Rauschen ohne Ende

Vor einiger Zeit habe ich meinen Fernseher von seinem Platz verbannt und an seine Stelle ein kleines Suesswasseraquarium mit brasilianischen Rotkopfsalmlern und asiatischen Zwerggarnelen gestellt. Jetzt gibt es in den zwoelf Stunden am Tag, in denen die Beleuchtung des Aquariums in Betrieb ist, hochaufloesende, breitformatige 3D-Bilder in tollen Farben: frisches Gruen, glitzerndes Silber, tiefes Braun, leuchtendes Rot und sattes Gelb. Es bleibt die Frage: Welche Toene soll man zu diesen Bildern spielen? In meinem Wohnzimmer ruft das ganze Arrangement unbedingt nach Toenen, weil meine Musikanlage direkt neben dem Aquarium steht.

Wenn Wasser ueberhaupt einen Klang hat, dann ist das Rauschen, also die groesstmoegliche tonale Unbestimmtheit oder klangliche Unreinheit. Rauschen definiert sich naemlich dadurch, dass die Verteilung der Frequenzen sich nicht mehr vorhersagen, sondern ihre Verteilung nur noch statistisch ermitteln laesst. Erstmalig praezise beschrieben wurde dieses Phaenomen durch den Physiker Walter Schottky im Jahr 1918.

Man koennte nun – wenn auch grob vereinfacht – sagen, dass sich die europaeische Musikgeschichte der Mehrstimmigkeit als ein kalkuliertes Anwachsen von Rauschen beschreiben laesst. Denn je komplexer die Musik wird, desto mehr unreine Obertoene mischen sich in ihr. Aus dieser Not hat spaetestens das 19. Jahrhunderte mit seiner klangfarbenreichen Musik eine Tugend gemacht: Das Rauschen wurde aus der Musik nicht ausgeschlossen, sondern in ihr gezaehmt. So wie die endlosen und gefaehrlichen Wassermassen der Erde seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in dekorative Aquarien gebannt sind.

Wo es in der Musik bis zum Ende des 19. Jahrhunderts um Wasser geht, wird das nirgends als Rauschen, sondern immer nur auf metaphorischem Weg wie etwa in Smetanas >Moldau< oder in der Nr. I,6 aus Haydns >Schoepfung< [>Rollend in schaeumenden Wellen<] in die Musik uebernommen. Der Grund dafuer ist einfach: Haette man tatsaechliches Rauschen in die Musik aufgenommen, dann waere damit das Ende ihrer tonalen Struktur besiegelt gewesen. Erst John Cage hat 1952 mit seiner >Water Music< keine Angst mehr vor dem Wasser und seinem Rauschen haben muessen. In diesem Stueck taucht, neben allerlei Alltagsgegenstaenden und praeparierten Instrumenten, auch der Klang von Wasser auf, das von einem Gefaess ins andere geschuettet wird. John Cages Musik stammt eben aus einer Zeit nach Arnold Schoenberg und der Zweiten Wiener Schule, in der Musik nicht mehr harmonisch organisiert sein musste und damit endlich frei ist fuer die Verarbeitung von Geraeuschphaenomenen wie etwa dem Rauschen des Wassers. Ob ich nun zu den Bildern meines Aquariums die Wassermusik des braven Haendel oder des frechen Cage erklingen lasse, macht also einen Unterschied ums Ganze. Ich wuerde mich ungern ein fuer alle mal zwischen beiden entscheiden muessen, weil ich so gern in mein Aquarium schaue, wie ich im Meer schwimme. Wenn ich heute nach etwas suchen wuerde, was sich als Wassermusik bezeichnen liesse, werde ich wohl am ehesten in der elektronischen Tanzmusik fuendig und weniger bei denen, die sich selbst als Komponisten bezeichnen: Dort sitzt man naemlich nicht mehr wohlgeordnet vor der Musik und begafft sie wie die Exponate in einem musikalischen Museum, sondern taucht mit Haut, Haar und vor allem Ohren in eine tendenziell grenzenlose Welt von Klaengen, Toenen und Geraeuschen ein. Am meisten Vergnuegen haben mir da in letzter Zeit Leute wie Oliver Guensel oder Dr. Nojoke/Proeff gemacht. Wie man ueber solche >Musik< schreiben kann? Am besten gar nicht, das muss man gehoert haben. Vielleicht koennte sich eine solche Musik am ehesten noch im Kino reflektieren lassen, wie neulich in Hannes Stoehrs >Berlin Calling<, weil im Kino, wie im Wasser, so gut wie kein Ende der Bewegung in Sicht ist. [Anm. d. Red.: Der Verfasser des Textes ist Kulturwissenschaftler und Mitarbeiter am Inter­na­tio­na­len Kol­leg fuer Kul­tur­tech­nik­for­schung und Medi­en­phi­lo­so­phie in Weimar.]

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