Riots in London: Soziale Medien im Zeichen von Selbst-Justiz und Überwachung

Vor einigen Monaten haben die Menschen davon geträumt, dass die sozialen Medien die Revolution bringen. Jetzt kommt in London der Traum der Konter-Revolution auf, die im Zeichen der Selbst-Justiz und Überwachung steht. Berliner Gazette-Herausgeber Krystian Woznicki versucht sich ein Bild von den Unruhen zu machen.

Der arabische Frühling ist noch nicht vergessen. Auch nicht die digital-gedopte Fantasie, soziale Netzwerke wie Facebook und Twitter hätten die Revoultionen in Tunesien und Ägypten möglich gemacht. Ebenso im Gedächtnis sind noch ergreifende Reden, beispielsweise von Cyber-Theoretikern wie Franco Berrardi, der bei seinem großen Vortrag auf der transmediale Tunis und Kairo auf einer Augenhöhe mit London und Paris verortete – zumindest, was das Potenzial zum Aufbegehren gegen die herrschenden Verhältnisse anbetrifft.

Wie aber deuten wir die Geschehnisse, die sich nun in London zutragen? Verwirrende Berichte und Bilder kursieren. Immer wieder hören wir davon, dass soziale Medien dazu verwendet werden, die Aufstände zu… – ja, was ist das Gegenteil von “beflügeln”. Vielleicht ersticken? Augenscheinlich werden soziale Medien auch dazu genutzt, die Aufstände in London zu überwachen. Nicht, dass hier der Staat von seinen Kontrollmöglichkeiten Gebrauch macht. Nein, die Bürger machen mobil. Im Namen der Selbstjustiz, so scheint es.

Die Google Gruppe “London Riots Facial Recognition” nutzt offenbar die neuen Optionen der Gesichtserkennung dafür, die Unruhestifter und Agitatoren in den Massen zu identifizieren. Eine Webseite namens Zavilla.com hat sich eine ähnliche Aufgabe gesetzt. Ihr Appell lautet: “Identify the rioters in the images below by submitting a report.” Mit Blick darauf fragt eine Autorin von TechCrunch zurecht: “Wollen wir Justiz tatsächlich im Crowdsourcing-Verfahren betreiben?”

Pathologisch anmutende Big-Brother-Transparenzkultur

Wir wissen nicht, wie ernsthaft diese Initiativen betrieben werden und wie erfolgreich sie sind. Entscheidend ist: Es gibt sie und sie stimulieren die digital-gedopte Fantasie der Massen. Vor einigen Monaten haben die Menschen davon geträumt, dass die sozialen Medien die Revolution bringen. Jetzt kommt der Traum der Konter-Revolution auf, die im Zeichen der Selbst-Justiz und Überwachung steht.

Digitale Utopie oder digitale Dystopie? Was davon der Wirklichkeit der sozialen Medien näher kommt, hängt nicht zuletzt von den politischen und sozialen Verhältnissen ab. Großbritannien steht in Europa seit den 1990er für die Avantgarde der Überwachung: neuste Technologien, drastische Vorstöße, Kontrolle um jeden Preis. Es soll dort mehr Kameras pro Person geben als in anderen Ländern der Welt.

Eine pathologisch anmutende Big-Brother-Transparenzkultur ist entstanden, davon zeugen jedenfalls manche Bilder von den Ausschreitungen.

Das You-Tube-Video, aus dem das Standbild oben stammt, ist ein trauriges Beispiel dafür. Weil die BürgerInnen ständig von den Kamera-Augen des Staates beobachtet werden, wenden sie die Blicke nun gegen einander und filmen sich bei Delikten. Weniger um Selbstjustiz zu betreiben, vielmehr um den Kontrollblick umzukehren. Ein perverses Machtspiel.

40 Kommentare zu “Riots in London: Soziale Medien im Zeichen von Selbst-Justiz und Überwachung

  1. Robert Basic beobachtet/spekuliert auf G+: sehe gerade ZDF “…16.000 Polizisten sollen heute Abend für Ruhe in London sorgen”… ok, 16.000 .. klingt zunächst nach viel Politsprech, aber wie viele Polizisten arbeiten überhaupt im Londoner Areal? Laut Wikipedia arbeiteten für die “Met” anno 2005 30.000 Polizisten. Bei einem 3-Schicht Betrieb werden wohl tagsüber 25.000 zum Einsatz kommen, nachts wohl 5.000. Heißt, dass die Polizeieinsatzstärke um mind. das Doppelte aufgestockt wird.

  2. »…here’s a sad truth, expressed by a Londoner when asked by a television reporter: Is rioting the correct way to express your discontent?

    “Yes,” said the young man. “You wouldn’t be talking to me now if we didn’t riot, would you?”
    The TV reporter from Britain’s ITV had no response. So the young man pressed his advantage. “Two months ago we marched to Scotland Yard, more than 2,000 of us, all blacks, and it was peaceful and calm and you know what? Not a word in the press. Last night a bit of rioting and looting and look around you.”«

    http://worldblog.msnbc.msn.com/_news/2011/08/07/7292281-the-sad-truth-behind-london-riot

  3. @#6 aber so neu ist das nun auch alles nicht, weil das Grundproblem doch in gesetzlichen Vorgaben liegen, die das Chaos nehmen, um Menschenrechte einzudämmen. Wenn man sich einfach mal die erlassenen Gesetze zu Zeiten der RAF anschaut, die noch heute die Freiheit einschränken:
    http://www.taz.de/1/archiv/dossiers/dossier-raf/artikel/1/ein-erbe-des-raf-terrors/

    Also ich sehe da keine “dunkle Seite” der sozialen Medien, sondern weiterhin die “dunkle Seite” des Staates.

  4. Da findet keine Revolution statt. Das sind nicht die “unterdrückten” Schwarzen, die da auf den Straßen für ihre Rechte kämpfen. Das sind Jugendliche, die plündern und Gewaltorgien feiern.

  5. @#9: genau, sicher, das sind nur böse hooligans die das nur machen weil sie spaß daran haben.

  6. die lage ist vernebelt, aber eins ist doch klar: da ist eine ganze menge frust in der bevölkerung und was der auslöser der riots war, das war agression der polizei gegen bürger in tottenham

  7. Auf Facebook gibt es mittlerweile eine Fanpage mit über 870.000 Nutzern zum Thema “Supporting the Met Police against the London rioters”.

  8. Es gibt den Tag #nameandshame, damit wird die virtuelle Jagd koordiniert z.B. den Chef (in der Gruppe, die Nina verlinkt hat) eines vermeintlichen Plünderers anzurufen, Telefonnummer natürlich angegeben.

    Crowdsouring neben zavilla, die auf soziale Gesichtserkennung gehen:
    http://photoshoplooter.tumblr.com
    http://catchalooter.tumblr.com (aufgegeben, siehe Begründung)
    http://londonrioters.co.uk/identify

    Auf twitter heißen die Accounts @wantedrioters

  9. Warum sollte man nicht als Bürger alle Möglichkeiten ausnutzen, um die Gewalt in den Straßen von London einzudämmen? Er ist vielleicht noch ungewohnt, aber trotzdem völlig legitim…

  10. Die Revolution: wir klauen geile Turnschuhe, einen Flachbildschirm und eine Playstation. Wir verkaufen die geilen Turnschuhe und besorgen uns anstelle 50g hochpotentes Gras, rauchen uns dämlich und spielen die nächsten 2 Wochen auf der Playstation vor dem Flachbildschirm. Mein Bedauern haben die Leute, die wirklich Grund zum Protestieren haben, die nicht nur benachteiligt sondern drangsaliert werden… because their cause got hijacked!

  11. Gewalt als Spaß. Gier nach Technik, Turnschuhen und Teurem. Keine Revolution. Keine Psychologie. Keine Ideologie. Davon verstehen diese dummen Jungbrolls nichts. Davon gibt es in England einfach zu viele. Die sollten sich lieber weiter selbst die Köpfe einschlagen. Idiotie ist der richtige Begriff dafür.

  12. @Leonie #15: Es ist eine Sache, sich gegen Gewalt zu schützen, es ist eine andere Sache, wenn BürgerInnen plötzlich polizeiliche Mittel selbst anwenden. Wer kann dann noch dafür sorgen, dass nicht plötzlich die falschen verhaftet werden, nur weil die FB-Gesichtserkennung es so sagt? (Nicht dass ich der Polizei trauen würde, aber immerhin ist sie für ihr tun vom Staat legitimiert)

  13. @#5 Darya: Jein, denn worum es in diesem Fall geht: Nicht Staat gegen Bürger (das sicherlich auch), sondern (und das wäre das Neue) Bürger gegen Bürger und wie Bürger dabei gegen Bürger (also im Bürgerkrieg) soziale Medien einsetzen.

  14. @#7, Andi: das Problem der Gesetzteslage liegt nicht beim Staat bzw. staatlicher Macht (zumindest nicht mehr ausschließlich), sondern neuerdings auch in den privatwirtschaftlichen Netzwerken wie Google, etc. Die definieren Privatheit neu und damit die Rechte der Menschen. Deshalb nützt dein Blick auf die Geschichte nur dann um klar zu machen, was heute neu dazu gekommen ist.

    Die Erosion der Menschenrechte von einer zweiten Seite: der Wirtschaftsmultis.

  15. @#9, Sebastian: die Gruppe der “Wutbürger” ist gemischt und wir müssen uns eingestehen: “Unterdrückung” ist nicht mehr allein das Merkmal, das einen Aufstand legitimiert. Wir müssen auch über andere Formen der Benachteiligung sprechen, die subtiler sind und sichtbar werden. Aber auch andere Formen der Machtausübung als jene, die klassischen Muster der Unterdrückung hervorgebracht haben.

    In der BG ist kürzlich zu diesem Komplex ein lesenswerter Text erschienen: http://berlinergazette.de/learning-plays-knips/

  16. @#15, Leonie: es geht hier um den Rechtsstaat, einerseits um die Frage, inwiefern der Staat selbst Verrat begeht an diesem Ideal/Arrangement/… andererseits um die Frage, wie Bürger damit umgehen, wenn das geschieht.

    Die “Randale” ist fragwürdig und wir frage uns: was ist daran politisch? Die Selbstjustiz-Tendenzen sind allemal auch fragwürdig.

    Letzteres passiert, wenn es den Rechtsstaat nicht mehr gibt. Ersteres aber ist ein Frustsignal gegen seine Verfehlungen.

  17. bildungssystem kaputtsparen, zukunftsperspektiven abschaffen, konsum als allein seeligmachenden lebensmodus einhämmern – und sich dann wundern, wenn die dummgehaltenen und gezielt verdummtenauch konsumieren wollen und dies auf die einzige art tun, die ihnen erreichbar scheint? yeah!
    das ganze wird notfalls mit milität niedergeschlagen werden, es wird ein wenig sozialkosmetik geben. und manche der “rioters” werden sich fragen, warum es nicht geklappt hat, mit dem besseren leben – und zu antworten kommen. ich hätte kaum gedacht, dass ich diesen begriff mal ernsthaft verwende, aber: jede gewaltsam niedergeschlagene “unruhe” hat das potenzial zur stärkung eine klassenbewusstseins.

  18. »Sicherheit hängt davon ab, dass sich die Leute an die Gesetze halten wollen. Sie mit repressiven Mitteln dazu zu zwingen, funktioniert außerhalb Nordkoreas nur, wenn die Missetäter wenig und isoliert genug sind, um sie sich einzeln vorknöpfen zu können. Dass das so ist, das ist keine Frage von Wertentscheidungen, Interessen oder politischen Präferenzen, sondern nach den Nächten von London eine Tatsache, über die auch die lupenreinste libertär-konservative Weltanschauung nicht hinweghilft.«

    http://verfassungsblog.de/london-brennt-ist-das-politisch-aber-hallo/

  19. @#28: Ich würde das glatt weg als englische Satire betrachten; die gegenwärtigen Riots haben doch ein riesigen Hinterfeld an angehäuften Problemen, die breite Mittelschicht in den Vorstädten muss dort ackern,um die einmal erworbenen materiellen …Standarts zu halten, die Jugendliche in Stadtteilen wie Tottenham fallen durch jedes Raster, eine Menge Leute kommen beschädigt aus den Kriegen zurück; und die Reichen wollen immer reicher werden – wie überall. Die Menge der Probleme der Engländer wächst auch noch ein bisschen da, wo sie trotz aller Bemühungen keinen Fuß auf den arabischen Boden, und das Erdöl unter ihre Kontrolle kriegen. Der nicht mehr gewinnbare Krieg in Libyen wird für die Engländer / Franzosen auch ein zunehmendes wirtschaftliches Problem werden – also “Kapitalistische Krisen-Stimmung”- wir warten hier ruhig noch ein bisschen ab.

  20. @#19 Leander: Es sind natürlich unterschiedliche Sachen. Aber ich finde deine Bedenken, die wirklichen Täter zu verhaften, unberechtigt. Ein gewissen Restrisiko gibt es immer und ich gehe auch nicht davon aus, dass die Polizei auf solche Weise ermittelte Täter ohne weiteres verhaftet.

  21. Gestern haben hunderte Jugendliche die Einkaufszentren und Straßen freiwillig aufgeräumt, um zu zeigen, dass sie stolz auf ihre Städte sind und die Krawallmacher nur einer Minderheit vertreten.

  22. @Leonie #31: Findest du es nicht ein bisschen voreilig, die “Krawallmacher” so zu verurteilen? ich bin auch gegen Gewalt, aber denkst du nicht, dass die Jugendlichen (zumindest ein Teil davon) eine bestimmte Motivation haben und aufbegehren gegen Polizeiwillkür und Rassismus? Warum können die “guten” Jugendlichen sich nicht solidarisch erklären und zum Beispiel gewaltfreie Formen des Protests wählen, anstatt sich als Saubermacher zu gerieren?

  23. @#33 Magdalena: Ich verurteile die “Krawallmacher”: Der Zweck heiligt nicht die Mittel. Wir befinden uns in Europa und nicht in Nordafrika. Egal welche Motivation wir aben, Wege wie die, die gerade in London gegangen werden, sind meiner Meinung nach zu verurteilen.
    Positives Beispiel für Proteste der Jugend mit berechtigten Motivationen wäre vielleich Madrid…
    Von daher hast du schon recht, wenn du dir von den “guten” Jugendlichen gewaltfreie Proteste wünscht. Aber ich denke mal, dass die gerade selber so überrollt werden von dieser Situation und der Angst, dass ihnen Proteste, welcher Art auch immer, nicht in den Sinn kommen und sie lieber erst für Ordunung sorgen wollen. Was haben sie von zertrümmerten Städten?!

  24. @Leonie #34: Kann deiner Argumentation durchaus folgen, aber wie soll ich den Satz “wir befinden uns in Europa und nicht in Nordafrika” verstehen? wenn ich ihn so nehme, wie er da steht, hat er einen ganz üblen Nachgeschmack (hier ist Zivilisation und dort nicht…). Beziehst du dich vielleicht auf den arabischen Frühling oder was wolltest du da sagen?

  25. @#35 Leander: Nein, das war nur auf das Demokratieverständnis und die politische Situation bezogen. Eben Menschen, die in Unterdrückung und unter einer Diktatur leben müssen, wie es in Nordafrika der Fall ist/war.

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