Spaziergangswissenschaft

Als Freiburgerin radele ich jeden Tag eine viertel Stunde entlang der Dreisam zur Uni. Bei Kettensprung, Platten oder Schlimmerem bleibt nur die Wahl zwischen Bahn und Bus oder einem ausgedehnten Spaziergang. Letzterer waere koerperlich und vor allem, was den zeitlichen Parameter anbelangt, die wohl natuerlichste Option, jedoch bei einer Strecke von fuenf Kilometern die zugleich unwahrscheinlichste. Doch welche Konsequenzen hat die Wahl des Fortbewegungsmittels auf meine Wahrnehmung? Was passiert, wenn ich in der Grossstadt in die U-Bahn steige und sie zehn Minuten spaeter aus dem Dunkeln wieder verlasse? Welchen visuellen Einbussungen ist der Auto-, Bus-, und Strassenbahnfahrer ausgesetzt?

Lucius Burckhardt und Helmut Holzapfel haben sich mit diesen Fragen eingehend beschaeftigt. Um auf die unterschiedlichen Wahrnehmungsmodi der heutigen Landschaft aufmerksam zu machen, fuehrten sie 1992/93 diverse Spaziergangsexperi- mente durch. So simulierten sie etwa die Perspektive eines Autofahrers: Ausgestattet mit Windschutzscheiben gingen sie durch die Stadt und beobachteten, wie sich dies auf ihr Seherlebnis auswirkt. Ihre Schlussfolgerungen verdichteten sie in Texten, die den theoretischen Ueberbau der von Burckhardt in den 1980er Jahren begruendeten Spaziergangswissenschaft bilden. Nun hat Martin Schmitz in seinem Verlag dieser noch wenig bekannten Disziplin, die ueberigens auch als Promenadologie bekannt ist, ein Buch gewidmet.

Burckhardt darin: >Nie hat man sich so sehr um die Aesthetik der Umwelt gekuemmert wie heute; nie waren so viele Kommissionen mit Bewilligungsverfahren beschaeftigt, nie gab es so potente Vereinigungen zum Schutz der Umwelt, der Landschaft, der Heimat, der Denkmaeler […]. Aber trotz aller Schutzbestimmungen, Verfahren und abgelehnter Baugesuche waechst staendig die Klage ueber die Verhaesslichung der Umwelt und die Zerstoerung der Landschaft.< Anhand zahlreicher Beispiele, die dem Leser und der Leserin das reinste Vergnuegen bereiten, geht der 2003 Verstorbene unterschiedlichsten Phaenomenen auf den Grund. Martin Schmitz indes versucht die Spaziergangswissenschaft einem breiteren Publikum in Vortraegen naeher zu bringen. Zum Beispiel am 14. Februar in der Hochschule fuer Gestaltung Karlsruhe und am 8. Maerz im Goettinger Literarischen Zentrum.

Ein Kommentar zu “Spaziergangswissenschaft

  1. Das Zitat aus Burckhardts Buch ist gut gewählt. Denn, dieses Phänomen scheint mir mittlerweile automatisiert abzulaufen – d.h. wie von selbst und es erfasst fast alles.

    Promeplanieren.

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