Arbeit und Zeit: “Schon wieder Sommer”

“Nun lauf doch nicht schon wieder so schnell. Du immer mit Deinem Berliner Schritt.” Unzaehlige Male hat Sebastian Sooth diesen Satz in Leipzig schon gehoert. Sein Alltag in der Projektberatung und -umsetzung besteht darin, viele Dinge gleichzeitig zu machen. Als selbststaendig taetiger Mensch schafft er sich seine Beschleunigungszwaenge leider selbst. Zehn Minuten auf etwas zu warten, dauert natuerlich laenger, als nur noch zehn Minuten zu haben, bis ein Projekt erledigt sein muss. Und so bewegt sich sein Leben zwischen den beiden Polen “Zeit hat man nicht, Zeit nimmt man sich” und “Koennt ich doch die Zeit vordrehen!”.

Deadlines, Termine, Fristen, Meilensteine – Zeiten, zu denen man Dinge fertig stellen will, soll, muss. Rueckblicke, Jubilaeen, Klassentreffen, Jahreswechsel, Geburtstage, Mietzahlungen, schon wieder Sommer, Jahre, die ploetzlich vorbei sind, wieder den letzten Zug fahren lassen, Endabrechnungen von Projekten, nicht mehr wissen, war das letztes Jahr oder im Jahr davor? All das sind Dinge, die mich ans Verfliessen der Zeit erinnern. Den Druck der Zeit spuere ich so taeglich, aber nur selten als negatives Gefuehl. Um mindestens einmal am Tag Zeit zum Nachdenken zu haben, kehrt ein Ritual taeglich wieder: mein Morgenkaffee und das Zeitungslesen. Im Alltag versuche ich, mit kleinen Schritten dem Zeitdruck zu trotzen. Im Skype einfach mal unsichtbar bleiben. Dinge doch nicht fuer morgen, sondern erst fuer naechste Woche zusagen. E-Mails nicht sofort beantworten. Und auf meinen haeufigen Zugfahrten auch zu lesen, statt nur am Rechner zu sitzen.

Die >Kulturstiftung des Bundes< will im Programm >Arbeit in Zukunft< die kuenstlerische und kulturelle Auseinandersetzung in die Debatte ueber Arbeit hineintragen. Im Projekt >100.000 EURO JOB< haben wir jungen Menschen die Gelegenheit gegeben, mit kuenstlerischen Mitteln zu zeigen, was sie ueber Arbeit heute, in der Vergangenheit und in der Zukunft denken und fuehlen. Im ersten Selbstfoerderfonds konnten alle Einreicher von Projektvorschlaegen die 100.000 Euro untereinander zuteilen – war ein Budget gefoerdert, bekam das Projekt sein Geld und konnte umgesetzt werden. Die Teilnehmer selbst haben also ausgewaehlt und abgestimmt, welche Ideen die insgesamt 100.000 Euro Foerdermittel erhielten. Wir hatten beim >100.000 EURO JOB< die Zeit, den einzelnen Teilnehmern Zeit zu geben. Wir waren in der luxurioesen Situation, mit einem guten Zeitpuffer Verschiebungen und Umwege auffangen zu koennen. Kreatives Arbeiten laesst sich eben nicht in geradlinige Zeitraster pressen. Auf www.100.000-EURO-JOB.de sind die fast 50 entstandenen Projekte zu sehen. Ganz unterschiedliche Filme, Theaterstuecke, Songs, Perfomance-Aktionen, Ausstellungen und Websites zeichnen ein breites Bild von Ideen zur Arbeit – zum Beispiel der Arbeitslosenstreichelzoo, die fiktive Klinik zur Arbeitsentwoehnung auf humanvital.de und die >Forschungsreise zu den Alternativen< als Film ueber Landkommunen. Bei der Beschaeftigung mit dem Thema Arbeit [in Zukunft] tauchen Zeitbegriffe natuerlich staendig auf. Das faengt beim Zeitnebeneinander normaler nine-to-five-Arbeitsverhaeltnisse und alternativer Lebens- und Arbeitsformen an. Und es hoert bei der Verwandlung von auf 40 Jahre vorhersehbarer Arbeitszeit in Patchwork-Arbeitsbiografien mit wechselnder, unvorhersehbarer kurz- und mittelfristiger Beschaeftigungsdauer nicht auf. Kuerzere Produktlebenszyklen fuehren zu erhoehtem Beschleunigungsdruck. Nur was neu ist, scheint etwas wert zu sein. Dass es in vielen Branchen unheimlich aufwaendig bis unmoeglich ist, Mitarbeiter nach tatsaechlicher Leistung oder aehnlichen Kriterien zu bezahlen, fuehrt zu der abstrusen Situation, Menschen mit einer Bezahlung von 40 Stunden pro Woche ihre Lebenszeit abzukaufen, damit sie sich ihr Leben neben der Arbeit leisten koennen. Hier sind seit Jahren verschiedene gegenlaeufige Bewegungen zu sehen: Auf der einen Seite gibt es Menschen, die immer mehr Zeit mit Arbeit verbringen, auf der anderen Seite immer mehr, die weniger arbeiten, dafuer aber viel Freizeit haben. Und dazwischen steht das letzte Aufbaeumen der alten Industriegesellschaft, die ihre erkaempften Arbeitszeitverkuerzungen rueckgaengig macht und 40- und mehr Stundenwochen einfuehrt. Interessant finde ich, dass sogar die Hilfe zum Umgang mit Zeit mittlerweile professionalisiert wurde. So gibt es Therapie-Angebote, in denen Menschen, die mit der multioptionalen Gesellschaft nicht von alleine zurecht kommen, taeglich von 8 bis 16 Uhr zum Lernen von Zeitstrukturen in festen Einheiten kreativ taetig werden. Wenn man den Arbeits- und Taetigkeitsbegriff weiter fasst, wird die alte Trennung in Frei-Zeit und Arbeits-Zeit hinderlich. Wir sollten unseren Umgang mit Zeit professionalisieren. So wuensche ich mir seit Jahren eine Zeitanhaltemaschine. Ist es doch oft so, dass man mehrere Dinge zur selben Zeit macht, sie aber auch alle gerne erledigt. Hier wuerde es helfen, die Zeit kurz anzuhalten, ein paar Dinge von der to-do-Liste abzuarbeiten und dann einfach wieder in den normalen Zeitfluss einzutauchen. Zeitkonten, Zeitdehnung. Uebergangsweise wuerde auch die Erfindung des Beamens helfen, einen der groessten Zeitfresser, das Reisen, zu eliminieren. Entschleunigung von der Gleichzeitigkeit: Auf der Konferenz re:publica [www.re-publica.de] war zu sehen, wie Leute zeitgleich zur Veranstaltung, die sie besuchten, die Reaktionen im Netz dazu lasen – die des Sitznachbarn nebenan, aber auch der Leuten, die sich gar nicht erst auf den Weg gemacht hatten. Eine einfache Loesung schrieb mir meine alte Kollegin Julia, die zurzeit in Istanbul lebt und arbeitet: >Zeit sparen bei Alltagsscheiss, kein blinder Aktionismus bei Zukunftsfragen.< So verwenden viele Menschen mehr Zeit fuer die Auswahl des naechsten Fernsehers oder MP3-Players als auf die Entscheidung, wie sie leben und arbeiten wollen. Sich Zeit nehmen fuer Dinge und fuer Menschen, die einem wichtig sind. Einfach mal an der Bushaltestelle stehen bleiben und den im Zehn-Minuten-Takt fahrenden Bus fahren lassen. So ist auch dieses Interview noch ein Punkt mehr auf der Liste der Dinge, die ich machen muss und machen moechte. Mal wieder drueber nachdenken, sehen, dass man nicht allein ist mit seinen Gedanken. Ich merke, dass es mir zurzeit sehr schwer faellt, mich wirklich 100%ig auf eine einzige Sache zu konzentrieren. Die Themen >Arbeit< und >Zeit< laufen ja normalerweise im Leben so mit. Es ruettelt sich so zusammen. Wenn man aber anfaengt, sich explizit mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, kann man schon schnell ins Stolpern kommen, weil man eigentlich automatisch und unbewusst ablaufende Prozesse hinterfragt und offen legt. Wie bei jeder Aufgabe mit einer Abgabefrist manifestiert sich die >draengender, knapper werdende Zeit<, je laenger die 14 Tage der Antwortzeit schon verstreichen. Und dann einen Zeit-Nachschlag abholen. Und zum Schluss doch wieder schon vor zwei Tagen fertig gewesen sein wollen. Was macht man eigentlich mit seiner Zeit? Auf der Suche nach der reinen Zeit, nach Orten, an denen die Zeit stillzustehen scheint, kommt doch immer wieder etwas dazwischen.

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