Terror in Paris: Warum die Zivilgesellschaft jetzt ihre Werte und ihre Verantwortung reflektieren sollte

Die Terroranschläge in Paris machen viele Menschen wütend. Doch wütend auf wen oder was? Geschichtslehrer und Berliner Gazette-Autor Bernd Hatesuer, glaubt, dass Wut jetzt nicht auf der Tagesordnung stehen sollte, sondern eine Verständigung über die Werte und die Verantwortung der Zivilgesellschaft. Ein Aufruf, die Kräfte zu bündeln.

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Nachdem uns die traurigen und schockierenden Nachrichten aus Frankreich erreicht haben, musste ich erst einmal ein paar Stunden tief durchatmen und warten, bevor ich mich mit einem Kommentar zu Wort melden konnte. In ihm wollte ich meine Wut und Trauer über das furchtbare Geschehen zum Ausdruck bringen. Aber in diesem Zusammenhang wollte ich auch über meine Wut darüber sprechen, dass unsere Regierungen in den letzten Jahrzehnten, diese Brut ausgesät und geradezu hochgezüchtet hat.

Jürgen Todenhöfer, ein absoluter “Insider” und jahrelanger Mahner, hat sich kurz nach den Anschlägen in Paris, auf seiner Facebookseite und anderen Medien höchst fachkundig zu Wort gemeldet und mir wieder einmal aus der Seele gesprochen. Wie Michael Lüders in seinem Buch, „Wer den Wind sät…“, zeigt er, wie die interessen-geleitete und menschenverachtende westliche Politik, die Entstehung und Radikalisierung von extremistischen und terroristischen Bewegungen in der islamischen Welt zu verantworten hat.

Ich schließe mich seinen Worten, Gedanken und Schlußfolgerungen an, dass nicht die Kriegserklärung an den IS, sondern eine veränderte, von Menschenrechten und demokratischen Grundwerten geleitete Politik des Westens, zu Lösungen der komplexen Problemfelder führen kann.

Konsequenzen ziehen

Aber ich möchte über den Verweis hinaus, dringend dazu auffrufen, handfeste Konsequenzen daraus zu ziehen, dass sich die Einsichten des gesunden Menschenverstands und die Grundprinzipien unserer freiheitlich-demokratischen und humanistischen Grundordnung in der Politik, der von uns gewählten Regierungen nicht widerspiegeln.

Denn wenn wir das nicht tun, also wenn wir Wähler, wenn es der Souverän hinnimmt, dass andere Menschen und Völker für unseren Wohlstand leiden, müssen wir damit rechnen, dass wir für unseren Leichtsinn und unsere Unbekümmertheit oder unsere Vermessenheit einen sehr hohen Preis bezahlen müssen!

Für meine französischen Freunde habe ich erstmal keine Ratschläge parat, dort hat die “Elite”, das Land, mit nachkolonialer Interventionspolitik, verfehlter Integration, skandaldurchwachsener Interessenpolitik und bürgerferner Arroganz, so tief in den Dreck gefahren, dass ich momentan völlig ratlos bin. Leider tappen sie jetzt in die Eskalation. Da werden Apelle wenig helfen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer besteht immerhin darin, dass die Franzosen eine höhere Fähigkeit besitzen, mit Unordnung und Chaos zu Recht zu kommen als wir Deutschen. Insofern – viel Glück und Erfolg!

Zivilgesellschaft: Weiter so!

Bei uns setze ich meine Hoffnungen in die Zivilgesellschaft. Große Teile von ihr haben in den letzten Wochen und Monaten, bei gleichzeitigem Versagen von Politik und Verwaltung, soviel großartiges Engagement an den Tag gelegt, dass man sich schon fragen kann, wozu wir eigentlich noch Regierungen brauchen! Zivilgesellschaft – weiter so!

Zeigt und sagt unseren Regierungen, unseren Volksvertretern und den verunsicherten Mitbürgern, wo es lang geht! Wenn es diese – zivilisatorisch und technologisch hochentwickelte und reiche Gesellschaft (in solidarischer Zusammenarbeit mit den anderen) nicht schafft, die vielen Geflüchteten aufzunehmen, – wer sollte es dann schaffen!?

Es geht hier um die menschenwürdige Aufnahme und Integration einer durchaus enormen Anzahl flüchtender Menschen, um die Schaffung von Rahmenbedingungen, die es ihnen ermöglichen, konstruktive Mitglieder dieser Gesellschaft zu werden. Nur dann werden sie uns bereichern. Andernfalls werden sie nicht nur zur Last, sondern zur Bedrohung.

Warum wirklich jedeR etwas bewirken kann

Aber das ist bei weitem nicht unsere einzige Baustelle, auf der die Zivilgesellschaft aktiv sein kann und sollte, gerade auch, weil die Politik entweder viel zu langsam reagiert oder sogar weitgehend versagt. Jeder kann sich einer kleinen oder großen NGO, die sich im Geiste von Vernunft, Gerechtigkeit, Menschenrechte, Gleichberechtigung, Frieden, Umweltschutz etc., gegen die Interessen und die zerstörerische Gier von einzelnen, von Machteliten und von Industriezweigen, anschließen und damit zur Entfaltung positiver Energien und Entwicklungen beitragen.

Übrigens: Solange die Menschen keine halbwegs vernünftige Lebensgrundlage haben, ist jede Abschottung nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern kontraproduktiv. Es würde sich alles nur verschlimmern, erstmal natürlich für die Geflüchteten, aber sehr bald auch für uns.

Denn wenn wir sie nicht wie Menschen behandeln, werden sie das nächste oder übernächste Mal, als Terroristen wieder kommen. Die helfende Zivilgesellschaft hat das längst verstanden und und agiert dementsprechend offenherzig und hilfsbereit, während sich, trotz faktischem Ausnahmezustands, die politischen „Eliten“, die Zeit mit Machtspielchen vertreiben.

Es ist noch nicht zu spät

Dabei handelt es sich bei dem Andrang der vielen Geflüchteten nicht nur um eine der größten Herausforderungen, die diese Gesellschaft bewältigen muss, sondern auch um eine große Chance für qualitatives Wachstum. Denn Aufnahme und Integration so zahlreicher fremder Menschen, wirft Fragen nach unseren eigenen Werten und Lebensprioritäten auf, deren seriöse Beantwortung – immer wieder verschoben – längst überfällige, massive Veränderungen zur Folge haben müsssten.

Daher mein dringender Aufruf: Schaut nicht länger zu, was die Politiker verkorksen! Ich glaube noch immer, dass es nicht zu spät ist. Aber ich befürchte, wie nie zuvor, dass die Uhr bald abläuft. Was dann kommen wird, wenn wir diese Krise jetzt nicht als (letzte?) Chance begreifen, dürfte unser Vorstellungsvermögen überfordern.

Mein “Rezept” heißt: Alle zivilgesellschaftlichen Kräfte, die sich für die Nachhaltigkeit demokratisch-solidarisch-ökologischer Entwicklungen einsetzen, gegen Ungerechtigkeiten, Krieg und Zerstörung, müssen dringend, massiv unterstützt und gestärkt werden. Unsere politische Kaste ist gerade wieder dabei, zu beweisen, dass sie sogar in solch großen Krisenzeiten unfähig ist, die richtigen und notwendigen Entscheidungen zu treffen; aus Sorge nicht wieder gewählt zu werden oder aus sonstigen machtpolitisch geleiteten Interessen.

Rückkehr zum Stammtisch

Wie anders ist es sonst erklärbar, dass die Autoindustrie, trotz jüngster Skandale weiterhin von Frau Merkel beschenkt wird; dass selbst ein Sozialdemokrat die Waffenlieferungen aus deutscher Produktion nicht stärker reglementiert und dass die Kanzlerin jetzt den Stammtischpopulisten folgt, eine Kehrtwendung in der Flüchtlingspolitik macht.

Wie anders ist sonst erklärbar, dass sich gleichzeitig unseriöse Flüchtlingsgeschäfte mit der Türkei anbahnen und Erdogan mit undemokratischer Wahlkampfunterstützung beschenkt wird, sowie schmeichelhaften Beitrittsaussichten, Verschieben der Armenier-Erklärung und Augen-Zu-Politik in Sachen Kurden und Menschenrechte!? Denen “da oben” läuft doch gerade alles aus dem Ruder! Ich habe jedenfalls derzeit keine Hoffnung, dass die es ohne Hilfe bzw. Druck “von unten” schaffen könnten, die Titanic um den Eisberg herum zu schiffen.

Die Unfähigkeit unserer Kapitäne, die zentralen Fragen des Zusammenlebens konstruktiv zu beantworten und die Konflikte zum Wohle aller zu lösen, birgt die Gefahr des Verlustes sämtlicher zivilisatorischer Errungenschaften.

Da ich von blutigen Revolutionen gar nichts halte, heißt meine letzte Hoffnung: internationale Solidarität der Vernunft und Menschlichkeit durch Schaffung von Synergie zwischen den Intellektuellen, den Künstlern, NGO’s, Bürgerbewegungen und anderen zivilgesellschaftlichen Kräften, für eine nachhaltig lebenswerte Zukunft möglichst aller Menschen! Wahrlich eine große Aufgabe, für alle, die ihre idealistische Hoffnung auf eine Zivilisation, die durch freiheitlich-demokratische Gesellschaftsformen geprägt ist, mit Fähigkeit zum inneren Wachstum, noch nicht aufgegeben hat.

Anm.d.Red.: Alle Bilder in diesem Text wurden in Paris aufgenommen und stehen unter einer Creative Commons Lizenz (CC BY-NC-SA 2.0). Sie stammen von Gwenael Piaser (#1), Camil Tulcan (#2), Éole Wind (#3), Amir Kuckovic (#4) und Haakon von Martinsky (#5).

Ein Kommentar zu “Terror in Paris: Warum die Zivilgesellschaft jetzt ihre Werte und ihre Verantwortung reflektieren sollte

  1. “Wie anders ist es sonst erklärbar, dass … selbst ein Sozialdemokrat die Waffenlieferungen aus deutscher Produktion nicht stärker reglementiert und dass die Kanzlerin jetzt den Stammtischpopulisten folgt, eine Kehrtwendung in der Flüchtlingspolitik macht.”

    Kann ich nicht sehen. Es wäre allerdings sinnvoll, eine Fremdenlegion aufzustellen, damit die Syrer ihre Heimat befreien können.

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