Lustvolle Lesestoerung

Im Sommer 1980, also nur zwei Jahre vor dem Summer of Pop, bin ich in die BRD eingewandert. Deutsch lernen: Kein Problem. Als Kind ist man anpassungsfaehig. Deutsch lesen: Keine Zeit. Jules Verne, James Fenimore Cooper, Robert Lewis Stevenson verspeiste ich im Comic-Format – ohne die Sprechblasen zu lesen. [Meine Lieblingscomics waren >Die blauen Panther< und >Leutnant Blueberry<.] Im Comic-Antiquariat wurde ich bald auch auf Maennermagazine aufmerksam. Playboy vom Vorjahr: Billiger als im Laden; Retro-Aesthetik lernte ich spaeter schaetzen. Selbst Kreuzwortraetsel interessierten mich nur dann, wenn vorne pralle Bildchen leuchteten, ich konnte sowas bisweilen nur heimlich geniessen und so verbrachte ich einmal die Sommerferien auf Pellworm im Graben.

Diese lustvolle Lesestoerung entlud sich Mitte der Achtziger in einem obsessiven Leserausch [Defoe, Fromm, Freud, Schopenhauer], der bis heute an haelt. Doch den Bildern blieb ich treu. Bildbaende wie >Paradiese< und >Die letzten Abenteuer der Erde< wurden meine besten Freunde, Tier-Enzyklopaedien meine Begleiter. Jedoch auch: Kunst-Baende, immer wieder Kunst-Baende. Kuenstler- Monografien von Surrealisten, Expressionisten, Pointilisten und Romantikern. William Turner! Casper David Friedrich! Auch mit den Maler-Heften meiner Mutter verbrachte ich viel Zeit - sie hatte damals ein Faible fuer Modigliani und den >Blauen Reiter<. Aus dieser Zeit stammt auch meine Liebe zum Kino, insbesondere den >Stummfilmen< von Michelangelo Antonioni. Es gibt nichts Schoeneres als Buecher und nichts Elementareres als das geschriebene Wort. Dennoch sind es Bilder, die mich immer wieder begeistern. Ob befeuert durch befreundete Bildwissenschaftler oder meine Sammelpassion: Auf meiner zweiten Festplatte habe ich unzaehlige Bilder katalogisiert. Besser noch: Die spontane Systematisierung des Internet, etwa wenn ich ein Stichwort bei >Google Bilder< eingebe und 20 Bilder auf einer von bis zu 50 Seiten in Augenschein nehmen kann. Diese Bilder zu lesen, ist ein wenig wie ein Gebaeude zu entziffern, ein virtuelles Gebaeude: das Netz. Irgendwie erinnert das aber auch an Panini-Bilder und damit daran, dass meine visuelle Lesekompetenz auf eine lustvolle Lesestoerung in meiner Kindheit zurueckgeht.

5 Kommentare zu “Lustvolle Lesestoerung

  1. Ich fand Lesenkönnen sehr erstrebenswert, wohl, weil meine älteren Geschwister es konnten. So konnte ich es, bevor ich in die Schule kam und musste meiner Mutter auf der Straße, im Supermarkt, überall jedes Schild, jeden Scheiß, den ich finden konnte, vorlesen. Mein Lieblingssatz war der aus der Rewe-Tiefgarage: “Laufenlassen der Motoren verboten!” Ich glaube, ich hätte nicht die Nerven für ein solches Kind…

    Und: Ich habe die Leute gehasst, die Comics “gelesen” haben, ohne die Sprechblasen anzugucken! Und zwar abgrundtief!! Damit du’s weißt!

  2. Ich war immer von dem Schild: “Gas weg, Kinder!” Irritiert. Ich las immer: Gasweg und hatte wohl irgendwelche KZ-Assoziationen.

    Bei uns hat aber keiner Comics gelesen. Die waren ja verboten…

  3. @susanne: dein trauma in allen ehren, aber: mein leserausch setzte NOCH in der kindheit ein, insofern: wir hätten uns ggf. doch verstanden…

    auch noch mal ganz allgemein: ich habe nicht gesagt, dass ich als kind gar nix lesen wollte und konnte, man sass ja sofort in der schule nach der einwanderung, sondern, dass ich zunächst nicht so mit texten in büchern hielt und lieber nur bilder las…

  4. @Magdalena: Jau, gas sie weg, die Kinder! Sowas stand bei Euch auf den Straßen? Da waren der Comic-Mangel wohl das geringere Übel:)

    @Krystian: Meine Hochachtung, wenn Du mit zehn was für den Blauen Reiter übrig hattest, aber die Sprechblasen nicht zu lesen war einfach mangelnde Abstraktionsfähigkeit, gib’s zu! Wahrscheinlich warst Du auch noch einer von denen, die auch noch die schwarz-weiß Seiten bei der Mickey Maus überschlagen und somit nur jede zweite Doppelseite “gelesen” haben, weil nur bunte Bildchen Spaß machen. Stimmt’s?

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