Melke die Videowolke: Das Social Media-Projekt “Music from the Masses”

Im Internet gibt es bekanntlich eine ungeheure unorganisierte kreative Energie. Auf Plattformen wie YouTube werden nicht nur alle Menschen zu Künstlern, indem sie ihre Filme ausstellen, sondern auch indem sie Remakes von Filmen erstellen oder Musik komponieren. Mit dem interaktiven Kunstwerk “Music from the Masses” zeigt Matthias Fritsch wie fluide Werke im Netz sein können und was bleibt, wenn alles im Fluss ist. Berliner Gazette Gastredakteur Chris Piallat hat’s unter die Lupe genommen.

Durch Zufall stieß Matthias Fritsch auf ein bei YouTube hochgeladenes Video, das unter dem Titel “Technoviking” im Internet Karriere gemacht hatte. Das besondere: Es war sein eigenes Video. Die bestehenden Einzelteile des Videos wurden in unterschiedlichsten Formen neu arrangiert. Fritsch erkannte, dass nichts was einmal hergestellt und veröffentlicht wurde in seiner ursprünglichen Form bestehen bleiben muss.

Das hat ihn dazu geführt, im Laufe der letzten Jahre ein umfangreiches Archiv aus den vielfältigen Reaktionen auf sein Video aufzubauen. Das Archiv zeigt, wie bizarr die Welt des Web2.0 sein kann. Die herkömmliche Vorstellung vom Künstlertum und Autorschaft wird aufgehoben und Fritsch nutzt die sozialen Netzwerke dazu, um Musikvideos als Kunst zu generieren. Der Zuschauer wird zum Produzenten.

In der Masse an Reaktionen auf sein Video entdeckte Fritsch sich wiederholende Muster des Recyclings. Die User recyceln also nicht nur die Inhalte, sondern imitieren auch die Recyclingstrategien anderer User. Für das aus diesen Erfahrungen entwickelte Social Media-Projekt Music from the Masses beschränkte sich der Künstler auf die am häufigsten auftretende Recyclingstrategie: der Austausch des Soundtracks.

Ein Detail ändert alles

Faszinierend an diesem Prozess ist, wie Individuen aus unterschiedlichen beruflichen, sozialen, demographischen und kulturellen Hintergründen durch ihren unterschiedlichen Zugang zu einer komplett verschiedenen Wirkung desselben visuellen Ausgangsmaterial kommen können. Ganz ähnlich, wie schon Lev Kuleschov vor fast 100 Jahren mit seinem Experiment der Filmmontage die Rolle der Kombination von Bildern zueinander und deren daraus resultierende Manipulation des Zuschauer erforscht hat, führt auch das Austauschen des Tons zum selben Bildmaterial zu beeindruckend vielfältigen Ergebnissen für deren Wahrnehmung.

Das Projekt versucht keinerlei Zensur oder Vorschriften zu diktieren, einzige Vorgabe ist die Reduktion auf das Videoangebot. Jeder der sich berufen fühlt einen Soundtrack zu generieren, ist vollkommen frei das zu tun. Zudem können die Musiker das Video zusammen mit ihrer Tonspur als eigene Arbeit aus dem Kontext reißen und für andere Zwecke benutzen. Allein das Datum der Einreichung bestimmt die Reihenfolge und Ordnung der Veröffentlichung innerhalb des Projekts.

Seit 2008 wurden bisher für das Projekt “Music from the Masses” sechs stumme Videos auf Plattformen wie YouTube hochgeladen, die von Musikern und Soundentwicklern – egal welchen Alters und Herkunft – ständig um Tonspuren mit ihren Kompositionen erweitert werden. Im Laufe von drei Jahren sind allein aus dem ersten Video 40 neue Versionen entstanden. Fünf weitere Clips sind im Abstand von einem halben Jahr auf derselben Plattform veröffentlicht worden und insgesamt gibt es Mitte 2011 schon ca. 170 Musikvideos aus den ersten sechs Serien. Das anfangs gesteckte Ziel, insgesamt ca. 200 Versionen zu generieren, ist damit schon jetzt fast erreicht.

Die Welt im Kämmerlein des schöpferischen Genies

Während Fritsch sich selber noch als der Autor des Ausgangskonzepts bezeichnen kann, verhält es sich bei der Urheberschaft der fertigen Musikvideos schon anders. Zwar ist er der Produzent der Bildspur, doch werden die fertigen Musik-Clips erst durch die Musiker vollendet, denn durch ihren musikalischen Kommentar auf die fertigen Bilder bestimmen sie maßgeblich die Gesamtwirkung der Videos. Fritsch behauptet sogar dass er sich aus diesem Grund mit den Bildern nicht besonders viel Mühe geben müsste.

Ein talentierter Musiker könnte auch aus ursprünglich “minderwertigen Bildern” ein hervorragendes Werk schaffen, indem er durch einen besonders passenden Ton der Bildästhetik eine Berechtigung und daraus resultierende Aufwertung gibt. Jedoch könnten die Bilder durch Kombination mit einem ebenfalls schlechten Ton auch komplett abgewertet werden. Auch wird es schwierig, eine entsprechend große Anzahl von Musikern für die Kollaboration an einem schlecht gemachten Video zu begeistern.

Ganz typisch für ein derartiges kollaboratives Projekt – das sich einer mehr oder weniger großen Community bedient – ist natürlich auch die verschwimmende Grenze zwischen Produzenten und Zuschauern. Die Inhalte entstehen aus ihrem eigenen Publikum. Die Rezeption der neu entstandenen Werke beginnt dann wiederum mit dem Freundes- und Bekanntenkreis, aus dem wiederum die neuen Verteiler und Kollaborateure des nächsten Werkes hervorkommen werden. Die Bezeichnung Prosumer ist in den letzten Jahren auch im kommerziellen Bereich angekommen und erfreut sich grosser Beliebtheit, so wie auch das Konzept des viralen Marketings.

Für die Wahrnehmung der Videos sammelt Fritsch auch einige demographische Eckinformationen wie Alter, Bildung und Beruf der Musiker. Es macht einen grossen Unterschied, wenn der Zuschauer weiss, das ein bestimmter Soundtrack nicht von einem Profimusiker mit abgeschlossener Ausbildung, sondern von einem 15-jährigen Gymnasiasten, einer Kinderkrankenschwester oder einem Molekularbiologen kreiert wurde.

Es gibt neben der reinen ästhetischen Wirkung auch noch die persönliche Dimension der Person hinter dem Werk. Das Individuum tritt somit ein Stück weit aus der anonymen Masse heraus. Hinter den Kulissen schreibt Fritsch auch jedem Produzent eine persönliche Reaktion auf die neu produzierte musikalische Interpretation. Die Bindung einiger User geht teilweise soweit, das einige ihre Musikproduktion an der Frequenz der Neuveröffentlichungen ausrichten und in der übrigen Zeit ihren Berufen und Alltag ohne Musik nachgehen.

Welche Währung gilt in der digitalen Sphäre der Kunstproduktion?

Die beteiligten Filmemacher und Musiker treten in ein kollektives Tauschgeschäft. Auf einer nichtkommerziellen Basis wird die gegenseitige Arbeit, die in die Videos gesteckt wurde, getauscht. Die Arbeit, welche auf beiden Seiten in die Produktion investiert wird, ist eigenverantwortlich organisiert und nicht vergütet. Beiden Seiten stehen alle Möglichkeiten offen, um ihrer Kreativität freien Lauf zu lassen. Sie können je nach ihren Möglichkeiten schnell oder langsam, mit viel oder wenig Aufwand zu einem zufrieden stellenden Ergebnis kommen.

Auf diese Weise kommen die Musiker mit verhältnismäßig wenig Aufwand zu einem oder mehreren Musikvideos, die normalerweise ein größeres Budget verschlingen. Den Schöpfern bleibt es überlassen ob und für welche kommerziellen und nichtkommerziellen Aktivitäten sie das Geschaffene nutzen. Auf der anderen Seite generiert Fritsch Serien von Versionen seiner Videos als künstlerisches Projekt, das den Einfluss von Ton auf Bild thematisiert und welches er im Netz und in Ausstellungen zeigen kann.

Was bleibt auf Dauer von einem Projekt wie Music from the Masses übrig?

Nachdem die ursprünglich angesetzten fünf Jahre verstrichen sind, plant Fritsch seine moderierende Rolle einzustellen und die Platform komplett den Usern zu überlassen. Sie werden Inhalte nicht nur durch Soundtracks, sondern auch in Form von neuen Videos ergänzen können, die dann wiederum durch andere User vertont werden. Es besteht die Möglichkeit, dass das eine oder andere Musikvideo unabhängig vom Gesamtprojekt ein größeres Publikum findet. Eine Art evolutionäres Experiment, das zeigt, welche der Versionen das beste Verbreitungs- und Überlebenspotential haben.

Außerdem ist die innerhalb von fünf Jahren entstehende Videowolke aus über 200 Videoclips eine Fallstudie über kollaborative künstlerische Praxis im Netz unter Einbeziehung der User, die Auskunft gibt über Stand und ästhetischen Charakter der netzgetriebenen unabhängigen Medienproduktion zu Beginn des 21 Jahrhunderts geben.

Anm.d.Red.: Matthias Fritsch wird am kommenden Samstag im Rahmen der Lectures des Medienkunstfestivals EMERGEANDSEE sein Kunstwerk “Music from the Masses” erläutern. Das Medienkunstfestival findet vom 3. bis 5. Juni 2011 in der Bötzowbrauerei statt.

5 Kommentare zu “Melke die Videowolke: Das Social Media-Projekt “Music from the Masses”

  1. Hi Chris, interessantes Projekt, das du vorstellst. Ich habe dazu noch eine Frage: Findest du nicht, dass für so ein virales Projekt 200 Videos in 5 Jahren relativ wenig sind? Ich kenne das von YouTube so, dass locker 500 Videoantworten zu einem Video kommen. Und: Kann man hier wirklich von einer kollaborativen künstlerisch-ästhetischen Praxis sprechen – am Ende erscheint ja doch alles auf der Webseite von dem Künstler Mathias Fritsch und wird mit seinem Namen in Verbdindung gebrahct… Da ist dann wieder das KünstlerGenie am Werk, oder?

  2. @Leander Kathmann:
    Danke, beides anregende Fragen. Ob das viel ist, hängt wohl sehr von den angelegten Maßstäben ab. Spannend ist der Aspekt, durch welche Faktoren welche Konsumenten und potentiellen Produzenten angesprochen werden.
    I
    m reinen Sinne der Zusammenarbeit im Entstehungsprozess handelt es sich um kollaborative Werke. Am Anfang stand allerdings der einzelne Einfall und am Ende die einzelne formgebende Umsetzung. Reicht das schon aus um “kollaborativ” zu sein?

  3. ich denke: es hat auf jeden fall “kollaborative” aspekte. (bei dem wort kollaboration muss ich allerdings immer an zweiten wk und kollaborateure denken). wenn werke heute in zusammmenarbeit vieler entsthene, dann brauchen Wir vielleicht auch noch feinere definitionne davon, wie solche prozesse bezeichnet werden sollen!

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