Oekonomie des Gemeinsamen

Ich war 1998 aus Tokio nach Berlin gezogen und wollte ein neues Projekt anfangen. Ich war damals 26 und hatte schon in Japan viel mit Menschen zu tun gehabt, die im Internet unterwegs waren. Ich kam ueber meinen Freund Klaas Glenewinkel mit der Firma Ponton ins Gespraech, die gerade einen ueberregionalen Kulturserver aufbaute. Damals haben mich Projekte wie Abfall fuer alle von Rainald Goetz beschaeftigt – hier fiel das Prozessuale sehr stark ins Gewicht.

Das hat mich inspiriert. Kulturserver konnte sich einen Newsletter vorstellen. Aber ich wollte keinen Newsletter machen, das hatte so einen korporativen Touch. Ich verschickte den ersten Kulturbrief an die regionalen und ueberregionalen Kontakte des Kulturservers am 14. Juli 1999 – schon damals war der Spagat zwischen lokal und translokal ein Problem! Wie konnte man Menschen in Berlin und Menschen von ausserhalb gleichermassen ansprechen?

Im Wochenrhythmus ging es weiter. Jeweils dienstags. Eine Routine, an der sich bis heute nichts geaendert hat. [Nach einem Jahr schrieb Stephan Promobka einen Artikel in der Zitty unter dem putzigen Titel >Einer flaniert fuer alle. Krystian Woznicki sendet kleine Feuilletons per E-Mail<. Er verwendete Worte wie digital, elektronisch, kurz, Feuilleton und ich glaube auch Mini. Ich habe das sofort aufgegriffen. Daraus wurde dann in der Selbstbezeichnung ein >Mini-Feuilleton im elektronischen Briefformat<.] 2002 ging die Berliner Gazette als Internet-Magazin mit dem ersten redaktionell betreuten Blog Deutschlands [dem Logbuch] online. [Eine Ironie dieser Geschichte ist, dass zu diesem Zeitpunkt der Begriff Newsletter im Online-Menue auftauchte, aber es hatte sich ja der Kontext geaendert.]

Die Frage nach den oekonomischen Rahmenbedingungen ist sehr wichtig. In den ersten Jahren, als der Kulturserver das Projekt finanziell mit einer Unkostenpauschale unterstuetzte, reichte das Geld nur, um Telefon- und Internetrechnungen zu bezahlen. Venture Capital war kein Thema, die New Economy war uns zu sprunghaft. Ueberzeugende Alternativen gab es nicht. Dennoch begann nicht nur ich, die Arbeit immer ernster zu nehmen. Wo es kein Geld gibt, ist der Grund fuer die Zusammenarbeit besonders wichtig. Ich glaube, fuer uns besteht er darin, etwas gestalten zu koennen. Man begeistert sich fuer die Sache und fuer die Leute, die sie machen. So bildet eine Oekonomie des Gemeinsamen eine wichtige Grundlage fuer die Berliner Gazette.

Der Appell der heutigen Zeit, man muesse das eigene Ueberleben sichern, stellt diese Oekonomie auf eine harte Probe. Der weit verbreitete Juckreiz des Einzelkaempfertums laesst Wir-Projekte, die kein Geld abwerfen, unattraktiv erscheinen. Gleichzeitig entfalten Wir-Projekte aber auch eine starke Anziehungskraft fuer Menschen, die weder Einzelkaempfer werden noch den Kapitalismus zu ihrer Religion machen wollen. Wenn alle zu den gleichen Bedingungen arbeiten, naemlich ehrenamtlich, und wenn ihr Beitrag nicht erfordert, ihre ganze Zeit zu investieren, sondern nur einen kleinen Teil davon – dann kann so etwas funktionieren, auch auf Dauer. Beim digitalen Mini-Feuilleton ist nicht nur Lese-, sondern eben auch die Arbeitszeit >mini<.

Auf institutionelle Foerderungen haben eigentlich nur Opernhaeuser eine realistische Aussicht. Der andere Bereich des Foerdersystems ist primaer fuer zeitlich befristete Vorhaben gemacht. Das heisst, Kulturschaffende werden geradezu entmutigt, langfristige Projekte anzugehen, geschweige denn fortzusetzen. Dennoch bleibt die Foerderung wuenschenswert, nicht zuletzt, weil mit den Mitteln groessere Entwicklungsschritte moeglich werden. Deshalb haben wir 2005 den Verein gegruendet und 2006 erstmals eine Foerderung fuer ein Vorhaben beantragt und erhalten.

Vielleicht haben wir laenger als andere ueberlebt, weil wir so spaet das Foerderkarussell bestiegen haben oder weil wir so selten beruecksichtigt werden und wohl oder uebel nicht der Versuchung erlegen sind, von Foerdertoepfen zu leben. Die Bedingungen in der Arbeitswelt sind nicht weniger paradox. So fungiert die Berliner Gazette nicht zuletzt als ein Ort, an dem solche Widersprueche thematisiert, ausgetragen und mit Gegenentwuerfen, wenn nicht ueberwunden, so doch kritisiert werden koennen. Das ermoeglicht sicherlich keinen unvoreingenommenen Blick auf den Kulturbetrieb. Aber genau das ist der Punkt: Nur ein voreingenommener Blick vermag den Verhaeltnissen im Kulturbetrieb wirklich gerecht zu werden. Zumindest sofern er die Bedingungen seiner Voreingenommenheit kritisch reflektiert.

Als wir den Verteiler nach ungefaehr eineinhalb Jahren ueber ein oeffentliches Interface komplett neu strukturiert haben und eine ueberschaubare Anzahl von Abonnenten uebrig blieb, begann der Dialog mit den Lesern, zu denen auch heute noch Kuenstler, Kuratoren und Wissenschaftler zaehlen. Ich fand mich in der Rolle des Moderators wieder. Nicht selten resultierte der E-Mail-Dialog in einem Beitrag. Um das organisatorisch zu bewaeltigen, begann ich den Prozess mit Frageboegen zu verkuerzen. Am Ende wurden dann nur die Antworten veroeffentlicht, das Protokoll. Wir haben den diesjaehrigen Schwerpunkt >minimum – die Suche nach dem Gemeinsamen< genannt. Wir fragen also nach etwas, das uns nicht nur verbindet, sondern auch unterscheidet.

Aus den bisherigen Beitraegen geht nicht zuletzt hervor, dass das Gemeinsame auch im Konflikt zum Tragen kommt und dass es nicht reicht, das Gemeinsame nur positiv zu definieren. Hier kommt ein Verstaendnis der Gemeinschaft zur Sprache, das zukunftsweisend ist – sowohl fuer die Berliner Gazette als auch fuer die Gesellschaft en gros.

PS: Dieses Protokoll ist ein Sonderfall: Es ist zwar aus einem Email-Dialog hervorgegangen, aber dieses Mal stellte nicht die Redaktion der Berliner Gazette, sondern die Redaktion der taz die Fragen. Nach all den Jahren wird einmal mehr deutlich: Die Geschichte der Berliner Gazette ist auch EINE Geschichte der Email. Wie wichtig dieser Aspekt ist, zeigt sich nicht zuletzt darin: Obwohl die Berliner Gazette seit 2002 ein Online-Magazin ist, stiftet fuer Historiker und fuer Leser der ersten Stunde der Anfang die Identitaet dieser >einzigartigen Online-Kultur-Zeitung< [Sabine Berg]. Also jene drei Jahre, in denen die Berliner Gazette zwar nicht ausschliesslich, aber primaer ein Mini-Feuilleton elektronischen Briefformat war.

Vor diesem Hintergrund muesste die These vom >Erfolg und Krise eines Massenmediums<, wie sie von Paul Ferdinand Siegert in >Die Geschichte der E-Mail< [transcript, 2008] aufgestellt wird, hinterfragt werden. Wieviel Masse steckt wirklich in diesem Medium? Zur Relektuere sei der erste Artikel, der ueber die Berliner Gazette geschrieben wurde, empfohlen. Stephan Porombka, heute Professor fuer Literatur in Hildesheim, schrieb damals: >Ohnehin weiss die Redaktion von Lesern, dass die Berliner Gazette ganz anders als ein Artikel in der Zeitung gelesen wird. Denn im Medium der E-Mail scheint noch ein Stueck Intimitaet zwischen Autor und Leser bewahrt zu sein, das in der oeffentlichen Zeitung verloren geht.< [zitty, 2000]

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