Ohne Zeit keine Zeitigung

Beschleunigungen bestimmen zweifellos in wichtigem Masse die gesellschaftlichen Prozesse in den letzten Jahren. Sie sind unvermeidlich und unumkehrbar. Grundlage und Ursache ist die technologisch bedingte enorme Beschleunigung der Informationsvermittlung, der Zuwachs an Informations- kontakten und an Informationsmengen. Wenn, wie in vielen Bereichen, die informationellen Kontakte problemlos alle lokalen, regionalen, nationalen und gar kontinentalen Grenzen ueberschreiten, also Information und Kommunikation nicht mehr >verortet< ist, wird die Anforderung an die Schnelligkeit der Informationsverarbeitung hoeher, der individuelle Produktionsdruck steigt. Oder: Wer schnell kommuniziert, aber die erhaltenen Informationen nicht ebenso schnell zu Erkenntnissen oder Produkten verarbeiten kann, kommt in Konflikt mit aeusseren Anforderungen und dem eigenen Selbstbewusstsein.

Die allgemeinen Erkenntnisse und Faehigkeiten zu einem angemessenen >Zeitmanagement< sind weder individuell noch systematisch ausreichend entwickelt. Im Bereich der entgrenzten Informationsstroeme und der sich tendenziell potenzierenden Informationsgehalte, also in einem globalisierten Kommunikations-, Produktions- und Distributionsumfeld, wird sich die Geschwindigkeit weiter erhoehen. Entsprechend werden die Anforderungen an die Faehigkeiten zur Selektion, Informationsauswertung, Kontextualisierung, internen Kommunikation, Delegation und Partizipation sowie die entsprechende Anpassung von Geschaefts- oder Arbeitsprozessen steigen. Nicht zwangslaeufig sind wir in unseren privaten Lebensbereichen diesen Beschleunigungen hilflos ausgesetzt. Unuebersehbar sind schon jetzt entschleunigende Gegenbewegungen, wie der zunehmende Bedarf an meditativen Angeboten fuer die Nicht-Arbeitszeit, an Regenarationsoasen fuer die Physis und die Psyche. Moeglicherweise fuehrt die Entwicklung zu einer systematischeren Trennung von [oeffentlichen] Arbeitszeiten und [privaten] Freizeiten, obwohl die aktuelle Tendenz zur Ueberwoelbung von Freizeit durch Erfordernisse des Jobs, zur Ueberwaeltigung des Regenerativen durch das Produktive noch vorherrscht. Spannend sind zum Beispiel neuere Versuche in amerikanischen Unternehmen, ihren Mitarbeiter/innen die volle Zeitsouveraenitaet zurueckzugeben, keine Arbeitszeiten zum Beispiel mehr vorzuschreiben und zu kontrollieren, sondern ausschliesslich auf [realistische] Zielvereinbarungen und [Arbeits-]Ergebnisse zu setzen. Zu beachten bleibt auch, dass die Moeglichkeit, sich an den Anforderungen fuer eine neue beruflichen Sozialisation, also an Selbstmotivation, Zeitmanagement, Partizipation und Selbstorganisation zu orientieren, heute noch weitgehend ein Privileg von wissensbasierten bzw. kreativen Taetigkeiten ist. Oder allgemein von Taetigkeiten, die individuelle Zufriedenheit, Identifikation und Selbsttaetigkeit erlaubt. Insofern ist die Entwicklung von Zeitkompetenz untrennbar verbunden mit der Entwicklung von sinnhaften Arbeitsfeldern. Ich selbst bin in einem solchen >privilegierten< Arbeitszusam- menhang taetig, verspuere >Beschleunigungszwaenge< weniger, weil meine eigenen >Tempi<, mein Lebensrhythmus, mit dem Rhythmus meiner beruflicher Anforderungen und Interessen eher synchron denn asynchron verlaufen. Aber klar bleibt: Ich erfahre immer wieder neu, dass sich Geschwindigkeiten erhoeht haben oder sich erhoehen. Ich bin nahezu an jedem Ort und zu den meisten Zeiten per Mail oder Mobiltelefon erreichbar, und die Menschen, die mit mir arbeiten, erwarten, dass ich aktiv und kurzfristig reagiere - eine Erwartungshaltung, die sich gegenseitig bedingt und herausfordert, aber nicht fuer alle Arbeitsbereiche Geltung haben kann. Als Leiter einer Institution der politischen Bildung mit rund 200 Mitarbeitern/innen sehe ich mich daher mit erhoehten Anforderungen an Differenzierung und Organisation konfrontiert. Fuer den Bereich der Bildung und des Lernens, ob nun in Schule, Hochschule oder anderen Bereichen ist der Faktor Zeit in der Regel ein Qualitaetsfaktor, vorausgesetzt, die materiellen, didaktischen und methodischen Rahmenbedingungen beguenstigen Lernprozesse, statt sie zu stoeren oder zu verhindern, und Motivation und Lerninteresse wird gefoerdert. Gerade in der politischen Bildung, in der das Ziel nicht nur faktisches Wissen ist, sondern Interpretationskompetenz und letztlich demokratische Haltungen, spielen Zeit und Zeitsouveraenitaet eine wichtige Rolle. Lernen, nachhaltiger Erkenntniszuwachs und wissensbasierte Handlungskompetenz folgen nicht einem Vorher-Nachher-Schema, sondern sind Ergebnis von Prozessen, deren Dynamik von Aufgaben und Zielen, von Moeglichkeiten und Chancen und von individuellen Faehigkeiten abhaengig ist. Lernen >zeitigt< nur dann Erfolge, wenn das prozesshafte Nachvollziehen des Wegs von der Aufgabe zur Loesung ermoeglicht ist. Bei der Entwicklung von Formaten der politischen Bildung, bei Veranstaltungen, Print- und multimedialen Produkten, versuchen wir sowohl die den jeweiligen Formaten eigenen >Oeffnungsgeschwindigkeiten< als auch die Rezeptionsgeschwindigkeiten unterschiedlicher Zielgruppen der politischen Bildung zu reflektieren und in methodische, didaktische und mediale Innovationen der politischen Bildungsangebote zu transformieren. Die Bundeszentrale fuer politische Bildung hat in den letzten Jahren auch Projekte gefoerdert, deren Thema explizit Zeitpolitik war, ein dabei erarbeitetes >Zeitpolitisches Glossar< auf der website der bpb und Beitraege zum Thema in der bpb-Beilage >Aus Politik und Zeitgeschichte< veroeffentlicht.

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.