Provinzwestern: Verflucht, Verdammt und Hallelujah!

Ein ungleiches Paar auf dem Weg von der Großstadt in die brandenburgische Provinz. Mit so einer Story ist die Filmförderung eigentlich gesichert. Doch halt: Was nun folgt, hat sich wirklich zugetragen. Exklusivbericht einer Endzeitexpedition.

Um 5.45 Uhr aufzustehen, gab diesem Sonntag sofort einen merkwürdigen Drall. Den Weg zum Bahnhof verkürzte mir eine würdevoll gealterte Ostblock-Intellektuelle am Steuer des Taxis. Ihre Ansichten zum Zerfall des einstigen Jugoslawien, ließen uns gemeinsam noch den seligen Marschall Tito hochleben. Es galt eine absonderliche Expedition in die Tiefen der von Menschen noch weitgehend unerforschten Prignitz anzutreten.

Frühes Erscheinen bei der Landhochzeit von Berliner Freunden war also Pflicht. So traf ich Punkt 7.20 Uhr meinen Reisegefährten Salvy Ungemach am Gleis. Um den grotesken Charakter der Uhrzeit dramatisch zu unterstreichen und mir selbst die Illusion einer polizeilichen Tatortbesichtigung zu vermitteln, hatte ich mich mit einer Blutzeitung samt schäbigem Kaffeebecher ausgestattet.

Die rechte und die linke Hand des Teufels

Wir rollten rasch nordwestlich, durch mir bis dahin Gott sei Dank verborgen gebliebene Berliner Hinterhofareale und begannen unsere Müdigkeit wegzuwitzeln. Ein sehr seltsames Paar auf Reisen. Eigentlich waren wir als eine Art geistlicher Beistand des Brautpaares vorgesehen. Man hatte schon heimlich standesamtlich geheiratet. Ich sollte nun als falscher Pastor salbungsvolle Worte im Kreise von Familie und Freunden finden, Herr Ungemach derweil aus ökumenischen Gründen den Rabbi geben. Die rechte und die linke Hand des Teufels sozusagen.

Je weiter man sich von der sicher betonierten Stadt entfernte, desto lauter und großspuriger wurde die Flut ignoranter Kommentare. Worte flirrten zwischen Großstadtneurotismen und Berliner Wurstfabrikantenjargon eines Fünfzigerjahre-Heimatfilms. Eben das verbale Repertoire, mit dem der nervöse Städter draußen im arg fremden Terrain seine Unsicherheit zu überspielen sucht.

Plötzlich: Zwanzig Minuten Zwangsaufenthalt in Neustadt Dosse. Schallend lachten wir über die Tatsache, dass das gegenüberliegende Gebäude pragmatisch einfach Amt hieß und die offiziellen Begrüßungsschilder offenkundig von der Tochter des Bürgermeisters mundgemalt worden waren. Ein neues Reisegefährt rollte an und entpuppte sich als motorisierter Waggon, also ein Schienenbus. Sachte kroch ein Postkutschengefühl durchs Abteil.

Prignitz in Techniscope

Vor meinen Augen wurde eine brennend-grüne Ebene wie ein riesiger Tapeziertisch ausgeklappt. Diese fast beängstigende Idylle wusch unsere offenen Münder unvermittelt vom Schmutz der bösen Worte schaumig aus. Der Rabbi schien anstelle seiner feierlichen Kippa einen Cowboyhut zu tragen und ich glaubte, im Gebüsch versteckte Indianer wittern zu können.

Salvy schlug lakonisch eine Draisine als finales Verkehrsmittel vor, ganz wie man sie aus Lucky Luke Comics liebgewonnen hatte. Mein verkniffener Städterblick, der schon alles gesehen haben wollte, wurde in immer größere, menschenlose Fernen gesogen. Mitten in die perfekte Kolorierung einer viel zu sanften Morgensonne und eines Kathedralenhimmels, samt seinem unglaubwürdigen Zuckerbäckerdekor unzähliger, weit geschwungener Eiswolkenpinselstriche. Entsetzlich.

Ein “Bedarfshalt” namens Wutike empfahl sich aus den Lautsprechern. Ungemach kicherte sofort los, die Western-Atmosphäre zerplatzte trocken an der Waggonscheibe. Brandenburg streckte mal wieder unbarmherzig seine erdigen Kartoffelfinger aus.

Eine weitere einsame Haltestelle mitten im Wald schien wie geschaffen für Notzuchtverbrechen, die dann bei Aktenzeichen XY ihrer geifernden Aufklärung harren würden. Blumenthal in der Mark wiederum, besaß ein einsam bewohntes Bahnhofshäuschen, dessen Vorsteher in jedem Fall einer spätexistenzialistischen Philosophieschule zuzurechnen sein musste. Ein beamteter Selbstmörder. Gänzlich ohne Pfeile im Hut erwartete Minuten später der letzte Außenposten der bekannten Menschheit seine beiden falschen Propheten. Endstation.

Ob hier Clint Eastwood und Lee van Cleef mit einer Horde Revolvermänner unserer Ankunft harrten? In weitestem Techniscope-Format getragen durch den wehmütigen Abgesang einer vom Wind verhallten Mundharmonika? Nichts! Zielstrebig durchmaßen wir den schmalen Ortskern.

Keine Menschenseele weit und breit! Normalerweise ein untrügliches Zeichen für einen Hinterhalt, doch Angesichts ernüchternd brandenburgischer Kleinstadtstraßen, einzig gesäumt vom stets florierendem Getränkehandel, begannen wir erstmals den Sinn der Expedition in leisen Zweifel zu ziehen. Von winzigen zehn Minuten Fußmarsch konnte sicher nicht die Rede sein, soviel wurde nach zwanzig Minuten langsam klar.

Der Hügel der blutigen Augen

Die Sonne stieg höher, man glaubte unterschwellig immer deutlicher das Klirren unserer Sporen und Klappern der schweren Stiefel zu vernehmen. Ich war mir auch ohne genau hinzusehen sicher, dass sich an meinem Gürtel ein schwerer Colt befand, der an meinem rechten Bein festgebunden, bei jedem Schritt rhythmisch baumelte. Ungemach ging voraus, stets das Gelände zuverlässig im Auge behaltend und begann eine Ennio Morricone Melodie aus einem legendären Spaghettiwestern zu pfeifen.

Hier kam niemand vorbei, der nicht hierher gehörte. Und Spazieren zu gehen, oder andere nicht Zweck gebundene Tätigkeiten, hatten sicher den Ruch des sündigen Müßiggangs. Dafür sollten wir Fremden wohl schon sehr bald die Quittung erhalten. Ein Lieferwagen hielt neben uns. Das Fenster herunterkurbelnd, fragte der bärtig zigarrenrauchende Fahrer mit listigem Blick: “Wohin des Wegs, Wandersmann?” Ich antwortete freundlich lächelnd, umfasste dabei aber vorsichtshalber meinen imaginären Colt.

Der Fahrer gab vor uns zu glauben, wies zögernd den Weg zum Dorf und rollte argwöhnisch grüßend langsam davon. Nun war ganz sicher, dass sich das Genre des Films, deren unfreiwillige Protagonisten wir waren, blitzschnell gewandelt hatte. Der Hügel der blutigen Augen lauerte. Blutdurstige, degenerierte Rednecks im Mordrausch. Kannibalismus womöglich. Und wir als ahnungslose Opfer aus der Stadt mit Autopanne. Klassiker.

Ferien auf Saltkrokan

Anstelle Motorsägen schwingender Inzestmutanten, erwartete uns ein Fleckchen Erde wie in einem schwedischen Kinderfilm. Ferien auf Saltkrokan lag in der Luft. Der Tag im Kreise guter Menschen vom Land wurde erschreckend erfreulich, wirklich niemand trachtete nach meinem Leben.

Mehr und mehr tropfte ein Pflaumenbaumlicht aus einem dieser entzückenden Eric Rohmer Dialogfilme in unsere Augen, dazu reichlich selbstgebrannter Schnaps in meine Leber. Alles war gut, weich, warm, leicht und angenehm. Auch wenn wir in der Prignitz und nicht in der Provence waren, schämte ich mich am Ende des Tages fast ein wenig, mit niemandem Französisch gesprochen zu haben.

Gegen Sonnenuntergang setzte sich Beruhigung in mein Sessel-Gemüt und dunkelte den ständigen flackernden, virtuellen Projektionssaal im Kopf ab. Da erreichte uns die traurige Nachricht, das der Regisseur Claude Chabrol gestorben sei und sofort flammte der Projektor des Kopfkinos wieder grell auf. Freundlicherweise brachte man uns im Dunkeln mit dem Auto aber viel zu rasch wieder Heim. Die eifersüchtige Stadt, brüllte sich schon auf der Autobahn regelrecht zurück ins Blickfeld, als wenn sie uns diesen idyllischen Tag nicht gegönnt hätte.

Abspann…

21 Kommentare zu “Provinzwestern: Verflucht, Verdammt und Hallelujah!

  1. Ich komme selbst aus der Prignitz und kann mich in vielen der Erfahrungen, die hier beschrieben werden, wiederfinden. Ich mag die ironische Gebrochenheit der beiden Protagonisten und was mir besonders gut gefällt, ist, wie versucht wird, die etwas ätzende Schönheit der Prignitz zu beschreiben. Dort leuchten die Felder eben wirklich.Was nicht so gut rüberkommt meiner Meinung nach ist der Zustand des Verfalls, den man auch vom Zufenster aus gut sehen kann. Brache Industrien, heruntergekomme Baustellen. Das fangen die Bilder wiederum ganz gut ein.

  2. Also, das heißt gefälligst Yarmulke und nicht Kippa. Außerdem ist Neustadt-Dosse ja nicht irgendein Kaff, sondern die Pferdestadt! Ansonsten stimmt das aber alles. Größtenteils.

  3. @Salvy: Was genau ist der Unterschied. Wikipedia (englisch) ist da anscheinend recht liberal und sagt, es heißt so oder so…

  4. @ Herder: Das ist ein bisschen wie mit Shul und Synagoge, wenn Sie verstehen. “Yarmulke” klingt schöner, finde ich.

  5. @Salvy: Verstehe. Das klang im ersten Kommentar sehr kategorisch, deswegen wollte ich mal nachfragen. Das Beispiel ist einleuchtend.

  6. @Sarah: Ja, das ist die Gegend um Boddin herum. Dort gibt es eine Milchfarm. Sehr spannend.

  7. Ein echter Western, oder sagen wir Eastern, schließlich spielt es im Osten des Landes :)

    Erinnert mich ein wenig an Vladimir Kaminers “Dschungelbuch” — Reisenotizen aus der Provinz.

    Danke!

  8. Arrrrrrgh…Kaminer! Auflage: Ja! Sonst bitte: Nein!
    Sollte langsam mit einer sinnlichen Sprachlehrerin an meinem russischen Akzent arbeiten…seufz..

  9. naja, die brachen haben ihn sicher nicht so speziell interessiert an der prignitz. da gibt es diesbezüglich in den neuen bundesländern viel ärgere regionen des grausigen zerfalls, aber ohne diese zweite, leuchtende ebene der schönen natur. wenn ich ihn richtig deute, den trasher!

  10. Auf “Traumpfaden” in Brandenburg. Oft ist Ödnis anregender als ein Jahrmarkt. Die Leere will schließlich gefüllt werden – mit Geistern und Gedanken. Gelungenes Reisestück.

  11. In 1941, while filming The Outlaw, Howard Hughes felt that the camera did not do justice to Jane Russell’s large bust. He employed his engineering skills to design a new cantilevered underwire bra to emphasize her assets. Hughes added rods of curved structural steel that were sewn into the brassiere below each breast. The rods were connected to the bra’s shoulder straps. The arrangement allowed the breasts to be pulled upward and made it possible to move the shoulder straps away from the neck. The design allowed for any amount of bosom to be freely exposed.

    http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/b/ba/The_Outlaw_poster.jpg

  12. @solfrank: Ahhhh, Hinweise auf spezielle Pushup-Konstruktionen zur Präsentation von Jane Russell’s enormen Brüsten, dann noch in einem Howard Hughes Film, finden natürlich meine volle Aufmerksamkeit..Danke schön!

  13. Ein solcher Text ist doch reine Politikflucht! Wo bleibt die gesellschaftliche Relevanz?

  14. Gefällt mir,zum Glück ist die Prignitz noch eine Reise wert. Es gibt auch, hinter den endlosen Kiefernwäldern und Hügeln, nicht nur “Industriebrachen” hier, sondern auch große Betriebe, in bekannten Prignitzdörfern, wie Heiligengrabe und Falkenhagen, wo auch Menschen aus dem schönen Berlin zur Arbeit hinfahren.

  15. “Pflaumenbaumlicht” gefällt mir nach den ganzen Zombiefantasien ganz gut.

  16. Mal etwas anderes als die ganzen HartzIV, Sarrazin und Anti-Atom Texte dieser Zeit.

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