Offene Wir-Kulturen

Wie oeffnet man sich fuer Abstrakteres, fuer andere? Vielleicht, indem man zunaechst ganz treudoof >bei sich< ist. In meiner Erinnerung leiteten sich gemeinsame Interessen zunaechst von koerperlichen Vollzuegen ab. Ohne die Dreck- und Schuerfspuren vom Fussball eben kein Einstieg in eine intensive Austausch- und Debattenkultur, die fuer mich letztlich das Feld der Freundschaft markiert. Erst wuergte man zusammen die Luftgitarre, dann besprach man stundenlang den mutmasslichen Sinn bestimmter aesthetischer Entscheidungen auf einem Plattencover, selbst in irrwitzigsten Details steckte eine gefuehlte Unmenge an Bedeutung. >Gemeinsam< war dabei vor allem die Intensitaet und Leidenschaft, mit der man bestimmte Plaene verfolgte und Erfahrungen teilte.

Lesend wurde man von Vereinzelungsexperten wie Kafka oder Handke belehrt, tatsaechlich brauchte es aber immer auch ein Gefuehl des Aufgehobenseins. Das Sozialmodell >Band< – ein Ensemble neurotischer, aber notwendig responsiver Egos – hat mir dann fruehe Gluecksmomente beschert. Doch diese geschlossene Wir-Kultur aenderte sich spaetestens an der Uni. Ploetzlich gab es >uns< und die >anderen<, die schon so furchtbar zielgerichtet unterwegs waren. Da ergab sich eine Differenz. Ich suchte die Naehe zu Leuten, die sich von immer neuen Dingen infizieren liessen. Der Hang zu steilen Thesen, ohne ueber die entsprechende Lebenserfahrung zu verfuegen, einte uns und wird in dieser Lebensphase so untypisch wohl nicht gewesen sein.

Dieses Mackertum, mit dem man die olle Bundesrepublik aufmischen wollte, wurde dann 1989 endgueltig obsolet. Der Systemkollaps brachte existenzielle Erfahrungen zutage, die wir selbst nie gemacht hatten. In Osteuropa gab es echte, riskante Dissidenz, bei uns allenfalls deren Simulation in schlunzigen Einkaufspassagen. Wenn man dann den Vergleichsradius etwas weiter zog, wurde der qualitative Unterschied noch deutlicher: Exilierte Suedafrikaner erzaehlten vom Apartheitsregime, Bekannte engagierten sich in entsprechenden Soli-Initiativen.

Das war Politik 1.0, in ihrer ganz urspruenglichen Variante zur Durchsetzung von Menschenrechten. Dagegen war unser eigener mikropolitischer Bezugsrahmen privatistisch und elitaer. Ich wuerde aber nicht sagen, dass meine Politisierung dann so einfach funktioniert hat, als ethische Selbstbeauftragung quasi. Rassismus zum Beispiel, den ich nie am eigenen Leib zu spueren bekam, interessiert mich zunaechst analytisch. Wie funktioniert er? Was sind seine Ursachen? Erst im zweiten Schritt kam die Frage nach moeglichen Gegenrezepten.

In der Empfindung eines Mangels – an Toleranz, an geistiger und physischer Mobilitaet, an Knete etc. – liegt auch ein produktives Moment. Zwar halte ich den Boheme-Mythos, wonach nur ein gewisses Armutslevel geistige Schoepferkraft triggern kann, fuer schon empirisch widerlegt. Und auch der altvaelterliche Schlager >Ein voller Bauch studiert nicht gerne< ist so unrichtig wie repressiv. Aber wer kein Defizit an Gerechtigkeit, Freiheit oder einer anderen abstrakten Leitidee empfindet, wird wohl kaum politisch aktiv werden. In diesem Sinne ist auch der Arbeitszusammenhang zu verstehen, in dem ich mich derzeit bewege.

Die politischen Stiftungen in Deutschland existieren nur aufgrund von Mangelerscheinungen: Mangel an Wissen, an Partizipation, an demokratischen Strukturen. Der mit Staatsknete unterstuetzte Auftrag, >democracy building< zu betreiben, ist jedoch laengst nicht mehr auf afrikanische Despotien oder lateinamerikanische Operettenstaaten beschraenkt. Eine gewisse konsumistische Attituede greift auch hierzulande um sich, wonach >die in Berlin< es eben nicht so smart und schnell bringen wie Steve Jobs. Ob der empfundene Stillstand oder die mangelnde Phantasie des Politikbetriebs aber womoeglich auch etwas mit unserem eigenen Unvermoegen zur Beteiligungseuphorie zusammenhaengt, wird dann gerne uebersehen.

Fuer mich liegt der wesentliche Schluessel zu einem Diskurs ueber das Gemeinsame [was man vielleicht auch ganz einfach mit >Politisierung< uebersetzen koennte] im Aufloesen der professionellen Milieugrenzen. Denn es sind oftmals gegenseitige Vorbehalte, eingeschliffene Sprachcodes und unterschiedliche Belohnungsoekonomien im Kulturbereich, den Wissenschaften oder der Politik, die ein fruchtbares Gespraech behindern. Selten gelingt es, echte Neugier fuer ein benachbartes, aber eben anders funktionierendes Feld zu erzeugen.

Mit einem fast schon kommunitaeren Ethos versuchen wir deshalb im Programmbereich Kunst und Kultur der Heinrich-Boell-Stiftung, ueberhaupt erstmal eine gemeinsame Grundlage zum Reden und Imaginieren zu schaffen. Es gibt bei oeffentlichen Veranstaltungen natuerlich auch das gegenlaeufige Moment – die gezielte Inszenierung von Kontroversen -, um die Debatte ein bisschen zum Laufen zu bringen. Das sind aber eher dramaturgische Taschenspielertricks, dahinter steckt kein echtes strategisches Interesse.

Ein zentrales Moment ist fuer mich in meiner Arbeit das Zulassen von Offenheit. Ich nehme den Anspruch der Kuenste beim Wort, so etwas wie eine genuine Kontingenz-Kompetenz zu besitzen. Wenn ein Buch, ein Film oder eine Performance nicht nur zeigen moechte, was der Fall ist, sondern dass alles auch ganz anders sein KOENNTE, dann ist das zumindest mal eine interessante Ausgangssituation. Denn diese Form des experimentellen Herangehens an einen unmarkierten Raum, an eine noch ungestellte Frage kann sich der Politikbetrieb aufgrund seiner strengen Output-Orientierung nicht leisten. Gleichwohl ist auch er auf die notorische Kreativitaet der Kulturschaffenden angewiesen, lechzt geradezu nach deren vermuteter Denkfreiheit. Hier ein gemeinsames Scharnier fuer den Ideentransfer zu schaffen, darin sehe ich durchaus eine reizvolle Aufgabe.

Insgesamt stellt die Heinrich-Boell-Stiftung dafuer ein ganz guenstiges Umfeld dar. Als Hybrid zwischen oeffentlicher Bildungseinrichtung, Ideenagentur und gruenem Think Tank wird sie ausreichend mit zentralen Issues identifiziert, auf die sich ein gemeinsames Interesse berufen kann: Oekologie, Geschlechtergerechtigkeit und interkulturelle Verstaendigung etwa.

Dabei kann sie sich den Luxus erlauben, auch mal Themenfelder zu beackern, die vom medialen Radar nicht oder nur ungenuegend erfasst werden. Gegenwaertig interessiert uns zum Beispiel die Commons-Diskussion, also wie die Sicherstellung von offenen Zugaengen, Gemeinguetern und Wissensressourcen einen reformierten Kapitalismus im Sinne einer >sharing culture< [Peter Barnes] begruenden koennte. Hier liegen enorme Potenziale fuer ein Weiterdenken von Gemeinschaft, das ein neues Verhaeltnis zwischen individuellen und kollektiven Beduerfnissen ausbalanciert. Eine Wir-Kultur, die eben nicht borniert oder gar repressiv sein muss.

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