Spesen-Raver der Musikindustrie

Ich weiß nicht, was mich davon abhielt, seinen fleischigen Nacken zu packen und ihn infernalisch anzubrüllen. Vielleicht einige tausend Jahre zivilisatorischer Ballast? Genauso gut hätte ich seine pferdige Kollegin an den Schultern packen und durchschütteln, oder den verklemmten Dritten im Bunde, gegen die Bustüre drücken können. Verdient hätten sie es. Seit vier Bushaltestellen enervierten sie mein feines Gehör und soziales Empfinden.

Während der vollbesetzte Bus am trostlosen Straßenstrich der rumänischen Huren vorbeirollte, gefiel es ihnen, sich lautstark über Einschränkungen ihres Firmen-Reisebudgets zu echauffieren. Der Arbeitgeber hatte wohl die ganz neue Direktive ausgegeben, Reisen in der Businessclass nur noch bei Interkontinentalflügen zu gestatten.

Das löste nun reflexartig eine ekelhafte Flut von luxuriösen Dienstreiseanekdoten aus. Dargeboten vor Omas mit Rollator und migrantinischen Maghrebinerinnen mit ihren Discountereinkaufstüten. Ein zutiefst durchschnittliches Trio, im mittelmäßigen Management eines mittleren Unternehmens.

Absurde Linienflüge

Berliner Häuserghettos zogen hinter ihren Sprechblasen-Köpfen vorbei und ich übte mich in beruhigenden Atemtechniken, um nicht für die nächste Skandalschlagzeile zu sorgen. Ich erinnerte mich an meine eigene Zeit in der bösen Musikindustrie, als gut bezahlter Spesen-Raver. Schon stieg in mir eine warme, väterliche Milde empor, ließ meine in der Tasche geballten Fäuste entspannen und das Adrenalin sachte abfließen.

Als eine Art priviligierter Talentscout, war es dereinst meine Aufgabe, in Sachen elektronischer Tanzmusik durch die Welt zu reisen und geriet in Windeseile in eine Spirale der Geldverschwendung. Während meiner dreitägigen Arbeitswoche in Hamburg, lebte ich auf Firmenkosten im geräumigen Apartment eines großen Hotels. Nach dem späten Frühstücksbuffet ging es stets mit dem Taxi ins Büro. Ich sammelte Flugmeilen wie andere Leberkarzinome und wurde von der lokalen Filiale meines Autovermieters als inoffizieller Testpilot sämtlicher neuer Großkarossen enthusiastisch per Handschlag begrüßt.

Wie selbstverständlich kam ich im Laufe der Jahre in den Genuss der ökologisch zweifelhaftesten Flugverbindungen. Wie viele Menschen können schon von sich behaupten, von Köln nach Frankfurt oder, als absoluter Höhepunkt des Irrsinns, von Münster nach Dortmund in einem Linienjet geflogen zu sein?! Resultat von Flugverschiebungen und sinnloser Businessclass-Vorzugsbehandlung auf mittäglichem Champagner in 10.000 Meter Höhe.

Spesen ohne Beleg

Trotz des mir eigenen ironischen Abstands kam es unweigerlich zu Realitätsverschiebungen im Leben eines jungen Kerls. Ich wurde auf ausdrücklichen Wunsch des Chefs kurzfristig eingeflogen, nur um eine gute Zigarre mit ihm zu rauchen. Das Taxi benutzte ich häufiger als meine eigenen Füße und lernte die unterschiedlichen Barolo-Qualitäten und Thunfischcarpacciopreise in ganz Europa kennen.

Ich bespaßte unter Vertrag stehende Künstler, machte regelmäßige Tabledancebar-Besuche auf Firmenrechnung und geleitete amerikanische Star-DJs in vier Bordelle an einem Abend – ergänzend sei noch angedeutet, dass bis vor wenigen Jahren auch Drogenkäufe für Künstler steuerlich absatzwürdig waren. Im Zweifel als Quittung über „technische Hilfe“ oder ominöse „Spesen ohne Beleg“.

Arschbomben in Saunaclubpools

Zu meiner Ehrenrettung muss aber gnädigst vermerkt werden, im Branchenvergleich eher zu den gottesfürchtigen Chorknaben gehört zu haben. Andernorts verbrannten Kollegen monatlich den hundertfachen Hartz-IV-Regelsatz. Oder gaben sich dem wohlfeilen Bad der Korruption hin und besiegelten Verträge stets mit Arschbomben in Saunaclubpools.

In jedem Fall haben mir meine sündigen Jahre in der Musikindustrie, die leichte Verführbarkeit des Menschen zu billigster Dekadenz anschaulich vor Augen geführt. Eines Tages wurde mir im Fond eines Taxis auf dem Jetlag gepeinigten Heimweg aus Miami schlagartig klar, welch groteskem Telefonat einer verwöhnten Medienrotznase mein Fahrer gerade hatte lauschen müssen.

Diese Lektion erhoffte ich auch für die drei Busprahlhänse, die vor meinen immer noch satisfaktionsbereiten Fäusten zügellos weiterschwatzten. Als ich schließlich milde lächelnd aus dem Bus stieg und sie mit ihrem unsensiblen Geschnatter zurückließ, betrachtete ich schon auch ein wenig stolz mein BVG-Ticket zu 2,10 Euro. Was aber nicht bedeutet, dass ich nicht wieder für ein wenig dekadente Verschwendungsperversion bereit wäre. Bald, irgendwann…

28 Kommentare zu “Spesen-Raver der Musikindustrie

  1. Hallo! Ich finde: hier sieht man, warum die Musikindustri pleite ist: nicht wegen PirateBay sondern wegen Verschwendung, Wollust und Völlerei. Gut, dass du es da rausgeschafft hast Joerg Offer!

  2. mir ist der Schluss nicht ganz einsichtig: also Verschwendung selbst erlebt zu haben, dann bei anderen abgrundtief anstößig finden kann doch nicht dazu führen, dass man sagt, gerne mal wieder, oder habe ich die Moral der Geschichte nicht verstanden?

  3. Moral? Wo? Wer hat sie? Was kostet die? Muss ich bar bezahlen oder gehts auch auf Rechnung? Der Mensch, ein gar seltsam Geschöpf, nicht wahr?

  4. Mir ist das auch nicht ganz einleuchtend. Wie können Sie andere zusammenschlagen wollen, die sich obszön benehmen, also dieses Gefühl von Ungerechtigkeit und Falschheit so stark spüren, dass es fast mit Ihnen durchgeht und gleichzeitig das falsche Leben noch einmal in Betracht ziehen, nachdem Sie doch bereits daraus am eigene Leig lernen konnten?

  5. schön geschrieben! liest sich wie eine Gratwanderung zwischen Ekel und Ekstase.

  6. Ich glaube da hat jemand während einer Busfahrt die ganze Spannbreite menschlicher Gefühle erlebt und gut wieder gegeben. Hätte er am Ende Ernsthaft den moralischen Zeigefinger erheben sollen? Wohl kaum!

  7. sympathischer als die anderen nestbeschmutzer der medienbranche. ich spüre selbstironie.

  8. Falsches leben? Richtiges Leben? Wer weiss das schon? Ich gab nur ein Beispiel aus dem prallen Leben, mein Beitrag zum Monatsthema Dekadenz. Welche lehren und Schlüsse sollte man daraus ziehen? Ich bin kein Vertreter protestantischer Verzichtsethik und froh um jeden Nonsens, den ich zu Lebzeiten mitmachen darf und durfte. Wichtig ist nur andere menschen dabei weitestgehend zu schonen. Und sei es nur verbal-akustisch…das “Moralinsauer” lasse ich mal im Giftschrank des Neides.

  9. Wo muß man sich bewerben in der Musikindustrie? Oder sind keine Dekadenzplanstellen mehr frei?

  10. Nein, einen Roman wirds von mir dazu nicht geben. Zum einen schwirren doch grade zwei Bücher dieses Genres durch die Welt, “Kill your friends” und “Der Unsympath” und ich lege nur ungern nach. Zum anderen fand ich es interessant genug für ne Kolumne, aber nicht um 300 Seiten damit zu füllen, obwohl ich das vom authentisch erlebten Material her sicher liefern könnte…aber sei’s drum.

  11. Du steigst in den Bus, erlebst/beobachtest etwas Bemerkenswertes, das Dich wiederum an andere bemerkenswerte Ereignisse aus Deinem Leben erinnert — nach diesem Prinzip könnte man einen ganzen Sack voller Geschichten stricken; v.a. dann besonders würzig, wenn der Nachtbus als Erlebnisareal dazu kommt!

  12. Nicht drängen den armen Mann! Obwohl ichs mir gut vorstellen könnte, amüsant genug ist er ja durchaus.

  13. @Krystian: Dafür muss man erst einmal einen Verlag finden! Manch einer fährt augenscheinlich nicht so gerne Nachtbus…hehe…

  14. Titelvorschlag: Nachtbus zum Schaffott! – empfehle den Verlag Suhrkamp (rainald goetz), kiwi (joachim lottmann, chr. kracht), Rogner und Bernard (Jörg Fauser) – da würde ich mal vorstellig werden – und ohne 100000 Euro vorschuss blos nicht anfangen zu produzieren!!!

  15. Mit einem guten, klaren Konzept findet eine gute Schreibe und Beobachtungsgabe auch einen Verlag. Ein großer Unterschied: ein Buch, das Busgeschichten in Aussicht stellt und eines, das tatsächlich Busgeschichten liefert. Geschichten, die bereits fertig sind, könnten mit ein wenig Fantasie in den Busrahmen eingeschrieben werden, es sind Geschichten, Erzählungen, der Bus ist ein Rahmen, ein origineller, schöner Rahmen, der so noch nicht ausgeschlachtet worden ist. Lass uns mal bei einem Bier darüber reden.

  16. Ein weiteres Buch aus Reihen der Gazette? Geschrieben von einem Spesenraver? Mal sehen was daraus wird. Ein Gegenentwurf zu “Vernetzt”?

  17. Lieber Jörg,

    etwas verspätet, aber umso wehmütiger habe ich deine schönen Worte über die glorreichen Zeiten gelesen, als uns das Leben noch das gab, was uns doch rechtmäßig zusteht. Und während ich mir beim Schreiben dieser Zeilen die Tränen der Erinnerung aus dem alternden Gesicht wische, frage ich mich, ob wir Las Vegas je wiedersehen werden.

    Dein Peter

  18. Für Fear & Loathing bin ich doch stets zu haben! Auch und gerade in Las Vegas…

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