Spielball der Weltgemeinschaft

>AS17-148-22727< sollte als ein globales Medienereignis begriffen werden. Immerhin steht diese Buchstaben- und Ziffernfolge fuer ein visuelles Signal, das Menschen auf dem gesamten Planeten erreicht hat und noch immer erreicht. Seine aussergewoehnliche Kraft hat der Menschheit ein Schluesselerlebnis von schier unermesslicher Tragweite beschert: die Erdbevoelkerung der 1970er Jahre bekam ihre Zusammengehoerigkeit buchstaeblich vor Augen gefuehrt. Gleichzeitig transportiert das Signal ein ganz bestimmtes Verstaendnis von [geteilter] Welt und [weltumspannender] Gemeinschaft: Es kodiert die Vorstellung von der Weltgemeinschaft als einen grossen Zusammenhang. Einheitlich und ganz.

Ohne einen griffigen Namen haette es >AS17-148-22727< niemals soweit gebracht. Nur weil die offizielle Bezeichnung schnell durch das zum Traeumen anregende Kennwort >Blue Marble< ersetzt wurde, konnte das visuelle Signal einen hohen Wiedererkennungswert erlangen. >Blue Marble< war schnell in aller Munde, sorgte fuer Schlagzeilen und inspirierte Menschen. Bands nannten sich so, aber auch Fernsehsendungen, Eiscreme-Laeden und aktivistische Vereinigungen. Produkte, so unterschiedlich wie Badekappen und Oel, uebernahmen den Namen. Die Strahlkraft wirkt bis heute nach. Am 7. Dezember 1972 um 10:39 UTC mit einer 70-Millimeter-Hasselblad-Kamera und einem 80-Millimeter-Objektiv aufgenommen, zeigt >AS17-148-22727< beziehungsweise >Blue Marble< einen voll erleuchteten Erdball. Es war zu diesem Zeitpunkt die erste Aufnahme dieser Art. Die Besatzungen diverser Appollo-Missionen hatten im Weltall bereits zahlreiche Aufnahmen von ihrem Heimatplaneten gemacht. Aber niemals war der Erdball vollstaendig zu sehen. Niemals in seiner Gaenze sichtbar. Niemals zuvor hatte er so ueberwaeltigend schoen geleuchtet und zugleich so zart und zerbrechlich ausgesehen. Unzaehlige Menschen, in unzaehligen unterschiedlichen Situationen kamen scheinbar unerwartet in den Genuss dieses einmaligen Blicks von Aussen. Deshalb lassen sich Reflexe und Reaktionen darauf kaum ueber einen Kamm scheren. Dennoch ist vor allem eine Version ueberliefert: Ploetzlich verstanden alle, dass ihr Wohnort der Planet Erde war, dass ihr primaeres sozial-geografisches Bezugssystem nicht die Nachbarschaft, nicht die Stadt, nicht das Land und auch nicht der Kontinent, sondern der Planet Erde war. Ploetzlich konnten alle klar sehen. So, als koennte man jetzt alles besser erkennen, als zeichneten sich nun die unterschiedlichen Entwicklungslinien der Zivilisation besser, deutlicher ab, als koennte man auf einmal nicht nur Vergangenheit und Gegenwart, sondern auch Zukunft besser ins Auge fassen. Das >Blue Marble<-Motiv ist voller Suggestivkraft und instrumentalisierbar fuer alle erdenklichen Zwecke. Am erfolgreichsten konnte sich die Umweltbewegung das ikonische Potenzial aneignen. Die Schutzreflexe, die das Motiv nicht zuletzt auszuloesen vermag, wurden zum tragenden Moment von Initiativen, die bis heute gegen besinnungslosen Verbrauch und Konsum protestieren, beispielsweise am Earth Day, der alljaehrlich in inzwischen ueber 175 Laendern stattfindet. An diesem weltlichen Feiertag hissen unzaehlige Menschen die Erdflagge. Auf dieser inoffziellen Flagge ist das Schwarz des Weltalls gegen einen blauen Hintergrund ausgetauscht worden – das >Blue Marble<-Motiv, jetzt reduziert auf die namensgebende Kugel, prangt in der Mitte. So einfach wie diese kreisrunde Flaeche extrahierbar ist, so einfach laesst sie sich uebertragen. Auf Platten-, Magazin- und Buchcover, auf Fahnen und Briefkoepfe, Briefmarken und Postkarten, Anzeigen und Produkt-Etiketten, auf Google-Earth-Armaturen und Knopfoberflaechen. Im Zuge dessen entwickelt das Ikon ein Eigenleben, wandert in politisch, symbolisch und aesthetisch disparate Kontexte. Es kann Allmachtsfantasien innerhalb von Politik und Wirtschaft illustrieren, aber auch Internationalitaet in Bereichen wie Fussball. Immer wieder steht es fuer das Grosse und Ganze, fuer alle und alles. Und damit auch fuer alles moegliche. Anders als der Name >Blue Marble<, der auf all seinen Abwegen immer auf das Primaerereignis zurueck zu verweisen scheint, um all seinen Nutzern etwas von der Energie des historischen Ereignisses und seiner epomachenden Perspektive zu uebertragen. Das Ikon loest sich von dem Primaerereignis, wird ahistorisch, ist beliebig einsetzbar und erscheint immer dann brauchbar, wenn das Referenzsystem der Kugel gefragt ist: eine magische Aura von Einheit, Ganzheit und Globalitaet und die ihr innewohnende Vorstellung von zentralisierter Macht. Auf den ersten Blick hat dies in den wenigsten Faellen etwas mit Weltgemeinschaft zu tun. Speziell dann nicht, wenn Wirtschaftsunternehmen die >Blue Marble<-Ikone einsetzen, um fuer die weltumspannende Potenz ihrer Produktloesungen zu werben. Ich behaupte jedoch, dass man diesen ersten Eindruck ueberpruefen muss. Zum einen, weil ich glaube, dass den Variationen der Ikone ein mehr oder weniger tief vergrabenes Erbgut eingeschrieben ist, dass man versuchen sollte freizulegen. Zum anderen, und das scheint mir weitaus wichtiger, weil ich davon ausgehe, dass das besagte Referenzsystem der Kugel [Einheit, Ganzheit und Globalitaet] ad absurdum gefuehrt wird, sobald sie als Ikon zu zirkulieren beginnt und sich nicht mehr auf einen Sinngeber und auf einen Sinnzusammenhang reduzieren laesst, sondern quasi zum globalen Gemeingut wird, das alle, ihren Beduerfnissen und Interessen entsprechend, einsetzen koennen. Die >Blue Marble<-Ikone verkoerpert nicht den Sinn der Weltgemeinschaft - zumindest nicht jenen Sinn, auf den sich alle einigen koennen. In ihrer Eigenschaft als Sinn der Weltgemeinschaft ist die >Blue Marble<-Ikone vielmehr eine gemeinsame Grenze, etwas, dass alle beruehren, wie einen Spielball, der potenziell unter allen Menschen dieses Planeten zirkuliert und im Zuge dessen all ihre Spannungen und Differenzen zum Ausdruck bringt. Etwas, dass fuer Pluralitaet steht und Globalitaet. Jedoch nicht fuer Einheit, Ganzheit und Globalitaet.

3 Kommentare zu “Spielball der Weltgemeinschaft

  1. Interessant, wusste ich so en detail gar nicht, wahrscheinlich weil selbst ich noch zu dem Zeitpunkt in den Windeln lag und meine Eltern keine Hippies waren. Schöne Sache das…habe ich noch nie explizit drüber nachgedacht…

  2. ich denke es ist wie mit allen globalen Medienereignissen: zeit und ort spielen bei der wahrnehmung keine wirklich wichtige rolle. egal ob man “damals” an ort und stelle war, man bekommt die sache mit, wird infiziert, kann es auch noch 30 jahre später nacherleben.

  3. Da hast du Recht. Wunderte mich nur über mich selbst, da mir gerade solche Dinge meist nicht entgehen, lag wahrscheinlich zu sehr auf der Hand, trotzdem noch einmal Danke dafür!

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