Sich selbst hoeren

Schreiben Sie eigentlich Tagebuch? Sollten Sie diese Frage positiv beantworten und vertrauen sich regelmaessig leeren Seiten an, koennen Sie sich mitten in der Nachmoderne waehnen – trotz der Ausuebung einer Jahrhunderte alten Kulturtechnik. Der Wunsch nach einer >Linie des eigenen Lebens< [Max Dessoir] ist in fluessigen, polyphonen Zeiten aktueller denn je. Dabei geht es weniger um das Festhalten von Ereignissen, das Protokollieren, als um das Entdecken und Vernehmen einer eigenen Stimme.

Tagebuecher, wenn sie nicht als literarische Veroeffentlichung angelegt werden, sind in der Regel unabgeschlossen, fragmentarisch, unsystematisch und verankert im Jetzt. Sie dienen dazu, die Eindruecke des Tages zu kanalisieren, niederzulegen, ihnen eine erste Form zu geben, in Spuren festzuhalten was bewegte. Tagebuch-Schreiben ist ein Vehikel zu Ich-Bewusstsein, das Tagebuch ein Medium der Selbst-Positionierung und damit auch ein stiller Act-of-Identity. Wir schreiben, erzaehlen uns selbst und nutzen Sprache, hier die Schrift, uns narrativ in Ausschnitten zu konstruieren, zu rekonstruieren am Ende des Tages.

Tagebuecher sind keine Kunst, trotzdem bewundere ich ihre Schreiber – vor allem fuer ihre Disziplin, fuer die Regelmaessigkeit, mit der sie alltaeglich/abendlich einen Selbst-Kanal oeffnen. Meine eigenen Versuche wurden nie Routine und verstummten meist nach wenigen Tagen: Moechte mich in Sprache giessen Punkt weiss nicht wohin mit meiner Sehnsucht/ Wehmut/ Freude/ momentanes Tagesgefuehl Komma heute jetzt Absatz nur noch ein Wort Komma Schweigen… Zum Glueck ist diese Kolumne kein Tagebuch, sondern erscheint ab heute monatlich zur Schnittstelle von Sprache, Bewegung und Identitaet.

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