Politik der Notunterkunft: Wie das Zusammenleben in einer Turnhalle die “BewohnerInnen” verändert hat

Die anfängliche Aufregung in vielen Gemeinden ist einer Art Alltag gewichen. Die Geflüchteten, die 2015 in die BRD kamen, leben inzwischen in Gemeinschaftsunterkünften, in Wohnungen, in WGs. Zeit um auf die Anfänge zurückzublicken: Annika Seibt, Hebamme und Refugee-Aktivistin berichtet, wie sich das Zusammenleben in einer Berliner Notunterkunft gestaltet hat. Ein Jahr lang lebten über 100 Geflüchtete aus verschiedenen Ländern in einer Turnhalle zusammen. Eine aufreibende Zeit, eine aufregende Zeit, eine Zeit, in der Freundschaften und Gemeinschaften entstanden.

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Wie sah das also aus bei uns in der Turnhalle? Ich war da als Sozialarbeiterin angestellt. Und es war überhaupt nicht dieses Bild: Alleinreisende Männer. Wir hatten von Anfang an einen großen Anteil an Familien. Also wir waren von Anfang an mit 70 Prozent Familien belegt und die größte Schwierigkeit am Anfang war, dass eine Turnhalle nicht geeignet ist, um Menschen unterzubringen.Die Duschen sind kaputt gegangen, die Toiletten waren ständig kaputt. Es waren viel zu wenig Toiletten für viel zu viele Menschen.

Wir hatten auf einmal eine Security da, mit der wir auch arbeiten mussten. Die Security hat sich aufgeführt, wie die Chefs in diesem Haus – da mussten wir aktiv werden. Das hat ganz viel Energie gekostet, da eine wirkliche Autorität zu präsentieren und zu sagen, dass wir es nicht tolerieren, dass die Security dort eigene Machtstrukturen aufbaut.

Nach außen hin unsichtbar

Wir hatten keine Dolmetscher vor Ort. Der Chef der Betreiberfirma der Notunterkunft hatte viel arabischsprachiges Personal. Er hat versucht, unsere Unterkunft nach Möglichkeit mit mehrsprachigen Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern auszustatten. Aber trotzdem gab es zum Beispiel für die Menschen, die aus Afghanistan kamen, lange Zeit ein großes Problem Sprachmittler zu finden und daher haben wir von Anfang an auch unsere Bewohnerinnen und Bewohner stark eingebunden.

In der Turnhalle hatten wir kranke Kinder oder auch Neugeborene mit Herzfehlern, die nur mit größtem Aufwand und auch mit Kontakten die ich aus meiner Zeit davor schon hatte, verlegt werden konnten. Und wir hatten bis zum Schluss keine verantwortlichen Ansprechpersonen mit denen wir über solche Härtefälle auch reden konnten. Eigentlich war alles innerhalb unserer Unterkunft nach außen hin unsichtbar.

Unser Büro war der ehemalige Turnlehrerraum. Wir mussten erst einmal die ganzen Sportgeräte aus den Turnhallen holen. Wir hatten einfach keine Lagerflächen für nichts. Die Schule hatte sehr große Angst um ihre Turnhalle. Irgendwann tropfte es dann von der Wand, weil irgendwelche Rohre kaputtgegangen sind. Irgendwelche Ventile laufen über und es sind nicht genügend Anschlüsse für Waschmaschinen vorhanden.

Wir hatten wahnsinnige hygienische Probleme, weil wir auch in den ersten zwei Monaten eine große Fluktuation hatten. Damals wurden syrische Familien noch bevorzugt, weil sie eine bessere Bleibeperspektive hatten. Wir hatten am Anfang einen Durchlauf von, ich sag‘s jetzt mal, an den guten Tagen fünf an den schlechten Tagen 40 Personen. Aber wir hatten kein neues Material für die gesamten Betten. Wir hatten auch keine Zeit, die ganze Bettwäsche zu waschen und aufzuhängen. Wo denn?

Wir haben ganz viel mit Spenden arbeiten müssen. Wir hatten Bettwäschespenden. Die Matratzen waren innerhalb von kürzester Zeit hinüber, es gab keine Auflagen die Kinder haben in die Betten gepinkelt. Wenn wir eine Aufnahme von 40 Personen hatten, dann haben wir einen Anruf gekriegt – wenn wir überhaupt einen bekommen haben – vielleicht zwei Stunden davor: „Jetzt kommt gleich ein Bus und 40 neue Leute.“ Und dann musst du in dieser Turnhalle erst mal herausfinden: „Wo ist ein Bett frei?“ Und da haben wir von Anfang an ganz eng zusammengearbeitet, mit den Menschen die bei uns gelebt haben und das hat uns, glaube ich, von Anfang an die Arbeit erleichtert.

Sprechstunden für alle

Wir hatten alles gut organisiert, es gab bei uns Sprechstunden und Beratungen. Das LaGeSo funktionierte nicht und so kam es, dass zu den Sprechstunden auch Menschen kamen, die gar nicht in unserer Unterkunft gelebt haben. So wurden wir also auch zur Anlaufstelle für Menschen aus anderen Unterkünften, in denen wenig unterstützende Strukturen vorhanden waren. Wo es keinen Arzt gab und so weiter. Wir hatten am Anfang viermal pro Woche Sprechstunden und das hat sich erst nach dem ersten halben Jahr beruhigt.

Es gab in unserer Unterkunft ganz viele Leute, die konnten außer ihrer Muttersprache, kein Englisch und auch keine andere Sprache. Sie wollten von Anfang an Deutsch lernen, weil sie sich ja mit uns verständigen wollten. Das war auch nötig. Und so hat sich am Anfang die Sprachschule entwickelt. Die ärztliche Sprechstunde hat sich entwickelt. Es gab einen großen Zusammenhalt unter den Leuten. Und es gab in dem Sinne keinen Feierabend für die Helferinnen und Helfer, für die Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen und auch nicht für die Bewohnerinnen und Bewohner.

Auch wenn wir zwar abends noch heimgehen konnten bzw. nachts – man hat das mit nach Hause genommen. Die Probleme, die Sorgen. Ich habe manchmal 20 Stunden am Stück gearbeitet. Zwischendrin war ich einfach müde und ich konnte nicht mehr. Es hieß: „In zwei Stunden, um halb vier, kommt dieser Bus, der eigentlich für zwei angekündigt war.“ Was für ein Stress.

Und was da zu spüren war, war dass die Menschen in dieser Notsituation auch auf so etwas reagiert haben. Ich habe dann ein Bett angeboten bekommen, wo ich mich zwei Stunden hinlegen konnte. Die Zeit reichte einfach nicht aus, um nach Hause zu gehen. Oder jemand anders kochte mir dann einen Tee oder jemand stellt sich einfach hinter mich und massiert mir zehn Minuten die Schulter. Das waren Kleinigkeiten, die total wichtig waren. Ich hatte das Gefühl, dass ich nicht mit weniger Energie nach Hause gehe.

BewohnerInnen-Rat

Das Besondere an unserer Unterkunft war der BewohnerInnen-Rat. Es gab richtige Wahlen, zwei Tage lang wurden Wahlzettel ausgegeben. Und was daran richtig gut war, war dass wir auf eine Balance der Geschlechter geachtet haben und dass Jugendliche auch ein Mitspracherecht hatten.

Und dann hat sich der BewohnerInnen-Rat gegründet und das hat uns die Arbeit erleichtert. Sie haben an unseren Dienstbesprechungen teilgenommen. Wir konnten die Probleme viel besser erörtern, konnten uns besser strukturieren und vor allem konnten wir die Ergebnisse, die wir besprochen haben, viel besser weiter kommunizieren.

Daraus hat sich auch ergeben, dass sich viele Frauen engagiert haben. Geflüchtete Frauen. Wir hatten besondere Beratungsangebote: Rechtsschutzberatung, Gleichstellugsberatung. Es gab einen Raum nur für Frauen in unserer Unterkunft. Neben den Beratungen hatten wir dort einfach schöne Abende. Was die Frauen verbunden hat, waren die gemeinsamen Probleme. Vor allem die Wohnsituation in der Turnhalle.

Und dann wurde plötzlich von der Stadt aus beschlossen, dass alle BewohnerInnen umziehen müssen und über die ganze Stadt verteilt werden – obwohl sie doch hier schon gut integriert waren. Da gab es auch vor Ort in Pankow gute Unterstützung von Jugendbündnissen. Die hatten sich eingesetzt für eine gute Wohnsituation im Bezirk Prenzlauer Berg und auch für ganz Pankow. Die haben dann von den Probleme mit der Turnhalle gehört und die haben gesagt: „Wir schließen euch hier mit ein.“

Auch Menschen, die nicht geflüchtet sind, haben teilweise eine beschissene Situation in Pankow. Gemeinsam mit dem Jugendbündnis hatten wir dann eine große Demo organisiert. Da haben wir auch gezeigt: „Nein, so könnt ihr die Leute nicht einfach verteilen. Das sind unsere Nachbarn und die wohnen hier und wir wollen dass unsere Nachbarn nicht stadtweit verteilt werden. Ihr könnt nicht einfach von oben herab entscheiden, wo die hinziehen und wo die wohnen und die Kinder in die Schule gehen.“

Ein neues Heim

Da haben wir dann die Kommunikation mit dem Bezirk aufgenommen und ein Mitspracherecht eingefordert: Wo ziehen die Leute hin, wie ist es da mit den Kindergärten? So was alles. Dann wurde ein weiteres Angebot unterbreitet, die Leute sollten im Bezirk bleiben können, in einem anderen Heim. Sind wir auch hingegangen, haben uns das angeschaut. Wie sind die Gebäude? Wie erreicht man die Kitas und Schulen?

Dann erreichte uns ein Brief vom Bürgermeister. Der Umzug soll erfolgen, in ein neues Heim in der Treskowstraße, nördlich der Turnhalle, aber immer noch im Bezirk Pankow. Okay alles klar. Also Treskowstraße angucken. Das hat alles gekappt, weil wir uns beschwert hatten. Dann also die Treskow in Augenschein genommen und gesagt: „Ja, nehmen wir.“ Und da haben wir dann auch direkt Druck gemacht und haben gesagt: „Okay, wir bleiben aber dabei, dass alle zusammen umziehen.“

Dann kam der große Tag: Die Bekanntgabe des Umzugs. Das machten die Mitarbeiter vom LaGeSo. Die sagten: „Wir informieren jeden einzelnen Bewohner per Brief, der umziehen darf. Dieser Brief gilt dann auch als Kostenübernahme für die Aufnahme in dem neuen Heim. Es wird ein Bus bestellt. Die Sachen werden alle transportiert. Der Umzug findet in drei Etappen statt über zwei Tage und wir kommen mit Sprachmittlern und wir überreichen die Briefe.“ Wir waren alle total aufgeregt.

„Wir lassen keinen Zurück“

Doch was war das? Genau an dem Termin, war der Gemeinschaftsraum total leer. Ich dachte schon: „Haben sie vielleicht den Termin nicht verstanden?“ Alle hatten Angst. Alle waren aufgeregt und fragten sich: „Ziehen wir mit um? Ziehen wir nicht mit um?“ Bis zu dem Zeitpunkt habe ich gesagt: „Wir lassen keinen zurück.“ Und dann kamen die vom LaGeSo wirklich und es ging los. Ich habe das so ein bisschen eingeleitet. Wir haben dann die Leute in Gruppen eingeteilt, je nachdem, welche Sprache sie sprechen.

Das Schönste war, dass wir für Urdu einen Sprachmittler hatten. Zum allerersten Mal gab es jemanden, der die Sprache derjenigen sprach, die aus Pakistan geflüchtet waren. Für die gab es vorher nie jemanden. Als ich das dann gesagt habe, da gab es richtigen Beifall. Der gesamte Raum hat applaudiert.

Ich weiß noch, da gab es diesen Familienvater, der war der Haushaltsvorstand einer Hazarafamilie aus Afghanistan. Er war der Erste, der für seine Familie die Einladung bekommen hat, in die Treskowstraße zu ziehen.

Irgendwie haben die LaGeSo-Mitarbeiter es dann auch nicht so hingekriegt mit dem Zettel austeilen, die Namen richtig zu lesen und so. Dann wurden die Namen aufgerufen und alle haben applaudiert. So ging das weiter, bis alle 108 Bewohner ihre Zettel bekommen haben. Das war fast wie bei Bachelorette! Also jeder bekam eine Rose zu der Einladung in die neue Unterkunft dazu.

Die Stimmung war so gut! Wir hatten am Ende einen jungen Mann aus Pakistan und drei junge Geschwister, die nicht mit auf der Liste standen und da haben wir dann die LaGeSo-Mitarbeiter mit sanftem Druck dazu bewegen können, dass sie genau für diese Personen auch noch eine Übernahme ausstellen. Das hat alles gut geklappt.

Alle helfen mit

Am Tag des Umzugs haben alle mitgeholfen. Alle. Es waren die alten Menschen, denen haben die jungen geholfen, ihre Sachen zu tragen. Die Familien haben Unterstützung bekommen. Es war unglaublich, wie dieser Zusammenhalt innerhalb dieses einen Jahres gewachsen ist.

Dann gab es die Busfahrt ins neue Heim. Die Leute haben gesungen und geklatscht. Das war für die Mitarbeiter vom LaGeSo auch was Besonderes. Ich glaube, die haben gesagt: „So eine Busfahrt hatten wir noch nie.“ Es gab ein Video von der Busfahrt. Da sieht man, wie glücklich die Menschen waren bei dem Umzug. Das zeigt, dass trotz dieser echt schwierigen Umstände, so viele enge Beziehungen entstanden waren.

Anm. d. Red.: Den ersten Teil es Protokolls können Sie hier lesen. Das Foto oben stammt von Matthias Ripp und steht unter eine CC-Lizenz (CC BY 2.0).

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