Sexismusdebatte: Die losen Grenzen der Frivolität

Als kürzlich der Artikel „Der Herrenwitz“ im Stern erschien, eröffnete er eine emotionale Debatte um Sexismus und seine Ausprägungen. Noch immer herrscht auf Twitter ein #Aufschrei, auf den Straßen wird anhaltend diskutiert. Berliner Gazette-Autor Tobias Lentzler kommentiert.

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Mit lüsternen Augen gafft ein Mann mittleren Alters die junge Kellnerin eines Eiscafés in der Göttinger Innenstadt an während diese routiniert die Bestellung des Herrn aufnimmt. Sie hat schon vor längerer Zeit erkennen müssen, dass sie mit frechen Sprüchen und Gafferei rechnen muss.

Solche Szenen sind in ganz Deutschland leider noch immer tägliche Realität. Männliche Augenpaare wandern von Dekolleté zu Dekolleté und von Hintern zu Hintern. Ab und zu greifen sie danach, manchmal reicht ihnen ein zotiger Spruch um sich anschließend genüsslich zurückzulehnen und sich wieder sich selbst zu widmen. Ob in der U-Bahn, im Café oder Restaurant, im Büro oder in den Fußgängerzonen; Sexismus und Frivolität kennen keine festen Grenzen. Ihnen zu entgehen ist praktisch unmöglich.

Seit Tagen wird in Deutschland nun der so genannte „Fall B.“ diskutiert. Eine Journalistin wirft dem Politiker Herrn B. vor, er habe sich ihr gegenüber unflätig verhalten und eindeutig aufgezeigte Grenzen übertreten. Ob sie es wollte oder nicht, in den Feuilletons und auf den Straßen, in den Friseursalons und am Stammtisch hat sie mit ihrem Artikel eine überfällige Debatte über Sexismus in Deutschland losgetreten.

Zwischen Sexismus und Unwissenheit

Schon längst geht es nicht mehr um einen „Fall B.“, sondern um die Frage wo die Trennlinien zwischen Sexismus und Spannerei, zwischen gewollter Provokation und blanker Unwissenheit liegen. Sich als Mann zum Thema Sexismus zu äußern scheint vielen sehr schwer zu fallen. Entweder nehmen die Herren eine radikale Verteidigungslinie ein und streiten ab, dass in Deutschland über Sexismus gesprochen werden müsse oder man billige Anmachen doch bitte als Kompliment auslegen sollte. Oder sie werden ausfällig.

So wie beispielsweise Ulf Poschardt in der „Welt“. Er wirft dem „Stern“ vor, in dem der Artikel über Herrn B. zu lesen war, es sei eine „Godard-Pointe“, dass gerade dieses Magazin, welches den „weiblichen Körper gern in seiner nacktesten Form zum Verkauf anbietet“ diese Debatte hatte beginnen müssen. Was haben die Titelseiten des „Stern“ mit einer inzwischen wesentlich breiter geführten Debatte über Sexismus zu tun?

Wo liegen die Grenzen des guten Geschmacks?

Es scheint hierzulande nicht möglich zu sein wichtige Themen ohne ein Fallbeispiel zu erörtern. Ob es um die Frauenquote oder einen gesetzlichen Mindestlohn geht, immer suchen Journalisten und Politiker nach Personen oder Fällen, die sich eignen das eigentliche Thema weiträumig zu umschiffen und stattdessen den Präzedenzfall zu diskutieren – bis bloß noch Bröckchen und polemische Äußerungen darüber übrig bleiben.

Die Debatte darüber, wo die Grenzen des guten Geschmacks und der Anfang des siechen Altherrenwitzes liegen, muss nun endlich einmal zu Ende geführt werden! Sich hinter einen „Stern“-Artikel zurückziehen und ihn bis in die letzte Pore zu analysieren (wie dies einige Journalisten im aktuellen Fall getan haben) oder die Journalistin beziehungsweise den Herrn B. zu beleidigen, kann nicht das eigentliche Ziel sein.

Es wird Zeit, dass Sexismus und seine Ausformungen auf Augenhöhe und ohne Anfeindungen zwischen Männern und Frauen diskutiert werden. Längst ist aus einem Einzelfall eine ausgewachsene Diskussion zum Thema Sexismus erwachsen. Unter dem Hashtag #aufschrei, melden hunderte Frauen täglich neue Beispiele für alltäglichen Sexismus und Herabwürdigungen durch Männer. Die Endlosschleife, die Politikjournalisten um Herrn B. drehen, führt zu nichts. Ob Herr B. nun aus seinen Ämtern enthoben wird und ein weiterer einflussreicher Politiker stolpert, löst das gesamtgesellschaftliche Problem nicht!

Anm.d.Red.: Die Illustrationen entstanden auf der Basis eines Portraits von Herr B..

5 Kommentare zu “Sexismusdebatte: Die losen Grenzen der Frivolität

  1. wow, danke für die klaren worte, dass in der brd gern präzedenzfälle abgerackert werden und nicht über die sache an sich diskutiert wird, ist eine sehr treffende und kluge beobachtung!

  2. das mit dem Anlass und Fallbeispiel hat unter anderem den Grund, dass im Journalismus immer nur etwas veröffentlicht wird, wenn ETWAS PASSIERT. Man braucht, auch wenn man allgemeinere Dinge besprechen oder zur Diskussion stellen will, einen AUFHÄNGER. Das ist natürlich lächerlich!

    Was du hier kritisierst, hat also AUCH etwas mit den Krankheiten des Journalismus zu tun.

  3. @#2: vielleicht ändert sich daran etwas in Zukunft… ist der Aufschrei im Falle des “Herr B.” vielleicht ein Signal in diese Richtung? wir können es so nud so interpretieren, aber wir dürfen nicht übersehen, dass twitter, nicht klassischer Journalismus der Verlagshausketten diese nationale Debatte ermöglicht. Das ZDF hat gerade ein Feature darüber gemacht:
    “140 Zeichen verändern die Politik” man kann vielleicht auch sagen: “140 Zeichen verändern die Öffentlichkeit”

    http://www.zdf.de/ZDFmediathek/hauptnavigation/startseite#/beitrag/video/1833836/140-Zeichen-ver%C3%A4ndern-die-Politik

    http://www.youtube.com/watch?v=Lr7C-ZYCU7g

  4. Guter Artikel! Ich empfehle diese TV-Reportage (auf Französisch) über eine Belgierin die ständig auf der Strasse von Männer belästigt wird und darüber einen Kurzfilm gedreht hat: http://www.dailymotion.com/video/xsi69g_sofie-peeters-femme-de-la-rue-bruxelles_news#.UQ-3tR1kfpc

    Und hier ein Artikel darüber, auf Deutsch diesmal: http://www.freitag.de/autoren/the-guardian/maenner-sind-schweine

    Nur als Hinweis, hier kann man auf Französisch lesen, wie sehr Frauen in Paris belästigt werden, viel mehr als in Berlin: http://generationberlin.mondoblog.org/2012/08/14/education-q-a-lallemande/

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