debatte.

Blicken wir dem Staatstrojaner mitten ins Auge – so sehen wir uns selbst in ihm gespiegelt. Wir sehen uns als Bürger, die aufgegeben haben, sich für Politik zu interessieren. Nach dem 11. September 2001 wurde ein Sicherheitsstaat errichtet – und nur ein Bruchteil der Bevölkerung hat jemals ernsthaft in Frage gestellt, ob im Zuge dessen Bürgerrechte zu stark beschnitten worden sind. Geschweige denn gewagt, etwas dagegen zu unternehmen.

Unser Vertrauen in den Staat gleicht dem Vertrauen der Autofahrer auf der Autobahn – es wird schon kein Geisterfahrer kommen. Wir, und ich erlaube mir hier für die Mehrheit zu sprechen, können eigentlich nicht noch apolitischer werden: Der Autopilot ist eingeschaltet, Entscheidungen treffen andere.

Auf den zweiten Blick erkennen wir: Auch die technischen Zusammenhänge unseres modernen Lebens interessieren uns nicht. Wir wollen gar nicht wirklich hinter die Benutzeroberflächen schauen und wissen, wie die Programme funktionieren, wie sie gebaut sind, was sie bewirken und was für Interessen dahinter stecken. Auch der Technik vertrauen wir blind. Oder eben nicht: die nackte, irrationale Angst vor Technik ist das komplementäre Gegenstück – ebenso weit verbreitet, ebenso kopflos.

Bestätigt uns der Staatstrojaner-Skandal in unseren schlechten Angewohnheiten? Zementiert er unsere politische und technologische Ignoranz? Oder “geht ein Ruck durch Deutschland”?

Der Staatstrojaner “überwacht das Denken selbst” (Schirrmacher). Mit dieser Vorstellung entsteht ein Monster, das uns kaum näher stehen könnte. Es ist Teil von uns, es ist in uns drin – im operativen Nervenzentrum des Individuums. Wollen wir mit diesem Gedanken leben lernen? Also auch mit der Aussicht, dass früher oder später eine andere gesellschaftliche Instanz diese Schreckensvision realisiert (wenn nicht der Staat, dann ein Konzern)? Oder wollen wir diesen politischen Skandal zum Anlass nehmen, um die Apathie der letzten Dekade zu überwinden?

Wollen wir für unsere Rechte als Bürger kämpfen lernen? Und wollen wir auch versuchen, die technologische Dimension dieses Kampfs zu begreifen?

Die digitale Revolution ist in der Mitte Deutschlands angekommen – und plötzlich stehen wir mit dem Rücken zur Wand. Es ist eine unbequeme Situation. Umso größere Bedeutung sollten wir diesem Augenblick beimessen. Denn: Bürger (hier die Hacker vom CCC) haben einen Stein ins Rollen gebracht. Er sollte nicht aufhören zu rollen. Dabei entscheidend ist, um mit den Worten des Autors Dietmar Dath zu sprechen: “Ob die Schwarmintelligenz [die auch in diesem Fall so entscheidend zum Tragen kommen kann] ein Fortschritt gegenüber der Konkurrenzraserei der alten Leistungsgesellschaft ist, hängt davon ab, wer ihre Früchte erntet.” Es sollten möglichst alle in dieser Gesellschaft sein.

Anm.d.Red.: Die Grafik oben stammt von banksy. Das Video stammt von Alexander Svensson.

18 Kommentare zu “Staatstrojaner: Politisiert der Skandal die Gesellschaft? Oder zementiert er unsere Ignoranz?

  1. Das läuft – nach gestern gemachten Erfahrungen – zweigleisig. Einerseits (vor allem in Netz) mit viel politischer Empörung, andererseits kriegen “die da draußen” gar nicht richtig mit, worum es geht. Denke noch daran rum und schreibe wohl nachher was darüber.

    Hab mir gerade erst mal konzentriert das hier angehört: http://alternativlos.cdn.as250.net/alternativlos-19.ogg

  2. Sehr gute Zusammenfassung der letzten Tage. Was ich auch zurzeit sehr interessant finde, wie eine Verfassungsrechtliche Ausnahmezustand meist mit einem vereitelten Terrorakt in Verbindung steht. Beispielsweise gestern als die Bomben am Hauptbahnhof entdeckt wurden.

    Am 31. Juli 2006 zündeten die Kofferbomben in Zügen bei Köln nicht. Im Juli 2006 wollte die große Koalition aber auch die Anti-Terror-Gesetze verschärfen: http://www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518,425437,00.html

    September 2007 wurden angebliche Terroristen im Sauerland festgenommen – am 9. November 2007 beschließen die Abgeordneten des Deutschen Bundestag ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung.

    Das sollen hier keine Verschwörungstheorien sein, sondern nur zeitliche Abläufe. :)

  3. Hallo, ich bin neu auf eurer Seite und finde gut, dass hier diskutiert wird. In dem Text von Krystian wird mir zu oft von “Wir” und “uns” gesprochen, die Gesellschaft ist doch viel zu fragmentiert um da diese Gesamttendenz auszumachen, oder?

  4. @#3: Ja, die Gesellschaft ist fragmentiert. Aber wie bei Finanzkrise und dem Symbol der 99% (“we are the 99%”) so gibt es auch hier eine Mehrheit, die in sich sehr heterogen ist, aber eben eines gemeinsam hat: politische und technogische Ignoranz.

    Beim Lesen stellt sich u.a. die Frage, wer ist dieses WIR? wer gehört dazu? ich denke, jeder Leser muss sich das auch selbst fragen. Zumindest hoffe ich das.

  5. Ich bin auch skeptisch, was den Nachhall dieser Enthüllung angeht. Ironisch fand ich es, als ich heute in der SZ sah, wie Hans Leyendecker Annette Brückner umfassend zitierte ( http://www.sueddeutsche.de/digital/staatliches-spaehprogramm-wie-inkompetente-behoerden-das-trojaner-desaster-beguenstigen-1.1158720 ), die selbst den größten Software-Skandal, den der BND jemals hatte, per Rechtstreit aufgedeckt hat. Leyendecker selbst hat jedoch nie (sehr wohl bewusst, wie ich auf Nachfrage von ihm hörte) über ihren Fall berichtet. Ich habe damals hier ( http://www.heise.de/ct/artikel/Die-Bayern-Belgien-Connection-284812.html ) und im Focus berichtet – aber niemand der großen investigativen Journalisten dieses Landes hat den Fall aufgegriffen. Da gab es wohl zu viele Empfindlichkeiten. Leyendeckers Ziehsohn Georg Mascolo war damals an einer, sagen wir mal irreführenden Meldung des Spiegel über Brückners Fall beteiligt (wie ich auch von ihm persönlich bestätigt bekam – damals war die Meldung nicht namentlich gekennzeichent), welche die Rolle des BND mehr als beschönigte – nämlich Brückner die Schuld zuwies. Die Strafsache hat der BND damals verloren, um sich dann über das Bundeskanzleramt in einen jahrelangen zivilrechtlichen Rechtstreit mit Brückner einzulassen, über den meines Wissens nach nie jemand berichtet hat, weil die Lage so komplex und unerfreulich war. Damals, also 2000, 2001, wurde schon klar, wie hemdsärmlig die Behörden agieren.

    Meine These: Hätte man damals härtere Kontrollen und mehr Transparenz zugelassen, hätte man sich auch nicht getraut, diese Art von Trojaner einzusetzen. So lange es hier keine regulatorischen Eingriffe in Richtung unabhängige (!) Evaluierung und Zertifizierung gibt, glaube ich nicht, dass sich daran etwas ändern wird.

  6. Dies ist mal wieder ein typischer Artikel aus der Meinungsblase der Netz-Community.

    Was ihr einfach nicht verstehen wollt: Es gibt tatsächlich sehr viele Themen, die für viele Menschen genauso wichtig oder sogar wichtiger Sind als der Trojaner, wichtiger sind als das Leistungsschutzrecht, wichtiger sind als irgendetwas anderes, das im Netz vor sich geht. Und es ist völlig legitim, dass diese Menschen andere Prioritäten haben als Ihr Euch das wünscht.

    Gleiches gilt für die Medien. Wenn in Japan ein AKW hochgeht, verschwindet das Thema auch nach zwei, drei Wochen auf den hinteren Seiten der Zeitung. So wird es auch dem Trojaner gehen, wenn Eurokrise, arabischer Frühling, die Wahl in den USA und andere Themen eben auch beachtet werden wollen. So what.

    Was meinst Du, wie es etwa einer Organisation gegen Kinderarmut geht. Die findet wahrscheinlich auch, dass Ihr Thema das wichtigste der Welt ist. Schreiben die deshalb auch jeden Tag 5000 Artikel auf Blogs und bei g+, wie dumm die Öffentlichkeit ist und wie falsch die Prioritäten der Medien? Hab ich noch nicht gesehen.

    Also, es ist wichtig, dass der Fall jetzt aufgeklärt und in Zukunft ähnlichs vermieden wird, aber bleiben wir doch mal auf dem Teppich.

  7. Ich meine, dass der “Trojaner” ein Klacks ist gegen das, was globale Auswirkungen haben wird.

  8. @christa #10: globale auswirkungen haben die standards, die wir in der BRD setzen: verfassung, digitale politik, etc. ob russland oder südafrika — die welt schaut auf gesellschaften, die im digitalen bereich weit vorne sind und orientieren sich daran.

    natürlich bieten wir damit auch diktaorischen regimen und den transformationsländern wie ägypten das beste beispiel für eine konter-demokratische politik.

  9. @Gast: “Dies ist mal wieder ein typischer Artikel aus der Meinungsblase der Netz-Community.”

    komisch, diese Einschätzung, der Artikel zitiert / verweist überwiegend auf Quellen und Meinungen aus der FAZ: Schirrmacher, Dath —

    alles andere als ein Organ der “Netz-Community”… oder?

    PS: aufgedeckt und ausgestettat mit Hintergrunberichten hatte den Fall die ZEIT, nicht die Blogger… also das scheint hier um Meinungen zu gehen, die den Tellerrand der geschlossenen (?) “Netz-Community” überschreiten…

  10. Hammer. Die modernen Stasi 2.0 Zentralen sind also (bis auf Brandenburg) alle in den Westen migriert. Ich dachte, man hätte aus der Vergangenheit gelernt. Manche lernen es halt nie.

  11. Wir sind auf den besten weg, die ddr wieder zum leben zu rwecken. Menschen werden eingesperrt die diese Politik nicht gut findet ! Körperschaften werden durch immer mehr Untersuchungen erhoben . Tatenlos dur

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