Niemand mehr zuhause

Muenchen 1979: meine ersten Gedichte entstehen im Umkreis von Freunden. Man traegt gegenseitig vor, streitet naechtelang und geht gemeinsam auf Reisen. Am Bodensee uebersetze ich einige Gedichte aus >Mohn und Gedaechtnis< ins Tuerkische, jene Sprache, die niemand in meinem Umfeld versteht. Paul Celan auf Tuerkisch wird ein staendiger Begleiter in den naechsten Jahren. Celans Sprache oeffnet der deutschen Sprache ein neues Tor, das in der Naehe meiner phantasierten Heimat liegt. Dort ist niemand mehr Zuhause. Ich moechte meine Freunde dorthin einladen, damit sie mich besser verstehen. Ich gebe diese Idee schnell wieder auf. Jeder soll seine Heimat fuer sich behalten. Sie ist wie eine Geliebte.

Die Freunde haben sich veraendert. Muenchen ist kein Ort mehr, an dem man sich trifft. Die Biographien verzeichnen viele Umwege. Japan, USA, Brasilien, Italien. Wer in Muenchen blieb, wurde fremd. Die Reisenden kreieren eine neue Gemeinschaft. Ich gehoere nicht der Generation an, deren Visitenkarte nur aus einer Emailadresse besteht. Ich kann mich noch erinnern viele Briefe geschrieben zu haben [Irgendwann wird es ein Museum fuer Briefe geben]. Ende der Achtziger Jahre kommt die Gruendung einer Literaturzeitschrift, Sirene wird sie heissen und 21 Ausgaben werden bis zur Jahrtausendwende erscheinen. Die Herausgeber kommen aus Deutschland, Frankreich, Tuerkei, Griechenland. Es wird viel uebersetzt, aus dem Spanischen, Franzoesischen, Chinesischen, Japanischen, Arabischen, Tuerkischen. Uns interessiert, was anderswo passiert. Das bringt uns zusammen.

Die Zeitschrift scheitert nicht am Mangel an finanziellen Ressourcen. Von jedem Heft werden 1000-1500 Stueck abgesetzt. Die Zeitschrift bekommt einen Preis verliehen, der zwei Hefte finanziert. Reges Interesse. Nach dem Fall der Mauer entsteht eine neue Geographie. Die unterschiedlichen Lebensverhaeltnisse, die die Laender Europas trotz des Naeherrueckens trennen, kommen deutlicher zum Vorschein. Die Marginalitaet der Existenz als Kuenstler im Kapitalismus und die Existenz, als Dissident im kommunistischen System finden keine gemeinsame Sprache. Denn unsere Marginalitaet hat laengst einen arrivierten Platz in einem Kunstsystem, den es immer wieder zu hinterfragen gilt. Nirgendwo gibt es so viele Stipendien, Preise, honorierte Lesungen wie in Deutschland.

Es gibt zwar keine Staatsautoren, aber den Autor als Institution in einem ausgekluegelten System. Wer es sich leisten kann, verkauft nur einen Teil seiner Sprache und behaelt zumindest einen Rest fuer sich zurueck. Aus diesem Rest entstehen Texte, die einen langen Weg gehen koennen oder muessen. Die Annahme, dass die kurzen Wege der alljaehrlichen >grossen< literarischen Entdeckungen eine anhaltende Bedeutung haben [werden], ist eine der grossen Luegen des Systems.

Internationalitaet findet heute auf dem Fussballfeld statt, mit einem markanten Widerspruch: Der Fahneneintracht auf den Raengen widersprechen die buntgemischten Mannschaften. Unterschiedliche Spielkulturen fliessen ineinander und schaffen einen neuen Stil, oder scheitern gemeinsam. Diese Mannschaften sind laengst ein Spiegelbild unserer Kopflandschaft. Fuer mich ist jene Herausforderung, das Gemeinsame aus disparaten Teilen zusammen zu setzen, Alltag und Fiktion zugleich. Ich nehme sie an, als Herausforderung an Sprache und Form. Die unbewusste Uebersetzungserfahrung wird in einem Roman, der in Berlin, Paris, Istanbul und in der amerikanischen Praerie spielt, in ein Vexierspiel der Identitaet verwandelt.

Die Rueckuebersetzung in eine Nationalsprache in meinem Fall Deutsch oder Tuerkisch darf nicht darueber hinwegtaeuschen, dass die meisten Texte keinem Zuordnungsprinzip mehr genuegen. Die Rezeption solcher Texte hinkt allerdings hinterher, weil eine internationale Perspektive jenseits des Warenaustausches nach wie vor unterentwickelt ist. [Sonst wuerde man bei der Lektuere von Robinson Crusoe an Hajj Ibn Jaqzan denken]

Kommentar schreiben

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.