Scheitern als Chance: Was unter Chris Dercon aus der Volksbühne werden kann

Die Dercon-Intendanz an der Berliner Volksbühne hat offiziell angefangen. Der Streit um den Intendantenwechsel, die Neuausrichtung des Theaters und die Kulturpolitik der Hauptstadt hat sich jedoch nicht beruhigt. Was wird aus dem Theater unter dem neuen Chef? Der Software-Entwickler und Berliner Gazette-Autor André Rebentisch gibt die Hoffnung nicht auf: Auch Scheitern kann man mit Anmutung. Eine Polemik.

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„Pickelhauben? Wir haben sie alle!“ – So ginge mein Pitch für die weitreichenden Sammlungen im für mich schönsten Museum Europas. Fahrt in Brüssel vorbei, an den Zentralen der europäischen Macht, die Rue de Loi herunter in den Cinquantenaire Park. Dort ist seit 1923 das belgische Musée Royal de l’Armée.

Das Museum entstand 1910 nach dem Erfolg einer Militärschau zur Brüsseler Ausstellung. Wer das Fehlen von Museumsdidaktik, barrierefreiem Simple English und flackernden Flatscreens bereits als Wohltat der Entschleunigung erkannt hat, ist begeistert: Im Musée Royal de l’Armée kommt das alles zu seiner höchsten Vollendung und lässt uns atmen, als freie Menschen, zwischen all den Artefakten der Tötungsindustrie.

Einzigartig macht das belgische Armeemuseum in unseren Zeiten seine fehlende Eventisierung, seine fehlende Modernität in der Ausstellungskonzeption, seine durch und durch unzeitgemäße, „abwesende“ Gestaltung.

Armeemuseum und Volksbühne?

Ein Alptraum wäre, wenn ein hipper Museumskurator wie der Belgier Chris Dercon den Laden übernehmen würde, den alten Plunder rauswerfen („entsammeln“) und das Museum zeitgemäß gestalten, multimedial betanzen, zum Event machen, das in die Stadt und das Friedensprojekt Europa ausgreift. Um das belgische Armeemuseum ein für alle mal zu ruinieren, bedarf es aber überhaupt keines Kurators vom Range eines Chris Dercon.

Jeder halbwegs begabte Museumsgestalter Europas wird es mit Leichtigkeit hinkriegen. Nur der desolate Föderalismus des Königreichs Belgiens bewahrt das Armeemuseum vor dem Sprung nach vorn. Man besuche das Museum noch mal, wenn man in Brüssel ist, es könnte schon das letzte Mal sein.

Statt an die klaffende Eventlücke des belgischen Königlichen Militärmuseums hat Tim Renner als Kultursenator einen Chris Dercon nach Berlin geholt, an die Volksbühne, bekannt als eine ehrwürdige Bühne der Arbeiterbewegung oder als der geile Scheiß der 90er. In Wien diskutiert Chris Dercon im Kunstquartier und die Veranstalter teasern frech: „Sein Vorhaben für die Volksbühne bedeutet eine Umprogrammierung vom reinen Sprechtheater hin zu einer offeneren Form für performative Künste. Was bedeutet es, vermeintlich gegebene Strukturen aufzulösen?“

Weeste noch?

Das klingt und ist böse. Kein Wunder, dass die Volksbühne-Identitären leidenschaftlich über Notizbücher und Eventisierung zetern – und so tun, als wolle der Belgier mit den Machern von Shen Yun das Tanzstück Ännchen von Tharau inszenieren zum Sinnspruch „Dies macht das Leben zum himmlischen Reich. Durch Zanken wird es der Hölle gleich“ aus dem gleichnamigen Gedicht von Simon Dach. Oder mit Hallodri Räuberräder entführen lassen.

Dabei hat das moderne Regietheater selbst mit Freuden kaputt gemacht, was kaputt macht, Stoffe umgepflügt und ruiniert, Texte der Weltliteratur auf die Bühne uriniert, aber es hat in der Volksbühne vor der eigenen Kantine halt gemacht. Der genius loci spukte rum.

In der Ära Castorf war die Volksbühne eine moderne Bühne, die nicht mehr zwanghaft „modernistisch“ sein musste, sondern sich durch Charakter und bitterböse Kasperlichkeit abgrenzte vom Raubzug Ost, der gleich dem Schlager den dämlichsten fremdländelnden Akzent der Kosmopolität brachte und mit Graf Koks von der Grasanstalt, BnB, Schmoo und Schmoothies, den Berliner Arbeeter aus dem Szenekiez gentrifitzte – weeste noch?

Künftig international, Oh-My-F-STAR-STAR-STAR-GOD

Vieles vom Komplex Volksbühne ist nicht mehr ganz neu, fast schal geworden, weil es überall an Theatern repliziert wurde. Wenn Du von Berlin nach Bayreuth zum Ring anreist, hat Dir eine Castorfsche Inszenierung im Festspielhaus gerade noch gefehlt. Ein echter Seelenbruder Bakunins würde wohl die Flügelhelme aus dem Grab drehen, und für den Besucher die gleiche großartig abstruse Wirkung erzeugen wie die Pickelhaubensammlung des Militärmuseums.

Solange das Theater das kritische Sprechen nicht verlernt, dahin geht, wo „man“ nicht hingehen kann, bleibt es sich treu. Indem es nicht der Wichtigkeit und der Bedeutung von Anfang an hinterhersklavt, entsteht das Wunderbare.

„Theater, bei dem sich Schauspieler unter der Anleitung eines Regisseurs mit literarischen Texten beschäftigen, wird es künftig an der Volksbühne nur noch in Ausnahmefällen geben“, warnt Matthias Heine in der WELT. Polemisch stelle man sich einen neuen Bundestrainer vor, dessen Fußballmannschaft zukünftig schuhplatteln und den Rasen mähen soll, statt den Ball ins Eckige zu kicken.

Chris Dercon derweil: „Volksbühne bleibt Berlin. Aber sie wird international, weil Berlin international ist.“ Oh really? International. Wow! You know? And I was like Oh-My-F-STAR-STAR-STAR-GOD! „Volksbühne Tanzen verboten!“, seriously, and she was like: Abso-lutely! Herzzentrum, Tempelhof, just awesome. Aber wozu die Häme gegen eine neu besetzte Arbeiterbühne (jetzt mit englischer Webpräsenz), nur weil blöde Ressentiments gegen die Hipstertouris vor der Haustür mir die Internationalität vergällen?

Gerne funky anziehen!

Der Volksbühne Tempelhof, dem „performativen Theater“, möchte man zu gerne eine Chance geben, das eingeworbene internationale Programm studieren und die Facebook-Seite. Dort heißt es: „Tatsächlich, für den „Giant Soul Train“ am 10.09. darf man sich gerne funky anziehen! Denn die Soul Train Line ist eine kulturelle Praxis, die dem Funk entspringt.“ – Denn non sequitur.

„Nach diesem Social Dance wurde in den 1970ern auch eine beliebte US-amerikanische Fernsehsendung benannt, die als erste vorwiegend von Schwarzen Menschen produziert und geschaut wurde… Jede*r Teilnehmer*in hat einen eigenen Moment, die persönlichen Stärken können gefeiert werden, denn nur eine Formation ist festgelegt, nicht aber die einzelnen Tänze.“

So vermeintlich Individuelles feiernd inszenierte die US-amerikanische Fernsehsendung Soul Train von 1970 bis zu ihrer Einstellung 2006 ihre Tänzer. Die mussten, wie der Berliner Techno-Viking auf Youtube, zu jeder Mucke abtanzen, welche die Musikindustrie an die Rampe schickte.

Gewiss, mag man ergänzen, gab es Fernsehen von und für „Schwarze Menschen“ bereits vor der Sendung, erst recht außerhalb der USA, und erfolgreiche Musik von Afroamerikanern ohnehin. In dem Essay The White Negro: Superficial Reflections on the Hipster hatte Norman Mailer bereits 1957 eine über-identifizierende Faszination einer jungen, weißen, urbanen Mittelstandshipsteria für das angeblich Schwarze karikiert.

Ethnodiverser Hedonismus

Im Tempelhof spielt Chris Dercon für Berliner Verhältnisse wundersam konventionell und unironisch einen ethnodiversen Hedonismus auf. Er setzt auf eine Wichtigkeit, die nichts mehr mit Gehalt sondern mit retromoderner Westlichkeit zu tun hat. Absichtslos gruselt er ein sprachbewusstes Volksbühnenpublikum mit Kalendersprüchen. „In jedem Drama steckt ein Splitter Hoffnung, ein Keim zur Veränderung. Geprägt hat mich die Lektüre von Brecht bis Sarah Kane“, lässt er Mohammad Al Attar für sich werben.

Ob syrischer Dramatiker mit Antikenprojekt („Auch für Iphigenie verbinden sie wieder biografische Erfahrungen mit Themen aus einem antiken Drama.“) oder Soul train line oder danse de nuit („Come rain, wind, or snow, the dance goes on.“) oder „ein Theater, in dem … jeder kommen und gehen könne, wann er will“: Die Ethnodiversität der Macher reicht als Marker der Interkulturalität, der zeitgeiselnde Markterfolg ist das Ziel.

Im Artikel How not to interview a black artist von Candice Nembhard wird dem belgischen Kurator gar nicht freundlich um die Ohren geklatscht wie schnell es in oberflächlichen und ignoranten Philorassismus umschlägt:

„Als Entgegnung auf Marshalls Position, dass eine Unterfinanzierung bei schwarz orientierten Kunsträumen sich auf die Fähigkeit auswirkt, zeitgenössische schwarze Künstler zu erschaffen und zu besprechen, wies Dercon mit Nachdruck auf die Möglichkeit hin erfolgreich Kapital und Interesse zu erzeugen, und zitierte Beyoncé und Kanye West als Beispiele.“

„The token black folk take the stage once more“, ätzt Nembhard in dem Text. „…und ihr könnt mittanzen!“ Da möchte man sich leis wünschen, der Belgier Chris Dercon hätte die Intendanz des Armeemuseums erhalten, was nie zur Debatte stand, und nicht die Macht, an der Volksbühne, die ihm „schon immer ein Begriff gewesen“ ist, die „Sprache grundsätzlich neu denken“ zu lassen.

Kein radikaler Neustart

Denn dort in Brüssel braucht man jemanden, der sagt und meint; „Keinen radikalen Neustart. Wir sind auf Kontinuität aus“. In dem Museum ist die Leerstelle einer schwarzen Perspektive auf die belgische Militärgeschichte seltsam auffällig, im Anbetracht der unbeschreiblichen Kolonialgräuel des belgischen Königs und der mit afrikanischen Blut gewässerten flämischen Schlachtfelder, aber gerade deshalb möge sie nicht platt verfüllt verschwinden.

Wer die Chance des Scheiterns ergreift, hat das Potenzial großen Mist oder größere Kunst zu schaffen. Auch ein enthaupteter Hahn kann auf den großen Mist laufen und so tun, als könnte er krähen. Dem Seeräuber Klaus Störtebeker wurde das Kunststück zugeschrieben, kopflos die Front der Vitalienbrüder abgeschritten zu haben, und damit den seinerzeit berühmteren Räuberkollegen Gödeke Michels im Nachruhm ausgestochen zu haben.

Kopflos müsste man die alte Volksbühne auf jeden Fall in den Untergrund retten, und sei es nur zum Scherz, statt das rostige Rädern neu zu erfinden. Eine Exil-Bühne des deutschen Sprechtheaters in Burkina Faso wäre ein stolzer Anfang, finanziert mit Rheingold und mit Rüstungsgeldern. Sturz dem Becher. Nieder mit dem Tanze. Staub zum Glanze!

Anm. d. Red.: Lesen Sie weitere Texte zum Thema in unserem Dossier Wem gehört die Bühne des Volkes? Die Fotos stammen von Mario Sixtus und stehen unter CC-Lizenz.

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