Literaturmasochismus

Ich bin in den Achtzigerjahren aufgewachsen. Eigentlich war das eine recht angenehme Zeit. Zumindest herrschte selbst in einer niedersaechsischen Kleinstadt kein Mangel an identitaetsstiftenden Angeboten fuer Jugendliche. Die Popkultur und ihre angeschlossene Verwertungsindustrie stellten eine feindifferenzierte Matrix aus Musik, Mode und maschinellen Technologien zur Verfuegung, auf der jederzeit spontane Verknuepfungen moeglich waren. Hier ging es allerdings weniger um Freundschaft und Gemeinschaft als um lose Bindungen: Ein neues Album von U2 konnte auf dem Schulhof intensive, aber zeitliche beschraenkte Allianzen schaffen, genau wie der rege Tauschhandel mit gewaltverherrlichenden Computerspielen und indizierten Videofilmen.

Ich verbinde mit dieser Zeit darum in erster Linie ein kollektives Abtasten medialer Oberflaechen. Dazu gehoerten gelegentlich uebrigens auch die bedruckten Seiten von Buechern. >Wir Kinder vom Bahnhof Zoo< bot Schulschwaenzern und Kirchentagsfahrern gleichermassen eine breite Projektionsflaeche fuer urbane Drogenphantasien und sexuelle Sehnsuechte, waehrend sich um Douglas Adams Science-Fiction-Satire >Per Anhalter durch die Galaxis< damals zum ersten Mal jene Koalition von Indierockfans, Computernerds und gut gelaunten Post-Apokalyptikern sammelte, die in den spaeten Neunzigerjahren unter dem Label der New Economy Ernst machen sollte. Aber das nur am Rand.

Buecher waren auf jeden Fall meins. Schon bald musste ich jedoch feststellen, dass sie fuer das Spiel mit den zeitlich begrenzten Gruppierungen und wechselnden Allianzen auf der Matrix der Achtzigerjahre [und auf dem Schulhof] weniger geeignet waren als zum Beispiel Schallplatten und Turnschuhe. Lesen vereinzelt, vor allem wenn man es mit einer gewissen Ausdauer betreibt. Und zwar nicht, wie Kulturpessimisten gerne behaupten, weil die anderen nicht lesen, sondern weil die anderen immer etwas anderes lesen.

Immerhin bot die Popkultur damals fuer dieses Problem eine Haltung an, eine Art spaetbuergerlichen Trotz, den The Smiths im Jahre 1986 auf ihrem Album >The Queen is Dead< so formulierten: >A dreaded sunny day / So I meet you at the cemetery gates / Keats and Yeats are on your side / While Wilde is on mine.< Das klang gut. Als ich spaeter als Student einige Zeit im Land von Morrissey und John Keats verbrachte, stellte sich dennoch heraus, dass der vielbeschworene Kontakt ueber die >kulturellen Grenzen hinaus< auch unter angehenden Akademikern und Geisteswissenschaftlern kaum durch ein Gespraech ueber Literatur zustande kommt. Man trinkt ja doch lieber Bier, als ueber Lyrik zu reden.

Meine ganz persoenliche Reaktion auf das Dilemma des Lesens bestand darin, entgegen diesen nicht gerade ermutigenden Erfahrungen ausgerechnet die Literaturkritik zu meinem Beruf zu machen. Vielleicht war auch das einfach Trotz. Mittlerweile rezensiere ich seit fast fuenfzehn Jahren fuer Zeitungen und Radiosender und versuche so, Buecher im kulturellen Feld der Gegenwart zu verorten und fuer kollektive Zugaenge zu oeffnen. Das kann durchaus eine schmerzhafte Erfahrung sein, und ich vermute, dass die meisten professionellen Literaturberichterstatter einen ausgepraegten Hang zum Masochismus haben. So >subjektiv< eine Rezension naemlich auch ausfallen mag, zuletzt muss der Kritiker das intime Verhaeltnis, das er als Leser mit dem Text eingegangen ist, aufgeben ¬ und er muss im Laufe einer der besonders >heissen Debatten< im Feuilleton darueber hinaus bereit sein, ein moeglicherweise recht interessantes Buch in kuerzester Zeit vor den Augen der Oeffentlichkeit zu verbrennen: >Keats and Yeats are on your side / But you lose / because Frank Schirrmacher is on mine.<

Es gibt natuerlich auch Buecher, die sich ihren Platz im Feld von alleine suchen, weil sie von Anfang an auf gemeinschaftliche Rezeption aus sind. Menschen in meinem Alter denken in diesem Zusammenhang zuerst an den Bestseller >Generation Golf<, ein Buch, in dem Florian Illies aus nostalgischen Rueckblicken in die Achtzigerjahre ein emotionales Gemeinschaftsgefuehl konstruierte. Das allzu offensichtliche Identifikationsangebot des Textes irritiert mich bis heute ¬genau wie der brennende Wunsch des Autors, die losen Bindungen und lockeren Zweckbuendnisse der Achtzigerjahre gegen die fest gefuegten Bausteine eines Generationen-Gefaengnisses zu tauschen: Alle sollen >wir< sagen, weil >ich< es will.

Nun veroeffentliche ich nicht nur als Kritiker, sondern auch als Schriftsteller, und auf diesem Weg bin ich zuletzt selbst in die Generationen-Falle getappt. Nachdem im vergangenen Jahr mein Erzaehlband >Minibar< erschienen war, wiesen gleich mehrere Rezensenten darauf hin, dass die Figuren in den Kurzgeschichten fast ausschliesslich >zwischen dreissig und vierzig seien< seien und ihre >Erlebnisarmut< eine Generationserfahrung sei: >Es sind Menschen, die nicht mehr ganz jung, aber auch noch nicht alt sind, die noch nicht viel erlebt haben und die fuehlen, dass sie immer noch am Anfang stehen, obgleich die erste Haelfte ihres Lebens schon vorbei ist.<

Ich fand diese Interpretation ueberraschend. Mir selbst liegt der Gedanke fern, mit meinen Geschichten das Lebensgefuehl meiner Altersgenossen einzufangen. Als Schriftsteller interessieren mich weniger die offensichtlichen Bindungskraefte, die dem gemeinsamen Erfahrungshorizont einer Generation erwachsen, sondern vielmehr die Erzaehlungen, mit denen Menschen sich aneinanderketten [und zwar durchaus ueber Generationen hinweg]: Familienlegenden und Beziehungsmythen, Gestaendnisse, Notluegen und Missverstaendnisse. Die Frage der Redaktion der Berliner Gazette, ob ich >geneigt< sei, von einer >Generation Minibar< zu sprechen, muss ich also leider mit Nein beantworten.

Natuerlich habe ich den Begriff trotzdem gegoogelt. Im Moment bekommt man 43 Treffer, aber erfreulicherweise beziehen sie sich alle nur auf technische Innovationen im Bereich der Kleinkuehlschraenke. Das ist doch gut. Bedarf an neuen Generations-Bezeichnungen duerfte es im Moment ohnehin nicht geben, schliesslich haben wir mit dem Nachleben der >Flakhelfer<, >Achtundsechziger< und selbsternannten Vertreter der >Generation Golf< mehr als genug zu tun. Anstatt immer neue Begriff zu erfinden, waere es vielleicht ratsamer, einige von ihnen langsam zu Grabe zu tragen. I meet you at the cemetery gates.

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